Einleitung
Der sexuelle Missbrauch widerstandsunfähiger Personen war eine Straftat nach § 179 des deutschen Strafgesetzbuchs (StGB), durch welche eine Person mit psychischer Erkrankung, geistiger Behinderung oder in einem bewusstlosen Zustand in ihrem Recht auf sexuelle Selbstbestimmung verletzt wurde. Dieser Straftatbestand bezog sich auf den sexuellen Missbrauch. Paragraphen § 174 StGB (Sexueller Missbrauch
von Schutzbefohlenen) und § 176 StGB (Sexueller Missbrauch von Kindern) näher zugeordnet als den Tatbeständen der sexuellen Nötigung oder Vergewaltigung. Anders als bei diesen Delikten war ein Einsatz von
Gewalt nicht entscheidend. Bezogen auf das Opfer spielten weder Geschlecht, Alter, noch die Wohnverhältnisse (zum Beispiel Wohnheim, betreutes Wohnen) oder die Art der Erkrankung eine Rolle. Entscheidend war, dass das Opfer beim Zeitpunkt der Anlasstat zu einem Widerstand unfähig war. Seit dem 10. November 2016 können die zuvor im § 179 StGB aufgeführten Handlungen nach § 177 StGB als sexueller Übergriff bzw. Vergewaltigung abgeurteilt werden.
Als widerstandsunfähig nach diesem Tatbestand galt die Person, wenn sie nicht in der Lage war, einen Widerstandswillen
gegenüber dem Täter zu bilden oder zu äußern. Es musste jedoch kein Widerstand gegen eine möglicherweise ausgeübte
Gewalt sein, es reichte der Widerstand gegen das sexuelle Ansinnen.
Laut Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 1. April 2003 galt als widerstandsunfähig im Sinne des § 179 StGB, wer aus den oben genannten Gründen keinen zur Abwehr ausreichenden Widerstandswillen bilden, äußern oder durchsetzen konnte. Allein die Feststellung einer § 20 StGB unterfallenden geistigen oder seelischen Erkrankung oder Behinderung genügte nicht, um die Annahme einer Widerstandsunfähigkeit im Sinne des § 179 StGB zu begründen. Es musste durch Sachkunde belegt sein, dass das Opfer keinen Widerstand hat leisten können. Der „persönliche Eindruck“ des Gerichts vom Opfer während der Hauptverhandlung reichte nicht aus, um über dessen Widerstandsfähigkeit während einer sexuellen Handlung zu seinem Nachteil zu entscheiden.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage der Beurteilung von Widerstandsminderung auch in psychologischen Gutachten, insbesondere zu aussagepsychologischen und teilweise auch zu neuropsychologischen Fragestellungen.
Die Untersuchungskonzepte der aussagepsychologischen Exploration sowie der neuropsychologischen Begutachtung sind bereits an anderer Stelle dieses Fachbuches dargelegt worden (Greuel,
2022; Dörnberg,
2023). Besonderheiten in der aussagepsychologischen Begutachtung bei Personen mit
Intelligenzminderung hat Niehaus (
2017) dargelegt.
Bei Aufträgen an aussagepsychologische Sachverständige, die in der Regel eine Qualifikation in der Rechtspsychologie erworben haben, wird von juristischer Seite häufiger nachgefragt, ob auch die Frage einer möglichen Widerstandsminderung beantwortet werden kann, oder ob hierzu ein separates psychiatrisches Gutachten erforderlich ist.
In Fragen der Widerstandsunfähigkeit einer geschädigten Person werden bisher von juristischer Seite in der Regel forensisch-nervenärztliche Gutachten eingeholt – insbesondere auch dann, wenn eine aussagepsychologische Exploration zur Sache aufgrund einer berichteten Wissenslücke bzw.
Amnesie für den zu prüfenden Sachverhalt juristisch nicht zielführend erscheint.
Psychologische Sachverständige sind – wie auch fachärztliche Kolleg:innen – grundsätzlich angehalten, kritisch zu prüfen, ob eine Expertise für die Fragestellung einer Widerstandsminderung vorliegt.
Im Folgenden wird zu der Fragestellung einer Widerstandsminderung – beispielhaft im Bereich von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung zum Nachteil von Personen mit hirnorganisch bedingten Einschränkungen und
Intelligenzminderung – dargestellt, welche rechtspsychologischen Kompetenzen in diesem Bereich erwartet werden können.
Auf Fälle einer vorübergehenden kognitiven und psychomotorischen Einschränkung aufgrund von
Intoxikationen, vorübergehenden
psychischen Störungen und ggf. zusätzlichem emotionalen Stress als Ursache für eine mögliche Widerstandminderung wird im folgenden Artikel nicht eingegangen. Derartige Einschränkungen erfordern in der Regel interdisziplinäre Untersuchungskonzepte und forensisch-psychiatrische oder neurologisch-psychiatrische Untersuchungsbefunde.
Fragestellungen aus juristischer Sicht
Zum Begriff der Widerstandsunfähigkeit oder Widerstandsminderung finden sich u. a. folgende Passagen im Strafgesetzbuch:
Gesetzliche Regelung des § 177 StGB (Sexueller Übergriff; sexuelle Nötigung; Vergewaltigung) in der ab dem 10.11.2016 geltenden Fassung:
1.
Wer gegen den erkennbaren Willen einer anderen Person sexuelle Handlungen an dieser Person vornimmt oder von ihr vornehmen lässt oder diese Person zur Vornahme oder Duldung sexueller Handlungen an oder von einem Dritten bestimmt, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.
2.
Ebenso wird bestraft, wer sexuelle Handlungen an einer anderen Person vornimmt oder von ihr vornehmen lässt oder diese Person zur Vornahme oder Duldung sexueller Handlungen an oder von einem Dritten bestimmt, wenn
1.
der Täter ausnutzt, dass die Person nicht in der Lage ist, einen entgegenstehenden Willen zu bilden oder zu äußern,
2.
der Täter ausnutzt, dass die Person auf Grund ihres körperlichen oder psychischen Zustands in der Bildung oder Äußerung des Willens erheblich eingeschränkt ist, es sei denn, er hat sich der Zustimmung dieser Person versichert,
3.
der Täter ein Überraschungsmoment ausnutzt (…).
3.
Der Versuch ist strafbar.
4.
Auf Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr ist zu erkennen, wenn die Unfähigkeit, einen Willen zu bilden oder zu äußern, auf einer Krankheit oder Behinderung des Opfers beruht.
5.
Auf Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr ist zu erkennen, wenn der Täter
1.
gegenüber dem Opfer
Gewalt anwendet,
2.
dem Opfer mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben droht oder
3.
eine Lage ausnutzt, in der das Opfer der Einwirkung des Täters schutzlos ausgeliefert ist (…)
Von juristischer Seite wird an die psychologischen Sachverständigen beispielsweise als konkrete
Fragestellung formuliert, ob eine Person
-
zu einem bestimmten Zeitpunkt (konkretes Delikt, zu prüfendes Ereignis) in der Lage war, einen (eigenen) Willen zu bilden und danach zu handeln,
-
zu einem bestimmten Zeitpunkt einen Widerstandswillen hat bilden und diesen (sprachlich verständlich oder erkennbar) hat äußern können,
-
unter Einschränkungen leidet bezüglich der Fähigkeit, einen Widerstandswillen gegen einen (sexuellen) Übergriff zu bilden und zu äußern.
Psychologische Sachverständige sind hier also zu dem Grad der geistigen Behinderung einer (potenziell) geschädigten Person gefragt, aber auch zu Aspekten der „Erkennbarkeit“ einer Willensäußerung sowie einer geistigen und ggf. auch körperlichen Einschränkung für einen Täter bzw. Beschuldigten.
Entwicklungspsychologischer Hintergrund/Wissenschaftliche Erkenntnisse zu Hintergründen und Bedingungen sexualisierter Gewalt
Aus sonderpädagogischen Untersuchungen (zusammenfassend s. S2k-Leitlinie 028/042
Intelligenzminderung; Häßler,
2014) geht hervor, dass eine Rate zwischen 42% und 80 % der Jugendlichen bzw. Erwachsenen mit leichter bis mittelschwerer Intelligenzminderung (teilweise mit Unterstützung durch pädagogische Betreuungspersonen) einvernehmliche sexuelle Beziehungen eingehen. Sofern Personen mit mittelschwerer Intelligenzminderung befragt werden, sinkt die Rate einvernehmlicher sexueller Kontakte auf 9 %. Gleichwohl werden nach empirischen Befunden geistig behinderte Personen häufig Opfer sexualisierter
Gewalt.
Sofern man der o. g. Leitlinie folgt, ist das Risiko für Personen mit einer
Intelligenzminderung etwa um den Faktor 3 erhöht, wobei ursächlich verschiedene ungünstige Faktoren im Erleben und Verhalten der Geschädigten in Wechselwirkung treten können, beispielsweise ein erhöhtes Bedürfnis nach Nähe und Zuwendung, eine verzögerte Wahrnehmung und Urteilsbildung in kritischen Situationen sowie ein mangelndes Wissen über Abwehrstrategien oder ein Mangel an selbstschützenden Fertigkeiten.
Insbesondere wenn die Körperpflege durch Angehörige oder professionelles Personal beaufsichtigt oder vollzogen wird, kann sich ein risikoreicher Lernprozess bzw. eine risikoreiche
Compliance dahingehend ergeben, „Eingriffe“ im Intimbereich als „normal“ zu bewerten und unkritisch zuzulassen. Das Zulassen solcher Pflegehandlungen wird durch das betreuende Umfeld in der Regel verstärkt. Vor einem solchen Lernhintergrund müssen auch die pädagogischen Bemühungen, Fertigkeiten zur Gefahrenerkennung und -abwehr zu trainieren, gesehen werden.
Aus der Kontrollgruppen-Studie von Reis et al. (
2022) ergeben sich Anhaltspunkte dafür, dass bereichsspezifisches Wissen über sexuellen Missbrauch bei Kindern mit
Intelligenzminderung nur wenig dazu beiträgt, das Risiko eines sexuellen Übergriffs zu reduzieren. Reis et al. konnten anhand ihrer Studie zeigen, dass erlernte Abwehrstrategien in einer Übungssituation mit vermeintlichen Tätern nicht effizient angewendet wurden. Der Transfer in den Alltag gelingt in dieser Risikogruppe von Personen mit Intelligenzminderung kaum.
Terminologische Rahmenkonzepte/Begriffliche Differenzierungen für die Beurteilung von Widerstandsminderung
Aus der früher vorliegenden Terminologie, welche zwischen natürlicher und freier Willensbildung unterschieden hat, können
Anhaltspunkte zur Willensbildung bei kognitiven Einschränkungen auf psychiatrischem Fachgebiet abgeleitet werden (Wetterling,
2020). In diesem Fachbuch zu zivilrechtlichen Fragestellungen geht eine freie Willensbildung
mit den folgenden kognitiven Fähigkeiten einher:
-
Informationsaufnahme (Wahrnehmungsfähigkeit und Aufmerksamkeit),
-
Informationsspeicherung (Gedächtnisbildung, Kurzzeitgedächtnis),
-
Informationsverarbeitung (Urteilsbildung, exekutive Leistungen),
-
Fähigkeit zur Entscheidung bzw. zum Willensentschluss (Arbeitsgedächtnis, exekutive Leistungen, (soziale) Urteilsfähigkeit, Einsichtsfähigkeit),
-
Fähigkeit der Umsetzung (sprachliche oder nicht-sprachliche Willensäußerung/Willenserklärung/Handlungssteuerung/Handlungskontrolle).
Betrachtet man die aufgeführten Fähigkeitsbereiche, entsprechen diese dem psychologischen Konstrukt der sprachlichen Intelligenz
, wie dieses in einschlägigen standardisierten Intelligenztest operationalisiert ist, insbesondere im Wechsler Intelligenztest (Petermann,
2012).
Eine natürliche Willensbildung
geht nach Wetterling (
2020) mit folgenden kognitiven Fähigkeiten einher:
-
Gedanke, Wunsch, Neigung (= Wahrnehmungsfähigkeit, emotionale Reife und Aufmerksamkeit),
-
Lebenserfahrung und persönliche Werte (Lernfähigkeit aus positiver oder negativer Erfahrung, Einsichtsfähigkeit, autobiografisches Gedächtnis),
-
Entscheidungsfähigkeit (auch mit professioneller Unterstützung durch Andere),
-
Äußerung des Entschlusses, Handlung.
Aus der fachpsychiatrischen Fachliteratur geht hervor, dass die Fähigkeit der freien Willensbildung zweckmäßig mit dem allgemeinen Intelligenzquotienten verknüpft wird. Beispielsweise sei diese nicht gegeben, wenn der Intelligenzquotient
unter 60 fällt (Cording,
2018). Die Angabe eines testpsychologischen Schwellenwerts ist zwar pragmatisch, birgt allerdings die Gefahr einer unzweckmäßigen Testinterpretation, u. a., wenn in einer Untersuchung anstelle eines standardisierten Intelligenztests nur ein
Screening eingesetzt wird oder das zugrunde liegende Modell der Intelligenz nicht berücksichtigt wird.
Zur differenzierteren Erfassung kognitiver, emotionaler und motivationaler Prozesse bei Personen mit hirnorganischen Erkrankungen und/oder
Intelligenzminderungen stehen entwicklungs- und neuropsychologische Konzepte zur Verfügung. Die oben aufgeführten Fähigkeits- und Funktionsbereiche lassen sich durch psychodiagnostische Methoden qualitativ (klinische Verfahren und Verhaltensbeobachtung) und teilweise dimensional durch standardisierte Verfahren erfassen. Die psychodiagnostische Urteilsbildung kann und sollte auf eine breite methodologische und damit verbunden auch konzeptionelle Basis gestellt werden.
Informationsquellen und Prinzipien der gutachterlichen Urteilsbildung
Bei Fragestellungen zur Widerstandsminderung bedarf es zusätzlicher Informationsquellen, welche über die aussagepsychologische Datenerhebung hinausgehen. Neben der Erhebung eines psychischen Befundes und der Eigenanamnese, sofern diese überhaupt unter entwicklungspsychologischen Aspekten sinnvoll ist, bedarf es weiterer Datenquellen:
1.
Fremdanamnese (nach Absprache mit dem Auftraggeber);
2.
Differenzierte psychologische Untersuchung mit Exploration, Verhaltensbeobachtung, kognitiver und ggf. psychomotorischer Leistungsdiagnostik;
3.
Pädagogische, entwicklungspsychologische und medizinische Unterlagen.
Die Integration der Datenquellen in einen
psychologischen Befund ist eine wesentliche Aufgabe der psychologischen Sachverständigen. Für den Integrationsprozess können die folgenden Hinweise formuliert werden:
-
Einer einzelnen Erhebungsmethode kommt kein prinzipielles Übergewicht gegenüber anderen Erhebungsmethoden zu. Jede Methode leistet einen eigenen Beitrag im Rahmen der Sicherung des psychologischen Befundes. Das intellektuelle Niveau der untersuchten Person kann zu einer veränderten Gewichtung der verschiedenen Datenebenen und Datenquellen bei der Integration der erhobenen Informationen führen. Je schwächer die kognitive Leistungsfähigkeit veranschlagt werden kann, umso stärker sollten Fremdberichte genutzt werden, um die äußeren Bedingungen der zu prüfenden Willensbildung zu sichern und eine Delikthypothese aufzustellen.
-
Zur Beurteilung des subjektiven Erlebens der zu prüfenden Tathandlung sind Selbstberichte die maßgebliche Datenquelle.
-
In die Beurteilung pädagogischer, entwicklungspsychologischer und medizinischer Unterlagen sollte der jeweilige Kontext einbezogen werden, in dem die Berichte oder Stellungnahmen erstellt wurden (z. B. Begründung von Förderbedarf, medizinischer Therapie, Beurteilung einer wesentlichen Veränderung der Verhältnisse usw.).
-
Die Integration von psychologischen Leistungstestergebnissen sollte nach Möglichkeit unter Berücksichtigung motivationaler Aspekte (Testmotivation) erfolgen. Diesbezüglich ist die vergleichsweise niedrige Basisrate negativer Antwortverzerrungen bei Personen mit hirnorganisch bedingten Leistungsstörungen zu berücksichtigen.
-
Die Persönlichkeits- und (sexuelle) Reifebeurteilung
sollte auf der Grundlage entwicklungspsychologischer Erkenntnisse erfolgen. Diese beinhalten Erkenntnisse zur körperlichen, psychomotorischen, kognitiven, emotional-motivationalen und sozialen Entwicklung sowie zur
Entwicklungspsychopathologie.
Zur Prüfung der psychologischen Hypothesen liegen einerseits Leitlinien aus dem Bereich der
Neuropsychologie zur Diagnostik und Befunderstellung von kognitiven, emotionalen und motivationalen Fähigkeiten und Kompetenzen vor (Neumann-Zielke et al.,
2015; Lidzba et al.,
2020).
Wissenschaftliche Anhaltspunkte und Empfehlungen zur Bewertung der persönlichen und psychosexuellen Reife bei Jugendlichen und Heranwachsenden sind bereits vor langer Zeit von Esser, Fritz und Schmidt (
1991) veröffentlicht worden.
Anhaltspunkte zur Begutachtung jugendlicher Straftäter mit erweiterter Urteilsbildung unter Berücksichtigung von innerpsychischen und äußeren Faktoren und deren Wechselwirkungen haben Aebi et al. (
2018) für die Schweiz publiziert. Hieraus ergeben sich Anstöße, die Delikthypothese auch in Fragen der Widerstandsminderung besonders zu berücksichtigen.
Beurteilung von Widerstandsminderung anhand von Reifekriterien
Esser et al. (
1991) haben Kriterien für die Beurteilung der sittlichen Reife Heranwachsender formuliert, die die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Jugendlichen und Heranwachsenden ins Zentrum stellen (Täterorientierung). Zugleich greifen sie aber eine entwicklungspsychologische Typologie auf, um Aspekte der Willensbildung im Bereich der Sexualität (ggf. auch den pädagogischen Hilfebedarf im Bereich der Sexualität) darstellen zu können.
Für Fragestellungen zur Widerstandsminderung gegen (ungewollte) sexuelle Handlungen können beispielsweise diese Kriterien als Anhaltspunkte der psychosexuellen Reife im Zeitraum des zu prüfenden Geschehens herangezogen werden. Die Kriterien sind in Tab.
1 zusammengefasst.
Tab. 1
Anhaltspunkte zur psychosexuellen Entwicklung auf der Grundlage der Reifekriterien von Esser et al. (
1991)
„kindlich“ | Allgemeine Vorstellungen von Intimität/Sexualität, kaum auf die eigene Person bezogen | Keine sexuelle Erfahrung (ggf. außerhalb des zu prüfenden Vorfalls); Fremdanamnestisch oder in der Verhaltensbeobachtung zeigt sich ein Nähebedürfnis eher zu den familiären Bezugspersonen der Betroffenen als zu Personen außerhalb der Familie |
„jugendlich“ | Keine oder unklare Vorstellungen über Ziele einer langfristigen intimen Beziehung; Sexuelle Aufklärung und erste Reflexion eigener sexueller Wünsche und Bedürfnisse | Erste sexuelle Erfahrungen in der Peergroup oder kürzere intime Kontakte werden berichtet oder sind dokumentiert; Intime Beziehungen, die den internen und externen Rahmenbedingungen kaum angepasst sind, werden berichtet oder sind dokumentiert (bspw. ungünstiges Machtgefälle in den berichteten Kontakten) |
„heranwachsend“ | Realisierbarer Wunsch nach Partnerschaft wird formuliert, ggf. Bewusstsein von körperlichen und geistigen Besonderheiten | Erfahrungen mit längeren intimen Beziehungen werden berichtet, notwendige Hilfestellungen werden angenommen |
„erwachsen“ | Verantwortungsübernahme für eine Paarbeziehung ist erkennbar, Berücksichtigung der eigenen Einschränkungen im Bereich der Sexualität | Erfahrung mit längeren intimen Beziehungen, die auch einen gewissen Planungsgrad aufweisen, bspw. zu der Wohnsituation |
Der Kriterienkatalog von Esser et al. (
1991) ermöglicht die Beurteilung der Persönlichkeit und der Reifeentwicklung teilweise mit Bezug auf entwicklungspsychologische und entwicklungspsychopathologische Erkenntnisse. Die Zuordnung erfolgt aufgrund von allgemeinen, generalisierenden und personalisierten (persönlichkeitstypologischen) Merkmalszuschreibungen. Sachverständige sind aufgefordert, die relevanten Informationen aus der Gesamtheit der vorliegenden oder zu erhebenden Informationen herauszufiltern. Wie die folgenden Fallkonstellationen beispielhaft zeigen, liefern psychologische Untersuchungskonzepte darüber hinaus weitere Informationen, die zur sach- und fachgerechten Beurteilung von Widerstandsminderung notwendig sind.
Bis heute wird die Klassifikation für die rechtliche Beurteilung des Reifegrades von Jugendlichen und Heranwachsenden oder für andere Rechtsentscheidungen genutzt, bei denen der individuelle Entwicklungsstand in die Gesamtbewertung einer Straftat einbezogen werden muss. Die Einteilung hat dazu beigetragen, die Erfassung und Beurteilung umfassender psychosozialer Variablenkomplexe zu vereinfachen, und sie hat damit auch dazu beigetragen, Merkmalszuschreibungen klassifikatorisch zu vereinheitlichen und die Transparenz der gutachterlichen Schlussfolgerungen für die Justiz und somit die Rechtssicherheit zu verbessern. Andererseits liegen auch über 30 Jahre nach der Veröffentlichung der Reifekriterien keine empirischen Belege für die inhaltliche, konstruktbezogene oder prädiktive Gültigkeit der Klassifikation vor, sodass außer einer allgemeinen
Plausibilität der Zuschreibungskriterien wenig gesicherte Evidenz für deren
Validität und Praxistauglichkeit spricht.
Beurteilung von Widerstandsminderung am Beispiel
Im Folgenden soll der diagnostische Urteilsprozess anhand zweier Fallbeispiele veranschaulicht werden. Die Kasuistiken integrieren die in Kap.
5 genannten begrifflichen Rahmenkonzepte und die in Kap.
7 genannten Reifekriterien in die Beantwortung unterschiedlicher gutachterlicher Fragestellungen.
-
Fallbeispiel 1: Zurückweisung der Hypothese, dass eine kognitive Einschränkung vorgelegen hat, welche die Bildung eines Widerstandswillens eingeschränkt hat
-
Die Fragestellung eines Amtsgerichts war, ob eine 28-jährige Zeugin mit mittelschwerer hirnorganisch bedingter Leistungsminderung in der Lage war, einen ausreichenden Widerstandswillen gegen einen einmaligen sexuellen Übergriff (Vergewaltigung) im Rahmen ihrer intimen Paarbeziehung zu bilden.
-
Die Zeugin pflegte eine intime Beziehung zu dem Angeschuldigten, einem Arbeitskollegen aus ihrer Werkstätte für Menschen mit geistiger Behinderung.
-
Im Rahmen der Sexualanamnese hat die Zeugin ihren Wunsch nach Sexualität, sexuelle Vorerfahrung ohne Geschlechtsverkehr sowie eine umfassende Aufklärung über ihre medizinischen Einschränkungen in der Sexualität berichtet. Aus religiösen Gründen habe ihre Mutter, welche die gesetzliche Betreuung innehat, ihr „verboten“, vor einer Vermählung den Geschlechtsverkehr auszuüben.
-
In der aussagepsychologischen Exploration gab die Zeugin an, dass ihr der (laut Anklageschrift) durchgeführte Geschlechtsverkehr „eigentlich gefallen“ habe. Was ihr im Zusammensein mit dem Angeschuldigten starke Angst bereite, sei sein bedrohliches Verhalten. Sie wisse, dass er eine Borderline-Störung habe und deshalb ihr gegenüber aggressiv werden könne. Geistig sei er „deutlich besser“ und „schneller“ als sie, auch körperlich sei er ihr überlegen. Ihre Mutter habe ihre starke emotionale Belastung erkannt und eine Anzeige erstattet.
-
Die Hypothesenprüfung erfolgt auf der Basis der folgenden Informationen, die sich aus der aussagepsychologischen Untersuchung ergeben:
1.
Bereichsspezifisches (Erfahrungs-)Wissen als Grundlage einer Willensbildung ist gegeben. Ein so genannter „Einwilligungsvorbehalt“ mag bezüglich der Ausübung von Geschlechtsverkehr vorliegen, sofern man annimmt, dass der in Rede stehende Geschlechtsverkehr in den Bereich der Gesundheitsfürsorge fällt, insbesondere bei medizinischen Risikofaktoren. Ob religiöse Gründe in den Einwilligungsvorbehalt fallen, ist eine juristische Entscheidung.
2.
In der aussagepsychologischen Exploration fällt eine Sachverhaltsschilderung auf, die aussagepsychologisch als erlebnisbezogen angenommen werden kann, die aber einen einvernehmlichen Geschlechtsverkehr beschreibt.
3.
Aus der Schilderung der Zeugin zum Beziehungsverhalten des Angeschuldigten ergeben sich Hinweise auf ein teilweise impulsives Verhalten, teilweise auch manipulatives Verhalten, durch welches eine stärkere psychische Belastung bei der Zeugin sachlogisch nachvollziehbar ist.
4.
Neuropsychologisch stellt sich eine mittelschwere kognitive Einschränkung mit Defiziten im Sinne einer
Intelligenzminderung dar, wobei kognitive Defizite hauptsächlich in der Wahrnehmungsorganisation und Verarbeitungsgeschwindigkeit vorliegen, weniger in der sprachlichen Intelligenz. Die Testergebnisse in der kognitiven Leistungsprüfung sind valide und können mit dem fachneurologischen Befund in Einklang gebracht werden.
-
Sofern man dieses Fallbeispiel heranzieht, wird ersichtlich, dass die rechtspsychologische Expertise einen Teil der Fragestellung beantworten kann, nämlich die Einschätzung der kognitiven Fähigkeit zur Willensbildung und die Beurteilung, ob die psychosexuelle Reife ausreichend ist, um in der spezifischen Beziehungssituation einen Willen zu bilden. Dies zeigt sich auch im Abgleich mit den Anhaltspunkten aus Tab.
1: Die Vorerfahrung mit längerfristigen Partnerschaften unter Berücksichtigung der internen und externen Begebenheiten (Gesundheitszustand, kognitives Leistungsniveau beider Partner und sozialpädagogischer Betreuungsbedarf) lassen auf eine mehr als jugendliche Reife schließen.
-
Die erhöhte psychische Belastung, insbesondere Ängste der Zeugin in der intimen Paarbeziehung mit dem Angeschuldigten, stellt sich so dar, dass diese nicht im Zusammenhang mit dem Sexualverhalten und nicht durch das zu prüfende Anlassdelikt, sondern infolge eines teilweise aggressiven Verhaltens des Angeschuldigten im Alltag vor dem Hintergrund seiner
Borderline-Persönlichkeitsstörung entstanden ist. Die Zeugin hat zwar alltagsrelevante psychomotorische und kognitive Einschränkungen (leichte Hemiparese links und visuelle Wahrnehmungsstörungen), die aber ihre Willensbildung bezogen auf das zu prüfende Anlassdelikt nicht eingeschränkt haben.
-
Darüber hinaus ist eine normative juristische Bewertung gefordert, welche den Umfang eines Einwilligungsvorbehalts im Bereich Gesundheit betrifft und die Kenntnis desselben durch den Angeschuldigten.
-
Fallbeispiel 2: Beibehaltung der Hypothese, dass eine kognitive Einschränkung vorgelegen hat, welche die Bildung eines Widerstandswillens eingeschränkt hat
-
Die Fragestellung einer Staatsanwaltschaft war, ob eine 16-jährige Opferzeugin mit einer seit früher Kindheit bestehenden
Epilepsie nach frühkindlicher Hirnschädigung in der Lage war, einen Widerstandswillen gegen einen sexuellen Übergriff durch einen Unbekannten zu bilden.
-
Die Förderschülerin wurde auf ihrem Heimweg von der Schule durch einen 30-jährigen Mann angesprochen. Unstrittig ist, dass er die Schülerin zu sich nach Hause brachte und sexuelle Handlungen an ihr vornahm, die er teilweise fotografisch festhielt. Laut Spurensicherung wurde sehr wahrscheinlich der Geschlechtsverkehr versucht oder ausgeführt.
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Nach Angaben der Schülerin in der polizeilichen Vernehmung hat sie dem Beschuldigten auf dessen Frage ihr Alter von 16 Jahren genannt. Sie habe sexuelle Handlungen an seiner Person, die sie eklig fand, abgelehnt.
-
Die Schülerin wurde von der Familie als vermisst gemeldet und abends in einem psychischen Ausnahmezustand von einer Angehörigen aufgegriffen. Der Akku ihres Mobiltelefons war leer, sodass sie von der Familie nicht geortet werden konnte.
Die Hypothesenprüfung der Widerstandsminderung erfolgt auf der Basis der gegebenen Informationen und der psychologischen Untersuchungsergebnisse:
1.
Bereichsspezifische, sexuelle Erfahrung als Grundlage einer Willensbildung ist laut Angaben der Zeugin nicht gegeben. Interesse an gleichaltrigen Jungen habe sie nicht, sie möge nicht geküsst werden, das sei „eklig“, sie könne sich „Kuscheln“ mit Jungen nicht vorstellen. Sie wolle später bei ihrer Schwester wohnen. Zum Wissen über eine Schwangerschaft befragt gab sie an, dass sie erwachsen werden und heiraten müsse, bevor sie ein Kind bekomme. Sie sei muslimischer Religion. Fragen zum Vorfall möge sie nicht beantworten.
2.
Aus der Fremdanamnese ergibt sich, dass der Tagesablauf durch die Angehörigen umfassend strukturiert wird, auch die Gabe der Medikation. An einfache Regeln könne sich die 16-Jährige halten, sei aber beeinflussbar und lasse sich ablenken. Eigene Bedürfnisse aufzuschieben falle ihr schwer, Bedürfnisse anderer könne sie schwer erkennen. In der Regel werde sie auf allen Wegen begleitet, gehe nur in Ausnahmefällen ohne Bezugsperson. Sie wisse, dass sie nicht in Autos zu Fremden einsteigen dürfe.
3.
Testpsychologisch stellt sich ein nicht-sprachlicher IQ unter 50 dar (die Muttersprache ist Russisch). Des Weiteren stellen sich eine kognitive Verlangsamung, eine räumlich-visuelle Wahrnehmungsstörung sowie eine Störung der Exekutivfunktionen dar. Nach psychologischer Einschätzung legen die Testergebnisse eine mittelschwere Einschränkung der kognitiven Leistungsfähigkeit nahe.
4.
In der Verhaltensbeobachtung zeigt sich, dass die Zeugin ihren Unwillen äußert, über den sexuellen Vorfall zu sprechen, indem sie die Kapuze ihrer Jacke über den Kopf zieht. In der psychomotorischen Prüfung wirkt sie mit, nachdem eine kleine Belohnung (Süßigkeiten) in Aussicht gestellt wird. Sie wirkt ambivalent und lässt sich durch freundliche Ansprache in ihrem emotionalen Ausdruck stark beeinflussen, imitiert vorgegebene Handlungen.
Die spezifische Hypothese, dass bei der 16-Jährigen eine kognitive Einschränkung vorgelegen hat, welche die Bildung eines Widerstandswillens relevant eingeschränkt, muss in der zusammenfassenden Bewertung bejaht werden. Die Fähigkeit der Betroffenen, einen freien Willen im Bereich der Sexualität spontan und unabhängig von äußeren Hilfestellungen oder pädagogischer Unterstützung zu bilden, lässt sich als deutlich eingeschränkt annehmen.
Nach den Anhaltspunkten aus Tab.
1 lässt sich eine noch „kindliche“ psychosexuelle Reife einschätzen, ohne konkrete Wünsche oder Vorstellungen, sexuell aktiv zu werden oder intime Freundschaften einzugehen. Bezogen auf die spezifisch zu prüfende Situation kann aufgrund der kognitiven Fähigkeiten angenommen werden, dass die Betroffene beim Betreten der Wohnung keine sexuellen Handlungen erwartet hat, auch die Frage nach dem Alter nicht so einordnen konnte, wie der Beschuldigte selbst diese (nach eigenen Angaben) gemeint hat.
In der psychologischen Untersuchung konnte die Datenbasis nicht vollständig erhoben werden, sodass Angaben der Betroffenen zum Erleben der sexuellen Handlungen nicht in die Hypothesenprüfung eingeflossen sind. Die Delikthypothese muss aus den polizeilichen Ermittlungen abgeleitet werden.
Erörterung der vorliegenden Anhaltspunkte zur psychologischen Hypothesenprüfung in Fragen einer Widerstandsminderung
Die dargelegten Fälle haben gezeigt, dass die im Rahmen einer aussagepsychologischen Begutachtung erhobenen Daten ausreichend sein können, um die ergänzende Frage einer Widerstandsminderung zu beantworten. Ein Bezug auf vorhandene oder modifizierte Reifekriterien kann eine transparente Bewertungsbasis darstellen. In den Fallbeispielen ist allerdingt aufgrund der Datenbasis eine Zuordnung zu dem niedrigsten und dem höchsten Reifegrad erfolgt.
Es muss bei weniger klaren Datenlagen aber auf Schwächen bei der Heranziehung von generalisierenden und typologischen Kriterien hingewiesen werden:
-
Es mangelt derzeit an Anhaltspunkten, wann bzw. bei welchen und wie vielen nachgewiesenen oder widerlegten Kriterien – insbesondere im Grenzbereich einer vorhandenen oder nicht mehr vorhandenen Widerstandsminderung – die Hypothese einer vorhandenen Widerstandsminderung widerlegt werden kann und wann nicht.
-
Reifekriterien bilden nur eine dispositionelle Facette einer auf ein konkretes Anlassdelikt bezogenen Widerstandsminderung ab, also eines Verhaltens, das in der Regel stark von situativen Einflüssen geprägt ist. Die Kriterien sind auf unterschiedlichen Abstraktionsebenen formuliert und berücksichtigen nicht das Verhältnis aus individuell unterschiedlichen Anforderungs- bzw. Lebensbedingungen einerseits und spezifischen personalen Funktions- oder Fähigkeitseinschränkungen andererseits. Ihre generalisierende Anwendung auf spezifische Ausnahmesituationen im Grenzbereich der Legalität erscheint problematisch. Auch sind die derzeit verwendeten Reifekriterien
über 30 Jahre nach ihrem Erscheinen in der Wissenschaft nicht ausreichend evaluiert. Bei der praktischen Anwendung fällt auf, dass sich die Entwicklungsphasen, insbesondere die der späteren Kindheit, vor dem Einsetzen der
Pubertät, nicht ausreichend abbilden bzw. dem Kontinuum der psychosexuellen Entwicklung im heutigen Internet-Zeitalter nicht mehr gerecht werden. Schließlich wird durch sie die intraindividuelle Vergleichsebene (prozessuale Ebene) zugunsten kategorialer Zuschreibungen zurückgestellt.
-
Die zu prüfende Ausgangsbedingung der Anlasstat, die ggf. bestehende Beziehung und das Verhalten der beteiligten Personen, insbesondere die Delikthypothese, gehen nicht in die Beurteilung der Widerstandsminderung anhand von Reifekriterien ein.
Aus psychologischer Sicht kann daher empfohlen werden, auch zur Bewertung einer Widerstandsminderung konkrete Anhaltspunkte zur Aufstellung der Delikthypothese – ergänzend zum persönlichkeits- bzw. reifetypischen Ansatz – nach gängigen psychologischen Motivations- und Handlungsregulationskonzepten (Heckhausen & Heckhausen,
2018) zu entwickeln. Relevante psychologische Konstrukte für eine deliktspezifische Motivationsdiagnostik können in diesem Zusammenhang beispielsweise die Motivationsform einer „fremdkontrollierten Aktivität
“ der betroffenen Person in Verbindung mit einem Motivationsproblem „Wirksamkeitsdefizit
“ sein. D. h., die betroffene Person würde sich (einem wahrgenommenen Autoritätsgefälle entsprechend) „erwartungsgemäß“ gegenüber der vermeintlich überlegenen Person verhalten, um Schaden zu vermeiden. Sie würde keine Möglichkeit sehen, die ungewollten Handlungen selbst zu beeinflussen (vergl. Rheinberg,
2004). Solche individuellen dispositionellen Besonderheiten der Handlungssteuerung könnten dann – anders als die o. g. Reifekriterien – auf einer theoretisch und empirisch gestützten Grundlage psychometrisch gesichert erhoben und bewertet werden. Zugleich könnte anhand solcher Variablen im Einzelfall geprüft werden, inwiefern das individuelle Verhalten eher durch dispositionelle oder eher durch situative Faktoren erklärt werden kann.
Einen besonderen diagnostischen Schwerpunkt bildet bei Personen mit
Intelligenzminderung die Beurteilung der Suggestibilität
, denn eine erhöhte Suggestibilität hinsichtlich eigener Wünsche und Bedürfnisse liegt bei Personen mit Intelligenzminderung aufgrund erhöhter realer und in der Regel auch subjektiv empfundener
Dependenz ebenfalls nahe. Aus der Suggestionsforschung ist bekannt, dass sich die Art und Weise, wie Botschaften vermittelt werden, auf deren wahrgenommenen Wahrheitsgehalt oder deren wahrgenommene Bedeutung auswirken kann. Erinnerungen an tatsächliche Ereignisse können verblassen, Pseudoerinnerungen können suggestiv induziert werden, ebenso kann durch suggestives Verhalten die Wahrscheinlichkeit beeinflusst werden, mit der ein bestimmtes Verhalten dem eigenen Willen oder situativen Bedingungen zugeschrieben werden kann (Köhnken,
2003). Diese und weitere Faktoren gilt es zu berücksichtigen, wenn die Beurteilung von Widerstandsminderung auf der Grundlage relevanter psychologischer Konzepte und Methoden vorgenommen werden soll.
Vorschläge und Anhaltspunkte für die Bewertung von Widerstandsminderung aus rechtspsychologischer Sicht
Die aufgeführten Überlegungen führen zu dem Schluss, dass psychodiagnostische Kriterien für die Beurteilung einer Widerstandsminderung entwickelt werden können. Die folgenden Bewertungskriterien seien hier vorgeschlagen:
1.
Eine Person hat unter Berücksichtigung entwicklungspsychologischer Aspekte die
Fähigkeit zur freien Willensbildung (bspw. Eingehen einer Ehe und Ausübung von Geschlechtsverkehr vor der Eheschließung, Abkehr von religiösen Vorgaben),
-
wenn die kognitive Leistungsfähigkeit bezogen auf die hierfür relevanten Lebensbereiche (intime Beziehungsgestaltung, Sexualität, Gesundheitsverhalten) ausreichend gegeben ist (oder Einschränkungen durch Betreuungspersonen kompensiert werden),
-
wenn die sozial-emotionale, sittliche und moralische Reife ausreichend gegeben ist, vergleichbar mit einem Heranwachsenden.
2.
Zur
Bildung und Äußerung
eines entgegenstehenden Willens sind folgende kognitive Fähigkeiten maßgeblich:
-
ein Mindestmaß an Erfahrungswissen oder erworbenem Wissen in dem relevanten Bereich (z. B. Grenzen des eigenen Intimbereichs, soziale Beziehungsgestaltung und deren Grenzen, Selbstwirksamkeit bei interpersonellen Kontakten),
-
die Fähigkeit, relativ zuverlässig zwischen eigenen Interessen, Wünschen und Motiven und den Interessen, Wünschen und Motiven anderer Personen zu unterscheiden,
-
die Fähigkeit, ambivalente Situationen wahrzunehmen und zu erkennen, beispielsweise die negativen Aspekte eines Versprechens von Belohnung für das Zulassen ungewünschter Handlungen.
3.
Zum
Ausdruck eines eigenen Willens/entgegenstehenden Willens sind folgende handlungsregulatorischen Fähigkeiten maßgeblich:
-
die Fähigkeit, nach diesem Erfahrungswissen zu handeln und insbesondere entgegenstehende Handlungen wahrzunehmen und nachhaltig abzuwehren (Nein-Sagen, Weglaufen, Hilfe rufen),
-
die Fähigkeit, mit ambivalenten Situationen und Anreizen umzugehen, erwartete Belohnungen in ambivalenten Situationen aufzuschieben.
4.
Eine Person im Alter ab 14 Jahren ist zur
Bildung und Äußerung eines Widerstandswillens nicht in der Lage, wenn eine kindliche Reife vorliegt, d. h.,
-
keine Vorerfahrungen mit engeren Freundschaften/Partnerschaften bestehen und
auch keine Vorstellungen über sexuelle Handlungen vorhanden sind;
-
die Fähigkeit der Person, einen Wunsch, ein Bedürfnis oder ein Missfallen sprachlich oder nicht-sprachlich zu äußern, relevant eingeschränkt ist;
-
zur angeschuldigten Person eine intime Beziehung mit Autoritätsgefälle besteht und der Missbrauch der Autorität nicht oder nur sehr eingeschränkt wahrgenommen werden kann (Einsichtsfähigkeit);
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eine Loslösung aus dem Autoritätsgefälle aufgrund der geistigen oder emotionalen Einschränkungen oder der bisherigen Lernerfahrungen nicht oder nur sehr eingeschränkt möglich ist (Handlungssteuerung).
Als zentrales Konstrukt, in welches insbesondere die Umweltfaktoren und die gegebenen Anhaltspunkte über die jeweiligen Anreize, Motivationen und Interaktionen der beteiligten Personen eingehen (Ausgangssituation der Anlasstat, Deliktmechanismus, Nachtatverhalten), bietet sich auch in Fragen der Widerstandsminderung die Delikthypothese an. Diese kann häufig erst im Rahmen einer Hauptverhandlung umfassend dargelegt werden.
Fazit
Die Beurteilung von Kriterien, die den juristischen Begriff der Widerstandsminderung erfassen, kann Sachverständige vor erhebliche Herausforderungen stellen. Psychologische Befunde sollten durch Bezug auf verschiedene Datenebenen und Datenquellen gesichert werden. Die Beurteilung kann sich zur ersten Einordnung der betroffenen Person an persönlichkeits- bzw. reifetypologischen Ansätzen orientieren.
Im Rahmen der (aussage)psychologischen Begutachtung müssen handlungstheoretische Konstrukte und Konzepte zur Aufstellung der Delikthypothese in die Gesamtbewertung der Widerstandsminderung integriert werden. Die hier vorgeschlagenen Anhaltspunkte für die Beurteilung einer Widerstandsminderung können von psychologischen Sachverständigen im Rahmen einer aussagepsychologischen Begutachtung, aber auch einer Begutachtung ohne aussagepsychologischen Schwerpunkt genutzt werden.