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Psychologische Begutachtung
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Publiziert am: 24.10.2024

Entwicklungen und Aufgabenstellungen der forensisch-psychologischen Sachverständigentätigkeit in Deutschland

Verfasst von: Thomas Bliesener und Petra Hänert
Der Beitrag informiert zunächst über die zentralen Begriffe der forensisch-psychologischen Sachverständigentätigkeit und stellt dann die historischen und aktuellen Entwicklungen der Sachverständigentätigkeit vor Gericht (in foro) dar. Im Weiteren gibt er einen Überblick über die verschiedenen Fragestellungen, die an forensisch-psychologische Sachverständige in den unterschiedlichen Rechtsbereichen gestellt werden und leitet in die Besonderheiten, das Vorgehen und die Methoden der in der Praxis zahlenmäßig bedeutsamsten Bereiche ein.

Definitionen und Begriffe

Forensische Psychologen tragen dazu bei, dass das Rechtssystem fundierte, psychologisch informierte Entscheidungen treffen kann, die sowohl die Gesellschaft schützen als auch die Rechte und das Wohlergehen der beteiligten Individuen berücksichtigen. Das Erstellen von Gutachten gehört zu den zentralen Tätigkeiten von Psychologen, die im forensischen Kontext tätig sind. Um als forensisch-psychologischer Sachverständiger tätig zu sein, benötigt man einen Diplom- oder Masterabschluss in Psychologie und idealerweise eine zusätzliche Qualifikation oder Weiterbildung im Bereich der Rechtspsychologie (Dahle et al., 2012; Posten et al., 2019) oder einem verwandten Fachgebiet. Die Tätigkeit erfordert sowohl umfassende theoretische Kenntnisse als auch praktische Erfahrung in der Anwendung psychologischer Methoden und Techniken (Hänert, 2023).
Abzugrenzen ist der Begriff des Sachverständigen von dem sachverständigen Zeugen, der kein Gutachten erstattet, sondern der „vergangene Tatsachen oder Zustände erlebt, zu deren Wahrnehmung besondere Sachkunde erforderlich war“ (§ 85 StPO) und über diese berichtet.
Ein psychologisches Gutachten ist eine umfassende Darstellung von selbst erhobenen und gegebenenfalls fremden Befunden, die nach wissenschaftlich anerkannten Methoden und Kriterien analysiert und interpretiert werden und eine „Lebensfrage“, kein rein wissenschaftliches Problem, so beantwortet, dass die fragestellende Person den „psychologischen Urteilsgang“ nachvollziehen kann (Fisseni, 1982, S. 10). Psychologisches Fachwissen, die Berücksichtigung des aktuellen Forschungsstandes und einschlägige Berufserfahrung sind wesentliche Bedingungen in diesem Urteilprozess (Zuschlag, 2006).
Eine psychologische oder gutachterliche Stellungnahme ist ein schriftliches Dokument, das eine fachkundige Einschätzung oder Bewertung zu einer spezifischen Fragestellung oder Sachlage aus psychologischer Sicht gibt. Diese Stellungnahme ist in der Regel kürzer und weniger umfassend als ein psychologisches Gutachten und erfordert keine eigene Befunderhebung, basiert aber ebenfalls auf empirischen und theoretischen Erkenntnissen der Psychologie (Proyer & Ortner, 2017; Zuschlag, 2006).
Parteigutachten oder Privatgutachten werden im Auftrag einer beteiligten Partei im Rechtsstreit gefertigt und sollen die Argumente und Positionen der beauftragenden Partei unterstützen und stärken. Sie können zur Beweissicherung oder zur Vorbereitung auf ein Gerichtsverfahren dienen. Ziel eines sogenannten „methodenkritischen“ Gutachtens ist es, die wissenschaftliche Qualität und die methodische Vorgehensweise des ursprünglichen Gutachtens zu beurteilen und mögliche Schwächen oder Fehler aufzudecken und damit die Einholung eines Zweitgutachtens zu erreichen.
Die Vergütung von Sachverständigen erfolgt nach dem Gesetz über die Vergütung von Sachverständigen, Dolmetscherinnen, Dolmetschern, Übersetzerinnen und Übersetzern sowie die Entschädigung von ehrenamtlichen Richterinnen, ehrenamtlichen Richtern, Zeuginnen, Zeugen und Dritten (JEVG).
Die Haftung der gerichtlichen Sachverständigen ist in § 839a BGB geregelt. Wurde vorsätzlich oder grob fahrlässig ein unrichtiges Gutachten erstattet, das zu einer gerichtlichen Entscheidung führte, mit der Folge eines Schadens für einen Verfahrensbeteiligten, ist Schadensersatz zu leisten.

Auswahl der Sachverständigen

Sachverständige werden von Behörden und Gerichten beauftragt, wenn dort keine eigene Sachkunde oder Erfahrung zu einer bestimmten Fragestellung oder einem Sachverhalt vorliegt. Sie unterstützen in der ordentlichen Gerichtsbarkeit (Ziviljustiz, Strafjustiz und freiwillige Gerichtsbarkeit) die Beurteilungs- und Entscheidungsprozesse. Sie geben allerdings keine endgültige Bewertung ab, diese obliegt im Sinne der Beweiswürdigung allein dem Gericht. Nach ständiger Rechtsprechung (BHG 8, 130 (1StR 165/55)) ist die Beurteilung der Glaubwürdigkeit „ureigenste Aufgabe des Tatrichters. Ein Sachverständiger wird nur hinzugezogen, wenn die Eigenart und besondere Gestaltung des Falles eine Sachkunde erfordern, die ein Richter normalerweise nicht hat“.
Die Auswahl des/der Sachverständigen erfolgt im Strafprozess durch den Richter (§ 73 Abs. 1 StPO). Im Hauptverfahren können auch Staatsanwaltschaft (§ 214 Abs. 3 StPO) und Angeklagte (§ 220 StPO) Sachverständige durch einen Beweisantrag in das Verfahren einbinden. Ebenso kann im Zivilrecht bei strittigen Tatsachen ein Sachverständigenbeweis eingeholt werden. Die Auswahl eines/r Sachverständigen erfolgt in der Regel durch das Gericht (§ 404f ZPO), kann aber auch an die Parteien delegiert werden (§ 404 Abs. 3 ZPO).
Sachverständige können in allen Verfahrensarten abgelehnt werden, wenn Besorgnis der Befangenheit besteht und Gründe dafür glaubhaft gemacht werden (§ 74 StPO, § 406 ZPO). Bestehen fundierte Zweifel an der Sachkunde des/r Sachverständigen kann eine neue Begutachtung durch dieselbe sachverständige Person oder eine/n andere/n Gutachter/in angeordnet werden.

Historische Entwicklung der psychologischen Sachverständigentätigkeit in foro

Nach heutiger Kenntnis war William Stern der erste Psychologe, der von einem Gericht als Sachverständiger für einen psychologischen Sachverhalt hinzugezogen wurde (Kühne, 1988; Mülberger, 1996). Stern wurde in einem Strafprozess als Sachverständiger einbezogen, weil ein jugendlicher Zeuge zu einem Missbrauchsvorwurf befragt werden sollte. Zu jener Zeit wurde jedoch die Zeugnisfähigkeit von Kindern, Jugendlichen und auch Frauen in Frage gestellt.1 Diese Auseinandersetzung im Gericht nahm Stern zum Anlass und gründete 1903 die Zeitschrift „Beiträge zur Psychologie der Aussage“, durch deren Arbeiten die Zweifel an der Zeugentüchtigkeit von Kindern und Jugendlichen in Missbrauchsfällen weitgehend ausgeräumt werden konnten. Bemerkenswert ist, dass in dieser Zeitschrift bereits von einer Simulationsstudie an der Universität Berlin berichtet wurde, in der die Teilnehmer eines Seminars Augenzeugen einer gestellten Attacke waren. Die Seminarteilnehmer erhielten anschließend irreführende Informationen, bevor sie als Zeugen zum Vorgang befragt wurden (Jaffa, 1903). Obwohl hier erstmals der Effekt nachträglicher Informationen festgestellt wurde, wurde er in seiner Bedeutsamkeit als Fehlerquelle nicht so weit deutlich gemacht, dass er bereits weiterführende Untersuchungen oder eine Diskussion dieser Fehlerquelle im Fach ausgelöst hätte. In den nachfolgenden Jahren nahmen Psychologen auch zu Fragen der Tatbestandsdiagnostik und der Täterpersönlichkeit als Sachverständige vor Gericht Stellung (Köhnken & Bliesener, 2005; Kühne, 1988; Marbe, 1936).
Bis in die 1930er-Jahre wuchs die Nachfrage der Gerichte nach psychologischer Expertise stetig, erlebte im Dritten Reich jedoch einen erheblichen Einbruch. Die in der 1950er-Jahren wieder aufkeimende Wertschätzung2 der psychologischen Expertise erhielt einen wesentlichen Schub durch das Urteil des 5. Strafsenats des Bundesgerichtshofs im Jahr 1954. Der BGH stellte fest, dass die Erkenntnismöglichkeiten einer/eines Sachverständigen zur Feststellung der Glaubhaftigkeit einer Kinderaussage zu einem sexuellen Missbrauch außerhalb einer Hauptverhandlung denen des erkennenden Gerichts in der Hauptverhandlung überlegen sind. In der Konsequenz forderte er die Hinzuziehung eines psychiatrischen oder psychologischen Experten in Missbrauchsfällen, wenn sich die Anklage allein oder hauptsächlich auf die Aussage eines kindlichen Opferzeugen stützt (BGHSt, 1955, S. 7, 82–86; Steller & Böhm, 2006).
Einfluss auf die Gesetzgebung hatte die Psychologie in den folgenden Jahren auch bei der Reform der Regelung zur Schuldfähigkeit. So führte in den 1960er-Jahren insbesondere die psychologische Expertise dazu, dass neben der krankhaften seelischen Störung, dem Schwachsinn und der schweren anderen seelischen Abartigkeit auch die tiefgreifende Bewusstseinsstörung als viertes Kriterium für eine eventuelle Beeinträchtigung der Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit in die §§ 20, 21 StGB eingeführt wurde.
Neben dem namensgebenden Anwendungsfeld der forensischen Psychologie – der Bereitstellung psychologischer Expertise für die Rechtsprechung (in foro) – werden in jüngerer Zeit aber mehr und mehr forensisch-psychowissenschaftliche Begutachtungen durch außerjustizielle Behörden und Institutionen in verwaltungsrechtlichen Verfahren veranlasst.3
Mit dem Ausgang des letzten Jahrtausends entwickelte sich mehr und mehr eine Diskussion um die Qualität von forensischen Gutachten und die Möglichkeit der Abhilfe durch die Festlegung von Standards (Baumgärtel, 1994; Dauer & Ullmann, 2002; Greuel, 2000; Steller, 1998). Angeregt durch die Kontroversen um die Glaubhaftigkeitsbeurteilung nahm im Juli 1999 der 1. Strafsenat des BGH einen Revisionsfall zum Anlass und formulierte für Sachverständige und erkennende Gerichte verbindliche Mindeststandards für die Glaubhaftigkeitsbegutachtung (BGHSt 45, 164). Für andere forensisch-psychologische Fragestellungen wurden in den Folgejahren weitere Standards zusammengestellt: für Gutachten zur Schuldfähigkeit (Boetticher et al., 2005) sowie für Prognosegutachten (Boetticher et al., 2006, 2019). Im Jahr 2015 (erweitert 2019) legte die Arbeitsgruppe Familienrechtliche Gutachten auch Mindeststandards für Gutachten in Kindschaftssachen vor.

Gerichtsbarkeit in Deutschland

Aufbau und Struktur der staatlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland haben sich in einer langen historischen Entwicklung ergeben, in der unterschiedliche Konfliktkonstellationen und Streitgegenstände von einer rein privaten Austragung in staatlich regulierte, rechtsförmige Verfahren überführt wurden. Im Zuge dieser Entwicklung bildeten sich die so genannte ordentliche Gerichtsbarkeit der Zivil- und Strafgerichte und die besonderen oder Fachgerichtsbarkeiten der Verwaltungs-, Sozial-, Arbeits- und Finanzgerichte aus.4 Für die forensisch-psychologische Sachverständigentätigkeit hat die ordentliche Gerichtsbarkeit sowohl bezüglich der Gutachtenbeauftragungen als auch bezüglich der inhaltlichen Fragestellungen die größte Bedeutung, wenngleich in jüngerer Zeit vermehrt auch die Verwaltungs- und die Sozialgerichte psychologische Expertise einholen.
Strafgerichtsbarkeit: Der durch die Strafprozessordnung (StPO) geregelte Strafprozess dient der Aufklärung und Ahndung von Straftaten. Konkret erfolgen hier die Ermittlung und Verfolgung tatverdächtiger Personen, die Klärung von Täterschaft und Schuld sowie die Verhängung und Vollstreckung der Rechtsfolgen (Geld- und Freiheitsstrafen, Maßregeln etc.). Streitige Parteien sind hier der Staat auf der einen Seite und die Privatperson als (möglicher) Täter auf der anderen Seite.
Zivilgerichtsbarkeit: In der Zivilgerichtsbarkeit werden die privatrechtlichen Streitigkeiten zwischen Bürgerinnen und Bürgern geregelt. Dazu wird von diesen privaten Parteien ein staatliches Gericht angerufen, das sich mit den jeweiligen Positionen und den von den Parteien vorgebrachten Beweisen5 auseinandersetzt und den Konflikt formal durch Urteil, Vergleich oder Beschluss beendet. Einige Besonderheiten innerhalb der Zivilgerichtsbarkeit ergeben sich bei familiengerichtlichen Verfahren, worunter Ehe-, Kindschafts-, Gewaltschutz-, Betreuungs- und Unterbringungssachen, aber auch Nachlass- und Teilungssachen fallen.
So ist bspw. im Familienrecht in Kindschaftssachen, bei denen eine Gefährdung des Kindeswohls gem. §§ 1666, 1666a BGB droht, das Gericht zur Ermittlung von Amts wegen verpflichtet. Auch sind Verfahren nach dem FamFG6 im Unterschied zu anderen Zivilsachen zum Schutze der Privatsphäre grundsätzlich nicht öffentlich.
Verwaltungsgerichtsbarkeit: Hier werden Konflikte zwischen Bürgerinnen und Bürgern und der staatlichen Verwaltung bzw. den Behörden geregelt. Ein Zurwehrsetzen privater Personen gegen das Handeln staatlicher Institutionen setzt in der Regel zunächst das Einlegen eines Widerspruchs der Privatperson voraus, mit dem sich die staatliche Institution auseinanderzusetzen hat. Erst danach steht der Klageweg gegen die staatliche Institution offen. Gericht und Behörde sind zur umfassenden Aufklärung verpflichtet und müssen unparteiisch und objektiv ermitteln.
Sozialgerichtsbarkeit: Die Sozialgerichtsbarkeit schließlich stellt eine besondere, von den Behörden unabhängige Gerichtsbarkeit dar, die Konflikte im Sozialrecht wie bspw. Rentensprüche oder Ansprüche von Gewaltopfern nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) regelt.

Aufgaben der Sachverständigen

Die Feststellung von Tatsachen ist eine grundlegende Aufgabe des Gerichts. Es hat auf der Basis von Informationen und Erkenntnissen aus der Verhandlung zu entscheiden, ob eine Annahme oder Behauptung wahr oder unwahr ist. In diesem Beurteilungsprozess kann es sich der Hilfe eines/r Sachverständigen bedienen. Diese/r erhebt vor dem Hintergrund der mit dem Gutachtenauftrag übermittelten Anknüpfungstatsachen Befunde, die sich, geführt durch den Gutachtenauftrag, in der Regel aus Exploration und Testdiagnostik ergeben. Diese Befundtatsachen münden in die Beurteilung von Tatsachen, die der/die Sachverständige dem Gericht nachvollziehbar, d. h. mit Darlegung seiner/ihrer Annahmen, Methoden und Schlussfolgerungen sowie deren wissenschaftlicher Basis vermittelt.
Die ausschließliche Vermittlung allgemeiner empirisch-psychologischer Erfahrungsgrundsätze durch forensisch-psychologische Sachverständige, wie sie im angelsächsischen Rechtssystem üblich ist, ist im deutschen Rechtssystem eher selten. In der Regel haben Sachverständige einen auf ein Individuum bezogenen Gutachtenauftrag.

Forensisch-psychologische Fragestellungen nach Rechtsgebieten

Die folgenden Ausführungen informieren kurz über die jeweiligen in Abb. 1 aufgeführten gutachterlichen Fragestellungen und die wesentlichen rechtlichen Grundlagen. Die Bereiche der familienrechtlichen, aussagepsychologischen und kriminalpsychologischen Begutachtung werden wegen ihrer auch zahlenmäßig größeren Bedeutung jeweils in ihren grundsätzlichen Fragen und den verwendeten Methoden und Strategien ausführlicher dargestellt. Für nähere Erläuterungen des jeweiligen methodischen Vorgehens, der hauptsächlich eingesetzten Instrumente und der gutachterlichen Besonderheiten und der gutachterlichen Praxis muss jedoch auf die jeweils weiterführende Literatur (z. B. Bliesener et al., 2023; Dahle & Volbert, 2010; Kobbé, 2017; Rettenberger & von Franqué, 2013; Salzgeber, 2020; Volbert et al., 2019) verwiesen werden.

Fragestellungen im Zivilrecht

Das Zivilrecht regelt die privatrechtlichen Streitigkeiten zwischen Bürgerinnen und Bürgern. Forensisch-psychologische Expertise holen Zivilgerichte vor allem dann ein, wenn die Berücksichtigung individueller Kompetenzen oder die Besonderheiten der Beziehung zwischen den konfliktbeteiligten Personen zueinander eine Relevanz für die Streitbeilegung haben. Derartige Besonderheiten ergeben sich innerhalb der Zivilgerichtsbarkeit bspw. bei familiengerichtlichen Verfahren, worunter Ehe-, Kindschafts-, Gewaltschutz-, Betreuungs- und Unterbringungssachen aber auch Nachlass- und Teilungssachen fallen.

Familienrechtliche Fragestellungen

Trennung, Scheidung und Tod von Eltern bedürfen einer Regelung der elterlichen Sorge (§§ 1626, 1671 BGB) und des Umgangsrechts (§§ 1684, 1685 BGB) für die gemeinsamen Kinder. Zwar ist die Beibehaltung der gemeinsamen elterlichen Sorge der Regelfall, Konflikte ergeben sich aber häufig bei der Gestaltung der Besuchs- und Umgangsregelungen zwischen Kind und Elternteilen, die das Wohl des Kindes gewährleisten sollen (Balloff, 2023). Weitere Anlässe familienpsychologischer Begutachtung sind die Feststellung der Erziehungsfähigkeit der Eltern mit der Frage, ob ein oder beide Elternteile in der Lage sind, das Kind angemessen zu erziehen und für dessen Wohl zu sorgen, die Prüfung, ob eine Gefahr für das körperliche oder seelische Wohl des Kindes bei einem Elternteil vorliegt (Kindeswohlgefährdung, § 1666 BGB) mit der möglichen Konsequenz eines Sorgerechtsentzugs, desgleichen die Rückführung des Kindes von der Pflegeperson zu den Eltern (§ 1632 BGB) (Salzgeber, 2023).

Sonstige Fragestellungen im Zivilrecht

Sonstige zivilrechtliche Fragestellungen ergeben sich im Bereich der Deliktfähigkeit, Haftung und Verantwortlichkeit bei einer Person, die als Minderjährige (§ 828 BGB) oder in einem „Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit“, der „die freie Willensbestimmung“ ausschließt (§ 827 BGB), einer anderen Person einen Schaden zufügt oder die aufgrund dieses (anhaltenden) Zustands geschäftsunfähig ist (§§ 104 ff. BGB).

Fragestellungen im Strafrecht

Der durch die Strafprozessordnung (StPO) geregelte Strafprozess dient der Aufklärung und Ahndung von Straftaten. Konkret erfolgen hier die Ermittlung und Verfolgung tatverdächtiger Personen, die Klärung von Täterschaft und Schuld sowie die Verhängung und Vollstreckung der Rechtsfolgen (Geld- und Freiheitsstrafen, Maßregeln etc.). Streitige Parteien sind hier der Staat auf der einen Seite und die Privatperson als (möglicher) Täter auf der anderen Seite. Auch hier gilt der Amtsermittlungsgrundsatz.

Aussagepsychologische Fragestellungen

Aussagepsychologische Gutachten befassen sich mit der Analyse und Bewertung der Glaubhaftigkeit und Zuverlässigkeit von Zeugenaussagen. Diese Begutachtungen spielen eine entscheidende Rolle in Strafverfahren, insbesondere in Fällen, in denen die Aussage eines Zeugen eine zentrale Beweisgrundlage ist. Dieses findet sich insbesondere bei Sexualdelikten und Gewaltdelikten, wo oft eine Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen vorliegt. Waren es zunächst vor allem Aussagen von Kindern in Missbrauchsfällen, hat sich die Klientel der aussagepsychologisch zu begutachtenden Zeug/innen in den letzten Jahrzehnten deutlich in Richtung Erwachsenenalter verschoben. Geprüft wird in einem hypothesengeleiteten Entscheidungsprozess, ob es sich bei der Aussage um eine absichtliche Falschdarstellung (Lügenhypothese) handelt oder um eine subjektiv für wahr gehaltene Schilderung, die das Resultat fremd- und/oder autosuggestiver Prozesse ist (Suggestionshypothese) (Steller, 1998). Grundannahme des methodischen Vorgehens ist, dass wahre Aussagen eine höhere inhaltliche Qualität haben als erfundene Darstellungen. Abgeleitet wird die inhaltliche Qualität aus dem Vorhandensein von sogenannten Realkennzeichen in den Schilderungen, etwa Detailreichtum, logische Konsistenz, Angaben von Erinnerungslücken, Beschreibung von eigenpsychischen Vorgängen (Oberlader et al., 2021). Die Leitfrage ist dabei, ob ein/e Zeug/in mit seiner/ihrer spezifischen Kompetenz und unter den gegebenen Befragungsbedingungen diese inhaltliche Qualität ohne Erlebnisbasis erreichen könnte. Neben der inhaltlichen Bewertung der Qualität der Aussage sind die Konstanzanalyse, die Analyse der Aussageentstehung und -entwicklung in den Prüfprozess einzubeziehen. Besondere Relevanz haben dabei mögliche fremd- oder autosuggestive Prozesse, die zur Entwicklung von Pseudoerinnerungen führen können. Bei signifikantem Vorliegen derselben kann die inhaltliche Qualität der in Frage stehenden Aussage nicht als Beleg für einen realen Erlebnishintergrund gelten, da keine qualitativen Unterschiede zwischen wahren und suggerierten Ereignissen bestehen. In den Beurteilungsprozess einzubeziehen sind auch besondere Persönlichkeitsstrukturen und -störungen, bspw. Borderline, dissoziale, histrionische Persönlichkeitsstörungen, die einen signifikanten Einfluss auf die Aussagegestaltung haben können (Volbert & Steller, 2023).

Kriminalpsychologische Begutachtung

Kriminalpsychologische Begutachtungsfragen ergeben sich sowohl im Erkenntnisverfahren wie im Vollstreckungsverfahren des Straf- oder Maßregelvollzuges (Boetticher et al., 2019).
Im Erkenntnisverfahren ranken sich die Gutachtenfragen darum, ob die Voraussetzungen für eine Verhandlungsführung und für eine uneingeschränkte Strafzumessung gegeben sind oder ob bei der angeklagten Person schädliche Neigungen oder eine Gefährlichkeit zu erkennen ist, die eine Unterbringung im Maßregelvollzug notwendig macht.
Verhandlungsfähigkeit: Die angeklagte Person muss in der Hauptverhandlung vernehmungsfähig sein, was heißt, dass sie eine hinreichende Einsicht in die Prozesslage gewinnen kann, was jedoch bspw. durch eine schwere psychische Störung verhindert sein kann. Die angeklagte Person muss weiterhin in der Lage sein, dem Gang der Hauptverhandlung zu folgen und angemessen zu reagieren, was sowohl bei bestimmten psychischen wie körperlichen Erkrankungen erheblich eingeschränkt sein kann. Das Fehlen der Vernehmungsfähigkeit stellt ein Verfahrenshindernis dar, das bei andauernder Verhandlungsunfähigkeit zur endgültigen Einstellung des Verfahrens führen kann (§ 206a StPO). Ist die Verhandlungsfähigkeit eingeschränkt, kann ihr durch eine angepasste Verhandlungsführung (z. B. Pausenregelung) begegnet werden.
Schuldfähigkeit: Die Grundlage für die Strafzumessung ist die Schuld des Täters (§ 46 Abs. 1 StGB). Liegen psychopathologische Einschränkungen vor, ist in einem zweistufigen Verfahren zu prüfen, ob 1. eine psychische Störung gemäß der vier Eingangsmerkmale des § 20 StGB (krankhafte seelische Störung, tiefgreifende Bewusstseinsstörung, Intelligenzminderung oder eine schwere andere seelische Störung) vorliegt und 2., ob das Vorliegen dieser Störung Auswirkungen auf die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit hatte. Werden beide Punkte bejaht, wird keine Schuld zuerkannt. Ist die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit bei der Tatbegehung erheblich vermindert, kann die Strafe gemildert werden (§ 21 StGB).
Strafmündigkeit: Während Kinder bis zum Erreichen des 14. Lebensjahres als schuldunfähig gelten (§ 19 StGB), muss beim Jugendlichen (14 bis unter 18 Jahre) die Schuldreife, d. h. die Reife, zur Tatzeit nach eigener sittlicher und geistiger Reife das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln, vom Gericht positiv festgestellt werden (§ 3 JGG). Beim Heranwachsenden (18 bis unter 21 Jahre) wird die Strafmündigkeit regelmäßig angenommen, sie kann jedoch gemäß § 105 JGG relativiert werden, wenn der Täter zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung noch einem Jugendlichen gleichstand oder es sich um eine jugendtypische Verfehlung handelte.
Voraussetzungen der Maßregelunterbringung: Steht eine Straftat im direkten Zusammenhang mit einer psychischen Erkrankung, dem regelmäßigen Konsum psychoaktiver Substanzen oder besteht die Möglichkeit einer fortbestehenden Gefährlichkeit des Straftäters, sind die Voraussetzungen für die Unterbringung in einer Maßregelvollzugseinrichtung zur prüfen (§§ 63, 64 und 66 ff. StGB; Einweisungsprognose). Dabei knüpft der § 64 StGB die Zulässigkeit der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt auch noch an eine sachverständige Beurteilung, dass die Gefährlichkeit durch die Behandlung vermindert werden kann (Behandlungsprognose).
Neben den oben genannten Einweisungsprognosen ergeben sich im Vollstreckungsverfahren so genannte Entlassungsprognosen, die sich an die verfahrensnotwendigen Entscheidungen knüpfen. Solche Gefährlichkeits- oder Entlassungsprognosen eines inhaftierten Täters stehen an bei der Prüfung der Unterbringung im Maßregelvollzug oder bei der möglichen vorzeitigen Entlassung aus dem Vollzug. Zunehmend werden sie auch bei der Gewährung vollzugsöffnender Maßnahmen bzw. Lockerungen (Verlegung in den offenen Vollzug, Gewährung von Freigang etc.) von den Vollstreckungsgerichten oder den Vollzugseinrichtungen beauftragt. In diesen Fällen ist zu prüfen, ob die in der Tat zutage getretene Gefährlichkeit des Inhaftierten aus Sicht einer durch wissenschaftliche Forschung gesicherten empirischen Erfahrung fortbesteht (Kröber et al., 2019). Dabei wird ein zweigleisiges Verfahren empfohlen, das einen nomothetischen und einen idiografischen Ansatz kombiniert (Dahle, 2011; Dahle & Lehmann, 2023). Der nomothetische Ansatz greift auf standardisierte Prognoseinstrumente zurück, die die Operationalisierung empirisch gewonnener kriminalitätsrelevanter Faktoren erlauben. Handelte es sich zunächst lediglich um Listen unveränderlicher (statischer) Merkmale zur allgemeinen Gefährlichkeitsprognose, wurden später auch veränderliche (dynamische) Merkmale der individuellen Entwicklung und schließlich auch das Kriminalitätsrisiko mindernde protektive Faktoren in den Instrumenten berücksichtigt (Bliesener, 2007; Dahle et al., 2007; Rettenberger & von Franqué, 2013), um die Vorhersageleistung für das Kriminalitäts- bzw. Rückfallrisiko zu verbessern. Zudem wurden diese Verfahren mehr und mehr auch für die Prognose spezifischer Tätergruppen (z. B. jugendliche Gewalttäter, Täter sexuellen Missbrauchs an Kindern) ausdifferenziert. Allerdings ist eine abstrakte, sich lediglich auf die statistische Wahrscheinlichkeit der erneuten Straffälligkeit gestützte Prognose nicht zulässig (BVerfG, Urteil v. 10.02.2004). Dies gilt umso mehr für algorithmisch, mittels künstlicher Intelligenz gewonnene Risikowerte (Boetticher et al., 2019, S. 28). Allerdings kann ein zusätzliches idiografisches Vorgehen und die Integration der Befunde beider Ansätze dieses Defizit heilen.
Beim idiografischen Vorgehen ist zunächst ein individuelles Delinquenzmodell zu entwickeln, das die jeweiligen Besonderheiten der Biografie, der jeweiligen Kriminalitätsgeschichte, der psychologischen Dispositionen und des psychischen Zustands zur Zeit der Anlasstat, der Tatmotivation und der situativen Umstände der Anlasstat berücksichtigt. Zu diesem Erklärungsmodell der Anlasstat sind weiterhin die postdeliktische Persönlichkeitsentwicklung und der aktuelle Entwicklungsstand einschließlich der aktuellen personalen Risiko- und Schutzpotenziale zu beurteilen. Schließlich ist die Analyse des sozialen Empfangsraums und der Perspektiven der zukünftigen Lebensgestaltung unter Berücksichtigung riskanter Konstellationen vorzunehmen (Dahle & Lehmann, 2023).
Bei der Integration der Befunde beider Vorgehensweisen ist eine auftretende Diskrepanz in der Prognose sorgfältig zu prüfen und substantiiert zu begründen. Dies kann bspw. der Fall sein, wenn die Gefahr für weitere Gewalttaten durch eingetretene schwerwiegende körperliche Einschränkungen, die durch das standardisierte Prognoseverfahren nicht erfasst werden, erheblich reduziert ist. Schließlich verlangen die Auftraggeber (Gerichte, Vollzugseinrichtungen) zunehmend auch eine sachverständige Beurteilung, „ob und ggfs. wie eine fortbestehende (Rest)Gefährlichkeit beherrscht werden kann“ (Boetticher et al., 2019, S. 332). Für derartige Empfehlungen zum so genannten Risikomanagement muss sich der Sachverständige auch mit möglichen Maßnahmen der Führungsaufsicht, der Bewährungshilfe sowie Hilfsangeboten forensischer Ambulanzen und Einrichtungen der Krisenintervention auseinandersetzen.

Verwaltungsrechtliche Fragestellungen

In der Verwaltungsgerichtsbarkeit werden Konflikte zwischen Bürgerinnen und Bürgern und der staatlichen Verwaltung bzw. den Behörden geregelt. Ein Zurwehrsetzen privater Personen gegen das Handeln staatlicher Institutionen setzt in der Regel zunächst das Einlegen eines Widerspruchs der Privatperson voraus, mit dem sich die staatliche Institution auseinanderzusetzen hat. Erst danach steht der Klageweg gegen die staatliche Institution offen. Gericht und Behörde sind zur umfassenden Aufklärung verpflichtet und müssen unparteiisch und objektiv ermitteln.
Beispiele für die psychologische Sachverständigentätigkeit im Verwaltungsrecht sind die Abklärung der Voraussetzungen für eine freiheitsentziehende Unterbringung eines Kindes bei Selbst- oder Fremdgefährdung (§ 1631b BGB), die Prüfung der waffenrechtlichen Eignung (§ 6 WaffG), oder der Bereich der Fahreignungsprüfung nach Entzug der Fahrerlaubnis (§ 11 FeV), der sich allerdings aufgrund der großen Zahl der Sachverständigenanfragen zu einem eigenständigen Bereich innerhalb der Verkehrspsychologie entwickelt hat (Fastenmeier, 2019). Daneben gibt es wie Abb. 1 zeigt noch weitere Fragestellungen an psychologische Sachverständige, die zahlenmäßig aber eine deutlich geringere Rolle spielen.

Sozialrechtliche Fragestellungen

Die Sozialgerichtsbarkeit schließlich stellt eine besondere, von den Behörden unabhängige Gerichtsbarkeit dar, die Konflikte im Sozialrecht wie bspw. Rentensprüche oder Ansprüche von Gewaltopfern regelt.
Im Vordergrund der von psychologischen Sachverständigen zu bearbeitenden Fragestellungen stehen Fragen der Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit, die Prüfung des Vorliegens einer Behinderung aufgrund einer kognitiven Leistungseinschränkung oder anderer Störungen der psychologischen Funktionstüchtigkeit sowie betreuungsrechtliche Fragestellungen. In jüngerer Zeit vermehrt wird auch eine psychologisch-sachverständige Expertise bei Verfahren zur Opferentschädigung7 eingeholt. Für derartige Verfahren, bei denen eine Entschädigung für eine (auch im Ausland) erlebte physische oder psychische Gewalttat beantragt wird, liegen oft keine objektiven Beweismittel vor. Fehlen Beweismittel über die Tat und stützt sich der Antrag lediglich auf die Angaben der betroffenen Person (§ 15 S. 1 VfG-KOV), wird sich die/der Sachverständige des oben beschriebenen Verfahrens der Glaubhaftigkeitsprüfung bedienen. Dabei ist allerdings zu beachten, dass in derartigen Fällen der Beweismaßstab abgesenkt ist. Zwar gilt auch im Zivilprozess grundsätzlich der Strengbeweis, es gibt nur bestimmte Beweismittel und ein bestimmtes Beweisverfahren. Seit 2003 darf jedoch in besonderen Fällen die Beweisaufnahme freier erfolgen (z. B. durch die telefonische Befragung eines Zeugen), wenn beide Parteien damit einverstanden sind. Größere Bedeutung hat der Freibeweis in familienrechtlichen Verfahren (§ 30 FamFG). Die Glaubhaftmachung (§ 294 ZPO) ist vor allem im Verfahren des Rechtsschutzes relevant. Daneben gibt es die eidesstattliche Versicherung (§ 294 Abs. 1 ZPO). Hier wird das Beweismaß abgesenkt. Statt voller richterlicher Überzeugung genügt die überwiegende Wahrscheinlichkeit bzw. die gute Möglichkeit, dass sich das Vorgebrachte so zugetragen hat. Das heißt, der vorgebrachte Sachverhalt „erscheint glaubhaft, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist, weil nach Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht“ (§ 117 II SGB XIV). Die bloße Möglichkeit einer Tatsache reicht hingegen nicht aus, um diese Beweisanforderung zu erfüllen.
Je nach anzuwendendem Beweismaßstab erfolgt die Ablehnung der einzelnen Unterhypothesen jedoch nach unterschiedlichen Kriterien. Ist es für den Vollbeweis notwendig, dass alle Unterhypothesen mit einer an Gewissheit grenzenden Wahrscheinlichkeit auszuschließen sind und entsprechend allein die Wahrhypothese gilt, verlangt der Beweisgrad der Wahrscheinlichkeit, dass keine der gebildeten Unterhypothesen ernstlich angenommen werden kann. Für die Annahme der Wahrhypothese genügt ein deutliches Überwiegen der Wahrscheinlichkeit ihrer Gültigkeit. Beim hier anzulegenden Beweisgrad der Glaubhaftigkeit wird die Wahrhypothese angenommen, wenn die Wahrscheinlichkeit ihrer Gültigkeit relativ zu der der möglichen Unterhypothesen überwiegt, weil nach Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für die Wahrhypothese spricht.

Fazit und Perspektiven

Rechtspsychologische Expertise wird von der Praxis (Gerichten, Behörden) in einem stetig zunehmenden Umfang nachgefragt. Zugleich erfährt die Rechtspsychologie als Wahlfach im grundständigen Studiengang, als spezialisierter Masterabschluss oder in Form postgradualer Weiterbildungsangebote, die sich in den letzten Jahren etabliert haben, eine hohe Nachfrage bei Studierenden und kann – sieht man von der grundsätzlichen Beschränkung des Zugangs zum Psychologiestudium ab – durch den Ausbau der Angebote auch weitgehend bedient werden. Die zunehmende Verankerung rechtspsychologischer Inhalte in der Aus- und Weiterbildung trägt wesentlich zur Professionalisierung und Qualitätssicherung der gutachterlichen Tätigkeit bei (Posten et al., 2019). Sie schafft zudem Raum, auch erfahrene Sachverständige und ihre Expertise in die Lehre einzubinden.
Trotz dieser positiven Entwicklung in der rechtspsychologischen Aus- und Weiterbildung Lehre bleibt die rechtspsychologische Forschung allerdings zurück. Die grundlegenden Mechanismen vieler für die Sachverständigentätigkeit relevanten Phänomene wie z. B. der Gewalteskalation im Beziehungskontext, den Gedächtnisprozessen in emotional hoch belastenden Situationen, der Radikalisierung, der Straftäterbehandlung oder der Kindeswohlgefährdung sind nach wie vor nicht hinreichend untersucht. Zudem ergeben sich aus gesellschaftlichen Entwicklungen und der oben beschriebenen Erweiterung des Spektrums gutachterlicher Fragen an die Rechtspsychologie auch weitere Forschungsfragen, z. B. hinsichtlich der Berücksichtigung kultureller Besonderheiten bei der Begutachtung (Bliesener & Hänert, 2018; Schmidt et al., 2017, 2018).
Einschlägige rechtspsychologische Forschung ist auch deshalb erforderlich, weil viele Psycholog/innen in der Praxis mit rechtspsychologischen Aufgaben befasst sind. Es gibt aktuell über 400 zertifizierte Fachpsychologinnen und Fachpsychologen für Rechtspsychologie BDP/DGPs,8 die in einem Register geführt werden.9 Die Zahl der ohne Zertifizierung gutachtlich tätigen Psycholog/innen ist vielfach größer. Allein im Straf- und Maßregelvollzug dürften etwa 1000 Psycholog/innen beschäftigt sein, die zu einem erheblichen Teil auch mit gutachterlicher Tätigkeit betraut sind. Viele in anderen Bereichen tätige Psycholog/innen sind zumindest gelegentlich mit Sachverständigentätigkeiten befasst. All diese sachverständig Tätigen benötigen fundierte und aktuelle empirische Evidenzen für ihre Arbeit. Auch wenn sich auf internationaler Ebene die Forschung auf dem Gebiet der Rechtspsychologie sehr positiv entwickelt (González-Sala et al., 2017), bleiben viele Fragestellungen auf das deutsche Rechtssystem bezogen und müssen durch Forschung beantwortet werden, die die Besonderheiten dieses Systems berücksichtigt.
So bleibt zu hoffen, dass mit der steigenden Nachfrage nach Angeboten der Aus- und Weiterbildung in Rechtspsychologie, auch der Personalbestand an Universitäten und Hochschulen mit rechtspsychologischer Expertise weiter steigt und darüber die einschlägige Forschung einen deutlichen Schub erfährt.
Fußnoten
1
Diese Auffassung erhielt durch zeitgenössische Arbeiten (z. B. Möbius, 1900: „Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes“) eine scheinbar wissenschaftliche Begründung.
 
2
Darunter fiel auch die Anwendung der polygrafischen Lügendetektion (siehe Putzke et al., 2009).
 
3
Siehe hierzu bspw. Kury und Obergfell-Fuchs (2012) oder Venzlaff et al. (2020).
 
4
Zur historischen Entwicklung, dem Aufbau der Gerichtsbarkeiten und den begrifflichen Hintergründen siehe Babucke und Wetzels 2023.
 
5
Nach dem Beibringungsgrundsatz ist es Aufgabe der Parteien, Beweise vorzubringen. Das Gericht ermittelt nicht von Amts wegen.
 
6
Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit.
 
7
Mit Wirkung zum 01.01.2024 wurde das frühere Opferentschädigungsgesetz durch das 14. Sozialgesetzbuch ersetzt.
 
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