Ein kurzer historischer Überblick: Von den „Mindestanforderungen“ zu den „Empfehlungen“ für Prognosegutachten
Als Reaktion auf die Kritik an der regelmäßig nur unzureichenden Qualität von Prognosegutachten wurde 2006 erstmalig in einer interdisziplinären Arbeitsgruppe von Richtern des Bundesgerichtshofs, Bundesanwälten, Juristen, forensischen Psychiatern und Psychologen sowie Sexualmedizinern Empfehlungen
zur Erstellung bzw. Bewertung von Prognosegutachten vorgelegt (Boetticher et al., 2007a). Die in die Praxis als „Mindestanforderungen für Prognosegutachten“ eingegangenen Vorgaben lieferten zunächst einen Überblick über die gesetzlichen Bestimmungen, die für die Erstellung von Prognosegutachten relevant waren. Zudem definierten sie die Stellung des Sachverständigen1 als Berater des Richters, der aufgrund erfahrungswissenschaftlicher Erkenntnisse eine prognostische Einschätzung gibt. Das kriminalprognostische Gutachten sollte sich zumindest an den folgenden Fragen orientieren:-
Wie groß ist die Rückfallwahrscheinlichkeit der zu begutachtenden Person?
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Welche erneuten Straftaten sind zu erwarten, in welcher Häufigkeit und in welchem Schweregerad?
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Welche Maßnahmen können das Risiko erneuter Straftaten reduzieren?
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Welche Bedingungen können das Risiko erneuter Straftaten erhöhen?
Mit den „Mindestanforderungen für Prognosegutachten“ lag erstmalig ein formeller und inhaltlicher Kriterienkatalog vor, der analog zu den „Mindestanforderungen für Schuldfähigkeitsgutachten“ (Boetticher et al., 2007b) das Ziel verfolgte, ein handwerklich sauberes Vorgehen und einen idealtypischen Aufbau zu skizzieren.
Mit Veröffentlichung der „Mindestanforderungen für Prognosegutachten“ wurde die gutachterliche Praxis wie auch die forensische Forschung und der psychiatrische und rechtspsychologische Diskurs nachhaltig beeinflusst und geprägt (Dahle,
2010; Kröber,
2011). Erste empirische Daten legten aufgrund der Rezeption der Mindestanforderungen einen positiven Effekt hinsichtlich der Qualität und der Trefferquoten von Prognosegutachten nahe (Wertz et al.,
2018). Kritisch war gleichwohl zu sehen, dass vor allem die formalen Aspekte eines Prognosegutachtens in der ersten Auflage der Mindestanforderungen dezidiert aufgegriffen und demgegenüber der Methodenteil weniger konkretisiert wurde. Entsprechend verdeutlichte die Gutachtenanalyse „Schlechtachten trotz Einhaltung der Mindestanforderungen von Prognosegutachten“ eindrücklich, dass auch bei Einhaltung der formalen Kriterien weiterhin inhaltlich zweifelhafte Gutachten möglich waren (Konrad,
2010). Die dargelegten Empfehlungen konnten demnach den Anspruch von notwendigen, nicht aber von hinreichenden Kriterien eines fundierten wissenschaftlichen Gutachtens erheben.
Die von der interdisziplinären Expertenrunde 2006 bzw. 2007 vorgelegten Mindestanforderungen stellten demnach eine erste Empfehlung dar. Seitdem hat sich jedoch nicht nur die (kriminal)prognostische Forschung, sondern auch die rechtlichen Rahmenbedingungen, innerhalb derer prognostische Fragestellungen an einen Gutachter gerichtet werden, weiterentwickelt. Die Notwendigkeit, auch die Mindestanforderungen einem Revisionsprozess zu unterziehen, lag daher auf der Hand. Während der erste Entwurf der allgemeinen Qualitätsstandards vor allem grundlegende Begutachtungsgrundsätze zusammenfasste (Boetticher et al.,
2007a), skizziert die revidierte Version nun den Rahmen eines idealtypischen Vorgehens. Entsprechend wurde der Begriff „Mindestanforderungen“ durch „Empfehlungen“ ersetzt (Kröber et al.,
2019; Rettenberger & Brettel,
2020).
Die Revision der „Mindestanforderungen für Prognosegutachten“ ist das Ergebnis eines mehrjährigen wissenschaftlichen Diskurses von Juristen und Erfahrungswissenschaftlern. Neben der ursprünglichen Expertenrunde wurden 20 neue Mitglieder in den Arbeitskreis aufgenommen. Dabei erfolgte die konkrete Fortschreibung der Mindestanforderungen in zwei Arbeitsgruppen, die zwei fachspezifische Aufsätze vorlegten: Die rechtlichen Empfehlungen geben einen Überblick über die aktuelle rechtliche Entwicklung und skizzieren die aktuellen rechtlichen Rahmenbedingungen für Prognosegutachten (Boetticher et al.,
2019), während die erfahrungswissenschaftlichen Empfehlungen den Fokus auf die formale und inhaltliche Ausgestaltung von Prognosegutachten legen (Kröber et al.,
2019).
Die rechtswissenschaftlichen Empfehlungen und die rechtlichen Rahmenbedingungen für kriminalprognostische Gutachten
Die folgenden Ausführungen beziehen sich im Wesentlichen auf den 2019 publizierten Artikel der juristischen Arbeitsgruppe (Boetticher et al.,
2019), der insbesondere einen Überblick über die für den Gutachter wesentlichen relevanten Neuerungen geben sollte (siehe dazu auch die Ausführungen in Rettenberger & Brettel,
2020). Die Empfehlungen sind vor dem Hintergrund der gegenwärtigen rechtlichen Situation, d. h., unter dem Kautel der Weiterentwicklung des Rechts sowie der Einzelfallbeurteilung im Rechtssystem formuliert. Es wird darin zunächst ein Überblick über den aktuellen Stand der rechtlichen Rahmenbedingungen gegeben, u. a. der verkürzten Begutachtungsfristen von Prognosegutachten. Übergeordnet fällt im Aufbau auf, dass die Arbeitsgruppe ihre Ausführungen durch ausführliche Bezugnahmen zu höchstrichterlichen Einzelentscheidungen untermauerte.
Ein Prognosegutachten wird definiert als eine erfahrungswissenschaftliche Arbeit, die Wahrscheinlichkeitsaussagen über zukünftiges kriminorelevantes Verhalten trifft, d. h., der Sachverständige beschreibt die wahrscheinlich drohende(n) (konkrete) Tat(en) und begründet seine Prognose mittels seines wissenschaftlichen Erfahrungswissens. Die anschließende Prüfung von Erheblichkeit, Kausalität und symptomatischem Zusammenhang obliegt dem Juristen. Die beispielsweise Vertretbarkeit eines Restrisikos bei Aussetzung der Freiheitsstrafe ist demnach keine Frage des Sachverständigen, sondern eine normative Bewertung des Gerichtes. Aufgabe und Verantwortung sind folglich klar hinsichtlich dem erfahrungswissenschaftlichen Gutachter und dem juristischem Auftraggeber verteilt.
Die Auswahl des Sachverständigen liegt grundsätzlich im Ermessen des Gerichtes; maßgeblich ist das Vorliegen der erforderlichen Sachkunde im zur Diskussion stehenden Fall. Konkret werden die Berufsgruppen der Psychologen, Psychiater, Sexualmediziner, Kriminologen, Sozialpädagogen, ggf. andere Mediziner, Psychotherapeuten und Suchttherapeuten als mögliche Gutachter benannt. Eine Einschränkung gilt lediglich bei der Überprüfung der weiteren
Unterbringung eines Patienten im Maßregelvollzug gem. § 63 StGB; hier sollen externe Psychologen oder Mediziner mit forensisch-psychiatrischer Sachkunde und Erfahrung beauftragt werden. Medizinische Sachverhalte sind allein durch Ärzte zu beurteilen. Dabei hat der zu Begutachtende keinen Anspruch auf die Bestellung eines bestimmten Sachverständigen, außer es greift das verfassungsrechtliche Gebot der bestmöglichen Sachaufklärung.
Es wird ferner ausführlich die rechtliche Seite des gutachterlichen methodischen Vorgehens reflektiert. Das Gutachten muss eine hinreichend breite Prognosebasis schaffen, auf der das Gericht sodann seine eigenständige, selbstverantwortete Prognose treffen kann. Die Reduktion auf die Angabe eines statistischen Rezidivrisikos (e. g., Basisraten) oder die Anwendung von standardisierten Risikoinstrumenten alleine erfüllt diesen Anspruch nicht. Standardisierte nomothetische Methoden können eine komplexe klinisch-idiografische prognostische Fallbeurteilung ergänzen und wahrscheinlichkeitstheoretisch rahmen, nicht aber ersetzen (Dahle & Lehmann,
2018).
Grundlagen eines Gutachtens sind die vom Gericht übermittelten aktenkundigen Anknüpfungstatsachen, d. h., prozessuale Feststellungen. Befundtatsachen erhebt der Gutachter aufgrund seiner Sachkunde, Zusatztatsachen können ohne Sachkunde erhoben werden. In der Gesamtwürdigung von Tat und Täter ist unter kriminalprognostischer Würdigung ein lebensgeschichtlicher Längs- und Querschnitt darzulegen. In der Anamnese der Kriminalitätsentwicklung werden u. a. Informationen zu Vortaten bzw. Vorstrafen erhoben. Sind diese jedoch bereits im Bundeszentralregisterauszug getilgt worden, dürfen sie in den Prognosegutachten zur Frage von Vollzugslockerungen oder der Strafrestaussetzung nicht berücksichtigt werden. Es ist insbesondere die 5- bzw. 10-Jahres-Frist zur Tilgung von Jugendstrafen zu beachten (Laubenthal & Baier,
2006). Anderes gilt für Gutachten zur Frage der Schuldfähigkeit, der
Unterbringung in einer Entziehungsanstalt oder dem Maßregelvollzug und der Sicherungsverwahrung gem. §§ 20, 21, 63, 64, 66, 66a, 66b StGB sowie der Fortdauer der Maßregel sowie der Fortdauer der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung als auch bei Fragen zur Vollstreckung der angeordneten oder vorbehaltenen Sicherungsverwahrung und der angemessenen Betreuung gem. §§ 67c, 66c, 67d, 119a StGB. Hier dürfen auch bereits im Bundeszentralregister getilgte Straftaten und deren Umstände zur Beurteilung der Gefährlichkeit oder Schuldfähigkeit einer Person herangezogen werden.
Durch die Neuerungen der rechtlichen Rahmenbedingungen werden nunmehr auch neue Fragen bzw. Zielrichtungen, „namentlich zu Art, Erforderlichkeit und Erfolgsaussicht von Behandlungen“ gestellt. Gleichsam haben sich die Anforderungen an den Gutachter hinsichtlich seiner prognostischen Darlegungen erhöht. Ferner wird in den aktuellen juristischen Empfehlungen der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in den Mittelpunkt gerückt. Maßgabe einer strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung […] gilt insbesondere im Hinblick auf die Anforderungen an die Gefahrprognose und die gefährdeten Rechtsgüter und gilt sowohl im Erkenntnis- als auch im Vollstreckungsverfahren. Die gerichtlichen Darlegungsanforderungen sollen daher neben Ausführungen über die konkreten zu erwartenden rechtswidrigen Taten und deren betroffene Rechtsgüter auch Angaben zu Risiko- und Resilienzfaktoren sowie Besserungs- und Einwirkungsmöglichkeiten machen. Der Strafvollstreckungsrichter nimmt dann eine Verhältnisabwägung zwischen der Bewertung des Rezidivrisikos und der Dauer des bisherigen Freiheitsentzuges vor. Mit zunehmendem Freiheitsentzug steigt daher auch der Anspruch an die gutachterliche Darlegung der Gefahrenprognose.
Fazit und Ausblick
Mit den von einer Arbeitsgruppe von Juristen, Psychologen, Kriminologen und Medizinern vorgestellten Empfehlungen für Prognosegutachtung wurden Leitlinien zur Erstellung von Prognosegutachten gegeben. Die Empfehlungen bauen auf den Mindestanforderungen für Prognosegutachter von 2006 auf und verdeutlichen dem Praktiker die rechtlichen Rahmenbedingungen seiner Arbeit und skizzieren zudem ein formales und inhaltliches idealtypisches Vorgehen. In der aktuellen Überarbeitung der Juristen wurde vor allem der mehrjährigen Entwicklung durch die ständige Rechtsprechung Rechnung getragen, deren aktuelle Skizzierung gerade Nichtjuristen dabei unterstützt, die rechtlichen Möglichkeiten und Grenzen der eigenen Arbeitsweise angemessen zu berücksichtigen. Schwierig wird es hingegen, wenn sich die rechtswissenschaftliche und erfahrungswissenschaftliche Betrachtung von Prognosegutachten geradezu gegenüberstehen, wie beispielsweise in den juristischen Ausführungen zur Bewertungsmöglichkeit der Vorstrafensituation des zu Begutachtenden. Das Verwertungsverbot für getilgte oder tilgungsreife Straftaten des Bundeszentralregistergesetztes wurde in seiner Erstfassung 1971 zur Resozialisierung und Entstigmatisierung der Betroffenen verabschiedet. In der Gefährlichkeitsprognose trägt ein lückenloses Strafregister in der Analyse der delinquenten Vorgeschichte und der Persönlichkeitsentwicklung des zu Begutachtenden hingegen erheblich zum Erkenntnisgewinn bei (Lederer et al.,
2010). Die Tilgung von Strafregistereinträgen führt daher nicht nur in der kriminalprognostischen Begutachtung, sondern auch in der Rückfallforschung als empirische Grundlagenforschung von Begutachtungen zu einem verzerrten Bild. In der konkreten Prognosebegutachtung bedeutet dies, dass ein Sachverständiger aus erfahrungswissenschaftlicher Sicht in der Analyse der Delinquenzgeschichte kriminalprognostisch relevante biografische Faktoren nicht einfach ignorieren bzw. eine Biografie in verwertbare und nicht verwertbare Aspekte unterteilen kann. Diese Anforderung stellt ihn vielmehr im Hinblick auf eine valide Prognose, die sich u. a. auf die Analyse der Delinquenzvorgeschichte bezieht, vor eine geradezu unmögliche denklogische Aufgabe.
Die wesentlichen Neuerungen der erfahrungswissenschaftlichen Empfehlungen sind die Stärkung der Betrachtung der Delinquenz als ein multifaktorielles Konstrukt von persönlichkeitsbezogenen und biografischen Aspekten. Krankheitswertige Aspekte können in der individuellen Entstehungsgeschichte von Kriminalität einen Beitrag leisten, nehmen jedoch gegenüber der Erstversion keine derart prominente Rolle mehr ein. Ferner ruht in den aktuellen Empfehlungen der Fokus der Analyse der Delinquenzgeschichte nicht mehr derart ausgeprägt auf dem Täter alleine, d. h. den personalen bzw. persönlichkeitsimmanenten Faktoren, sondern mahnt auch die Berücksichtigung situativer Gegebenheiten an (Rettenberger & Eher,
2016). Sachverständige neigen dazu, die kausalen Einflussmöglichkeiten des zu Begutachtenden zu überschätzen („Attributionsfehler“) und die Einflüsse äußerer Aspekte zu unterschätzen (Urbaniok,
2012).
Übergeordnet arbeiten die aktuellen Empfehlungen eine integrative Kriminalprognose
aus nomothetischer und klinisch-idiografischer Prognose als idealtypisches Vorgehen heraus. (Dahle & Lehmann, 2018). Hierbei werden auch die empirischen Erkenntnisse für die prognostische Einzelfallbetrachtung betont (Brettel et al., 2018). Dabei ist die kriminalprognostische Betrachtungsweise weniger defizitär orientiert, sondern berücksichtigt nunmehr verstärkt die aktuellen Befunde zur Desistance-Forschung (Yoon et al., 2018), d. h., dem Abbruch krimineller Karrieren als eine Entwicklung weg von der delinquenten Verhaltensweise und hin zu einem sozial konformen Lebensstil (LeBel et al., 2008; McMahon & Jump, 2018).
Abschließend fordern die aktuellen Empfehlungen eine Kontrastierung von wahrscheinlichen Rückfallszenarien und darauf aufbauend Handlungsstrategien eines kriminalpräventiven Übergangs- bzw. Entlassmanagements, d. h., es werden Risikomanagementstrategien zur Gestaltung der sensiblen Phase des Übergangs von der Haft in höhere Freiheitsgrade bzw. der Entlassung gefordert (Pruin,
2013; Walsh,
2014).
Die aktuellen Empfehlungen sind neben der Ausbildung der postgradualen Weiterbildungscurricula der vereinigten deutschen Psychologenverbände zur Qualifizierung forensisch-psychologischer Tätigkeiten (Dahle et al.,
2012) ein weiterer Baustein in der
Qualitätssicherung von Prognosegutachten. Die Mindeststandards von 2006 haben auch aktuell ihre Gültigkeit nicht verloren, sie wurden aber hinsichtlich der rechtlichen Rahmenbedingungen aktualisiert, die formale und inhaltliche Ausgestaltung wurden durch die Befunde der aktuellen kriminalprognostischen Forschung ergänzt, wodurch in der aktuellen Version eine stärkere Annäherung an Empfehlungen für ein idealtypisches Vorgehen erzielt werden konnte.