Verfasst von: Christoph Güsgen und Christof Schreyer
Explosionsverletzungen sind sehr selten, stellen aber eine Verletzungsform dar, die in ihrer Komplexität kaum überschätzt werden kann. Um diese Komplexität von darzustellen wird im Kapitel zunächst auf die physikalischen Besonderheiten einer Explosion eingegangen. Auf dieser Grundlage wird die sog. primäre Explosionsverletzung durch die Druckwelle und ihre Auswirkungen auf das Lungenparenchym in Form der Blast-Verletzung beschrieben. Darauf basierend werden die diagnostischen und therapeutischen Besonderheiten der Blast-Verletzung zusammengefasst. In Ergänzung werden sekundäre, tertiäre und quartäre Verletzungsfolgen von Explosionen im Kapitel mit aufgeführt, da sie nicht selten die Prognose des Verletzten relevant mitbestimmen.
Explosionsverletzungen sind sehr selten, stellen aber eine Verletzungsform dar, die in ihrer Komplexität kaum überschätzt werden kann. Eine Besonderheit stellt dabei das komplexe Verletzungsmuster von Explosionsopfern mit Thoraxverletzungen dar. Zudem steigt, aufgrund der Bedrohungslage in den westlichen Industrieländern, mit jedem terroristischen Anschlag in Europa der Bedarf um das therapeutische Wissen gefühlt an. Ärzte sehen sich mit dieser Art von Verletzungen potenziell unvorbereitet konfrontiert und sind in den letzten Jahren aufgefordert, sich mit dieser Art der thermomechanischen Kombinationsverletzung zu beschäftigen. Die potenziellen Verletzungen sind unabhängig davon, ob es sich um einen häuslichen bzw. industriellen Unfall oder um ein Attentat handelt. Für Ersthelfer und Rettungskräfte steht der Eigenschutz unter allen Szenarien an erster Stelle. Häusliche bzw. industrielle Unfälle oder Katastrophen sind im Gegensatz zu Anschlagsszenarien eher evaluier- und berechenbar. Dies betrifft beispielsweise das Abschätzen des Beginns oder des Endes einer Bedrohungslage. Im Fall eines Anschlags ist die Bedrohungslage dagegen in der Regel zunächst zeitlich und im Risiko nur bedingt einschätzbar. Dies kann Einfluss sowohl auf prä- als auch innerklinische therapeutische Entscheidungen nehmen.
Um die Komplexität einer Explosionsverletzung, speziell des Thorax, darzustellen und nachvollziehbar zu machen, reicht es nicht aus lediglich die unmittelbar drohenden Verletzungsfolgen aufzulisten. Es wird daher zunächst auf die physikalischen Besonderheiten einer Explosion eingegangen.
Physikalische Grundlagen
Als Explosion wird ein schlagartiger Volumenanstieg eines komprimierten Stoffgemischs unter Freisetzung von großen Energiemengen (Hitze, Gas) bezeichnet (Champion et al. 2009). Der plötzliche Volumenanstieg komprimiert die umgebende Materie und setzt sich als konzentrische Druckwelle fort. Treten bei einer 15-kPa-Druckwelle erste Trommelfellschädigungen auf, so liegt bei 100 kPa in der Hälfte der Fälle eine Trommelfellperforation vor. Die sog. Blast-Lung entsteht als pulmonale Folge bei Druckwellen von 500 kPa. Ab 1000 kPa lässt sich eine Letalität von 50 % erwarten, während eine Druckwellenhöhe ab 2000 kPa mit dem Leben regelhaft nicht mehr vereinbar ist (Owen-Smith 1979). Mit zunehmendem Abstand zum Explosionsursprung verliert die Druckwelle exponentiell an Energie. Somit nimmt auch das Verletzungsrisiko bzw. -ausmaß mit größerem Abstand vom Explosionsursprung exponentiell ab. Dem plötzlichen Druckanstieg in Form der Druckwelle folgt ein unmittelbarer, im Vergleich zum Druckanstieg längerer und schädigender Druckabfall (Abb. 1).
×
Durch die Wucht der Explosion werden sowohl Teile des Sprengkörpers als auch Umgebungsfragmente als Splitter stark beschleunigt. Ihr Schädigungsradius liegt weit über dem der unmittelbaren Druckwelle. Die im Rahmen der Explosion freiwerdende Energie führt in Form von Hitze zu Verbrennungen.
Einen relevanten Einfluss auf das Verletzungsausmaß bzw. die explosive Wirkung hat der Ort der Explosion. So werden die Druckwellen in geschlossenen Räumen durch begrenzende Flächen reflektiert und können sich durch das Auftreffen aus verschiedenen Richtungen verstärken.
Die Opferzahl bei Explosionsanschlägen in geschlossenen Räumen wie Bussen und U-Bahnen ist zum einen durch die Addition der Druckwellen, zum anderen durch die höhere Anzahl der penetrierenden Verletzungen im Vergleich zu offenen Flächen nachweislich höher (Golan et al. 2014).
Explosionsverletzungen stellen eine eigene multidimensional polytraumatisierende Entität der thermomechanischen Kombinationsverletzung dar. Die verschiedenen Dimensionen der Verletzung resultieren aus den unterschiedlichen Entstehungsmechanismen, denen die Opfer einer Explosion ausgesetzt werden. Die meisten Autoren beziehen sich bei der Darstellung der verschiedenen Verletzungsmechanismen auf eine im Grundsatz von Zuckermann bereits vor vielen Jahren beschriebene Einteilung. In modifizierter Form werden heute 4 verschiedene Verletzungsmechanismen (primäre bis quartäre Explosionsverletzung) unterschieden (Mayo und Kluger 2006):
Als sog. primäre Explosionsverletzung kommt es durch die plötzliche Druckwelle zu stumpfen Verletzungen, die Kontusionsverletzungen gleichkommen. Diese führen, bedingt durch den extremen Druckanstieg und unmittelbaren Druckabfall, zu Perforationen und Kontusionen gerade luftgefüllter Organe wie der Lunge. Von der primären sog. Blast-Wirkung sind auch andere Hohlorgane, beispielsweise der Darm oder das Trommelfell betroffen.
Sekundäre Explosionsverletzungen bezeichnen die im Rahmen der Explosion erlittenen penetrierenden Verletzungen. Sie entstehen durch Splitter von Sprengkörperfragmenten, Befüllungen oder allem, was durch die Druckwelle beschleunigt wurde. Die einzelnen Verletzungsformen der penetrierenden thorakalen Verletzungen werden gesondert erläutert (Kap. „Penetrierende Thoraxverletzungen (Stichverletzungen, Schussverletzungen)“).
Sowohl stumpf als auch penetrierend können die tertiären Explosionsverletzungen sein. Sie entstehen durch das Aufprallen des von der Druckwelle erfassten Körpers oder durch einstürzende Gebäudeteile.
Die durch die Hitzeentwicklung verursachten Verbrennungen oder toxische Inhalationsschädigungen werden als quartäre Explosionsverletzungen beschrieben.
Grundsätze der Therapie von Explosionsverletzungen
Grundsätzliche Therapieprinzipien, wie beispielsweise die algorithmusbasierte (z. B. ATLS®) Erstversorgung, behalten auch in der Versorgung von Explosionsopfern ihre Gültigkeit. Neben der Sicherung des Atemwegs und der Ventilation steht die Blutstillung, notwendig aufgrund von sekundären und tertiären Verletzungen, besonders im Fokus. Eine unmittelbare Abdeckung durch ein Breitspektrumantibiotikum ist für diese Patienten ebenfalls ein obligater Therapieanteil.
Blast-Lung-Verletzung
Speziell in der Lunge kommt es, vergleichbar einer generalisierten Lungenkontusion, durch die primäre Druckwellenschädigung und den plötzlichen Wechsel des Drucks zur Implosion mit anschließender Zerstörung der alveolären, gasgefüllten Membranen an der alveolokapillären Grenzfläche. In der Folge kommt es zu Einblutungen in die Alveolen und Ödembildung. Der genaue Schädigungsmechanismus auf mikrozellulärer Ebene ist nach wie vor Teil einer Diskussion und nicht abschließend geklärt. Tierexperimentell konnte aber nachgewiesen werden, dass der relevante schädigende Traumamechanismus durch den der Druckwelle folgenden negativen, also subatmosphärischen Druck, zustande kommt (D’yachenko et al. 2006). Während sich histologisch regelhaft die beschriebenen alveolären Membranzerstörungen und perivaskuläre Hämorrhagien finden, lassen sich die druckbedingten Luftembolien in weniger als der Hälfte der letalen Verläufe bei Patienten nachweisen (Tsokos et al. 2003).
Wie bei der Kontusion kann das zu Hypoxie, Dyspnoe, Hyperkapnie und erschwerter Atmung führen. Die Symptome können auch verzögert, beispielsweise erst nach 48 Stunden auftreten.
Diagnostik
In der Bildgebung, im Röntgenthorax bzw. computertomografisch (Abb. 2 und 3), zeigt sich das typische Bild einer großflächigen Lungenkontusion. Über die Kontusion hinaus, kommt es bei entsprechend hohem Druck, auch zur Ausbildung eines Pneumothorax. Bei extremen Drücken können konsekutive Luftembolien und ihre Folgeerscheinungen, beispielsweise die kardiale Dekompensation oder auch Arrhythmien, auftreten. Das klinische Bild entspricht den unterschiedlichen Stadien eines acute respiratory distress syndrome (ARDS).
×
×
Therapie
Wie bei allen Parenchymschädigungen der Lunge muss die adäquate Sauerstoffsättigung gewährleistet werden. Die frühzeitige invasive Beatmung mit positiv endexspiratorischen Drücken (PEEP) stellt die Schlüsseltherapie dar.
Lungenprotektive Beatmungsmuster mit individuell angepasstem PEEP (Best-PEEP-Verfahren mit höchstem PaO2 und niedrigstem PaCO2) werden intensivmedizinisch empfohlen. Aufwendig, aber effektiv sind frühzeitig vorgenommene Lagerungsmaßnahmen mit Bauch- oder 130°-Lagerung.
Für ARDS-Patienten stehen zudem die Extrakorporale Membranoxygenierung (ECMO) oder auch die Beatmung mit NO zur Verfügung. Hier sollte frühzeitig, bei mangelnden Kapazitäten in der eigenen Klinik, an eine Verlegung des Patienten gedacht werden. Wird die Blast-Lung-Verletzung initial überlebt, hat sie eine sehr gute Prognose.
Isolierte Blast-Verletzungen der Lunge sind naturgemäß sehr selten. Im Rahmen von Explosionen tritt die Blast-Lung-Verletzung häufig gemeinsam mit Druckschädigungen weiterer Hohlorgane (primäre Explosionsverletzungen) und/oder thermomechanischen Kombinationsverletzungen (sekundäre bis quartäre Explosionsverletzungen) auf.
Auf die sekundären, also penetrierenden Verletzungen wird im entsprechenden Kapitel (Kap. „Penetrierende Thoraxverletzungen (Stichverletzungen, Schussverletzungen)“) eingegangen. Tertiäre Verletzungen münden meist in stumpfen Thoraxverletzungen. Rippenfrakturen, Lungenkontusionen, Lungenparenchymverletzungen und Hämatothorax, aber auch relevante mediastinale Gefäßverletzungen und kardiale Kontusionen können resultieren.
Quartäre, durch die Hitzeentwicklung der Explosion bzw. den Rauchgasaustritt in geschlossenen Räumen auftretende, Inhalationstraumen schädigen die Lungen zusätzlich. Aufgrund der Hitzewirkung kommt es in den oberen Atemwegen bis zur Epiglottis zur direkten thermischen Schädigung des Gewebes. Durch die Inhalation von chemischen Noxen kann es zur additiven toxischen Schädigung der Alveolen kommen. Besonders bedrohlich sind zudem die durch Kohlenmonoxid und Zyanide verursachten Hypoxietrigger aufgrund ihrer systemischen Blockade der Mitochondrien in der Atmungskette.
Ähnlich wie bei den pulmonalen Kontusionen und dem Barotrauma der Lunge steht auch hier die Sicherung der suffizienten Oxygenierung durch frühzeitige invasive und protektive Beatmung im Vordergrund.
Das Besondere der Blast-Lung-Verletzung ist, dass ihre Prognose nicht allein durch die Kontusion bestimmt wird. Gerade die Kombination verschiedener, primärer bis quartärer Verletzungen macht sie zur therapeutischen Herausforderung.
Literatur
Champion HR, Holcomb JB, Young LA (2009) Injuries from explosions: physics, biophysics, pathology, and required research focus. J Trauma 66:1468–1477PubMed
D’yachenko AI et al (2006) Modeling of weak blast wave propagation in the lung. J Biomech 39:2113–2122CrossRef
Di Micoli M (2012) Explosionsverletzungen. In: Neitzel C, Ladehof K (Hrsg) Taktische Medizin. Springer, Berlin/Heidelberg
Golan R, Soffer D, Givon A et al (2014) The ins and outs of terrorist bus explosions: injury profiles of onboard explosions versus occurring adjacent to a bus. Injury 45:39–43CrossRef
Mayo A, Kluger Y (2006) Terrorist bombing. World J Emerg Surg 1:33CrossRef
Owen-Smith MS (1979) Explosive blast injury. J Royal Army Med Corps 125:4–16CrossRef
Tsokos M et al (2003) Histologic, immunhistochemical and ultrastructural findings in human blast lung injury. Am J Respir Crit Care Med 168:549–555CrossRef