Spannungsfeld ökonomischer und medizinisch-ethischer Rationalität
Das Bedürfnis nach Gesundheit ist unendlich. Die Ressourcen, dieses Bedürfnis zu befriedigen, sind begrenzt. Während der medizinisch-technische Fortschritt in diesem Kontext einerseits gesundheitliche Probleme löst und damit das Bedürfnis nach Gesundheit befriedigt, fördert er andererseits durch eine verbesserte Diagnostik und Behandlung die Schaffung zusätzlicher Bedürfnisse. Die finanziellen Ressourcen des Gesundheitssystems sind jedoch begrenzt, weshalb der Gesetzgeber die medizinische Versorgung einem Wirtschaftlichkeitsgebot unterstellt: Nach § 12 SGB V müssen medizinische Leistungen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich erbracht werden. Trotz der Verankerung des ökonomischen Anspruches an die medizinische Leistungserbringung in der Gesetzgebung, bewirkt das Begriffspaar
Ökonomie und Medizin in großen Teilen der Öffentlichkeit Irritationen und Ablehnung. Die sogenannte Ökonomisierung der Medizin wird als Fluch und Einzug des neoliberalen Paradigmas in die Gesundheitsversorgung betrachtet (Dohmen und Fiedler
2015). Tatsächlich eröffnet ein werturteilsfreier Umgang mit der Ökonomie
jedoch neue Perspektiven hinsichtlich einer zielgerichteten Ressourcenverteilung, da ökonomisches Handeln auf die Moderation zwischen unbegrenzten Bedürfnissen einerseits und begrenzten Ressourcen andererseits abzielt. Diese moderierende Aufgabe der Ökonomie in der medizinischen Versorgung hat zweifelsfrei ihre Berechtigung, sofern sie sich am Patientenwohl ausrichtet. Ökonomisierung ist somit nicht an sich schlecht, solange „der zu maximierende Patientennutzen beziehungsweise die Patientenpräferenzen auch gemessen werden können“ (Mühlbacher
2017). Es ist in der Konsequenz unerlässlich eine Vorgehensweise zur objektiven Messung der Relation von Ressourcenverwendung und Patientennutzen für relevante Behandlungsverfahren zu definieren. Allerdings stellt letzteres die Problematik der Ökonomisierung dar: Wie lassen sich Nutzen und Präferenzen der Patienten objektiv messen?
Der transzendentale und konditionale Charakter des Gutes Gesundheit erschwert die objektive Einschätzung der Wirtschaftlichkeit medizinischer Versorgung. Während die Frage nach einem ethisch vertretbaren Umgang mit dem Wirtschaftlichkeitsgebot aus diesem Grund unbedingt in die Diskussion einbezogen werden muss, lässt sich ebendiese jedoch nicht ohne weiteres beantworten (Marckmann
2010). Sie wird auch an dieser Stelle nicht weiter beleuchtet. Die Notwendigkeit einer Ausgabenkontrolle für die Förderung, den Erhalt und die Wiederherstellung der Gesundheit bleibt davon unberührt. Zwischen einer hohen gesamtgesellschaftlichen Zahlungsbereitschaft einerseits und einer nur eingeschränkten gesamtgesellschaftlichen Zahlungsfähigkeit für Gesundheitsleistungen andererseits klafft in Deutschland eine große Lücke (Schöffski
2007). Demnach ist es zwingend notwendig, Entscheidungen hinsichtlich konkurrierender Bedürfnisse zu treffen (Bernholz und Breyer
1993), wobei Gesundheitsleistungen nicht nur untereinander konkurrieren, sondern auch gegenüber anderen konditionalen Gütern, wie Bildung, Umwelt oder Sicherheit. Finanzielle Mittel, die für die gesundheitliche Versorgung eingesetzt werden, fehlen zur Finanzierung anderer Bedürfnisse. Dieser Wirkungszusammenhang verlangt nach einer umfassenden Identifikation der zur Verfügung stehenden Ressourcen, um potenzielle Kriterien der Mittelverwendung charakterisieren und einen angemessenen Umgang mit der Mittelknappheit gewährleisten zu können (Dolan und Olsen
2001).
Eine rein marktwirtschaftliche Mittelallokation setzt einen vollkommenen Wettbewerb der Anbieter und ausreichend informierte Nachfrager voraus, sodass (a) eine effektive, heißt präferenzorientierte und (b) eine effiziente, heißt kosten- bzw. erlöserzielende Güterbereitstellung und -verteilung generiert werden können. Was in der Konsumgüterwelt seine Berechtigung hat, ist nicht zwingend übertragbar auf den Gesundheitsmarkt: Während Patienten nicht vollständig informiert sind, stehen Anbieter nicht unbedingt in einem freien Wettbewerb zueinander. Sowohl ökonomische als auch ethische Gründe widersprechen einem rein marktwirtschaftlich ausgerichteten Gesundheitssystem. Die eingeschränkte Patientensouveränität als auch ungleiche Einkommensvoraussetzungen bedingen ein Marktversagen (Marckmann
2010).
Dieses potenzielle Marktversagen ist Grund für das Eingreifen des Staates in die Mittelallokation. In erster Linie steht der Staat vor der Herausforderung, die permanenten Kostensteigerungen zu dämpfen. Laut den Angaben des Statischen Bundesamtes beliefen sich die Gesundheitsausgaben in Deutschland im Jahr 2017 auf 375,6 Milliarden Euro oder 4544 Euro je EinwohnerIn. Dies entspricht einem Anstieg um 4,7 % oder 16,9 Milliarden Euro gegenüber 2016. Der Anteil der Ausgaben am Bruttoinlandsprodukt lag bei 11,5 %. Als Antwort auf diese Entwicklung reguliert der Staat mit zwei ordnungspolitischen Maßnahmen: Dies sind (a) die Forderung nach Rationalisierungen zur Effizienzsteigerung oder (b) die Begrenzung der Leistungen in Form von Rationierungen und Priorisierungen. Als dritte Maßnahme besteht die Möglichkeit der Beitragserhöhung zur Finanzierung der Ausgaben durch den Staat. Im Kontext des gesamten Bundeshaushaltes und der gegenwärtigen Steuer- und Abgabenlast der Bürger sind allerdings weitere Mittelerhöhungen nur begrenzt vertretbar (Statistisches Bundesamt
2018).
Vor diesem Hintergrund werden Gesundheitsreformen durch die Öffentlichkeit wiederholt als Kostendämpfungsgesetze wahrgenommen. In der Tat scheint es als seien die Quellen der Effizienzreserven im deutschen Gesundheitssystem noch nicht versiegt. In diesem Sinne verstehen sich die Bemühungen zur Effizienzsteigerung als eine Konvergenz von ökonomischer und medizinisch-ethischer Rationalität. Während es aus ökonomischer Sichtweise notwendig ist, dass ein bestimmter Effekt mit möglichst geringem Aufwand erzielt wird, setzt das ethische Prinzip des Nichtschadens voraus, dass ein entsprechender Gesundheitszustand mit minimalen diagnostischen und therapeutischen Mitteln erzielt wird. Die durch das Prinzip der Effizienzsteigerung implizierten Wirtschaftlichkeitsreserven können jedoch bislang hinsichtlich ihrer Größenordnung und möglicher Einsparpotenziale nicht vollumfänglich definiert werden. Während somit die Wirtschaftlichkeitsreserven kaum exakt zu bestimmen sind, lässt sich zudem deren Abschöpfungsgrad nur tendenziell feststellen, weil entsprechende Rationalisierungseffekte schwer methodisch darzustellen sind. Strukturelle Veränderungen des Gesundheitssystems, als Grundvoraussetzung zur erfolgreichen Umsetzung von Rationalisierungsmaßnahmen, führen dazu, dass eine Reduktion des Mittelverbrauchs lediglich mit hoher zeitlicher Latenz und ohne Erfolgsgarantie erfolgen kann. Einsparungen sind bedingt durch die hohe Personalintensität im Gesundheitswesen als Basis für eine qualitativ hochwertige Versorgung zudem sehr begrenzt (Marckmann
2010).
Da weder die Mobilisierung von Effizienzreserven noch weitere Erhöhungen der Gesundheitsausgaben hinsichtlich der Überwindung der Mittelknappheit im deutschen Gesundheitswesen gesamtgesellschaftlich gewollt und damit politisch opportun sind, wird die Begrenzung des Leistungsumfangs in den gesetzlichen Krankenversicherungen (Rationierungen) unausweichlich. Vor dem Hintergrund der Zielsetzung den Zugang zu medizinisch nützlichen Maßnahmen und den damit in Verbindung stehenden positiven Effekt auf die
Lebensqualität oder -erwartung der Patienten nicht zu rationieren, stellt dieser Ansatz jedoch keine Alternative dar (Marckmann
2010).
Eine Perspektiverweiterung zur Lösung des Spannungsfeldes ökonomischer und medizinisch-ethischer Rationalität geht vom Ansatz des sogenannten Value-Based Health Care (VBHC) aus. Die damit einhergehende nutzen- oder auch wertorientierte Gesundheitsversorgung zielt darauf ab, die Ergebnisse medizinischer Maßnahmen mit den zur Erzielung dieser Ergebnisse notwendigen Kosten ins Verhältnis zu setzen. Als
Value definiert Porter in diesem Kontext „patient health outcomes per dollar spent“ (Porter und Teisberg
2006). Therapiemehrwert und -nutzen sowie die patientengerechte Versorgung stehen im Mittelpunkt der Betrachtung. Die kurzfristige Kostenersparnis durch Rationierungen soll mithilfe von langfristigen Kostensenkungsmaßnahmen abgelöst werden. Entsprechende langfristige Einsparpotenziale werden über optimierte Leistungen und eine Fokussierung auf das bestmögliche Behandlungsergebnis erzielt (Porter und Guth
2012).