Weitere Domänen
Mit zunehmendem Alter weisen die Organsysteme des Menschen einen intra- wie interindividuell unterschiedlich stark ausgeprägten Funktionsverlust auf. Dieser Funktionsverlust ist sowohl auf zellulärer Ebene (z. B. oxidative Leistungsfähigkeit der Granulozyten) wie auch in der Leistungsfähigkeit des Gesamtorganismus nachweisbar, sofern die Leistungsgrenze erreicht wird. Unter Alltagsbedingungen zeigt sich aufgrund der Reserven des Gesamtorganismus trotz subklinischer Defizite keine relevante Beeinträchtigung. In der Situation erhöhter Anforderung, wie einer Tumortherapie, ob chirurgisch oder konservativ, werden diese funktionellen Defizite zur Limitation der Therapie. Dabei strebt das umfassende geriatrische Assessment (
Comprehensive Geriatric Assessment,
CGA) eine möglichst lückenlose Abbildung der Leistungsfähigkeit des älteren Organismus an. Die Domänen und zugehörigen Tesverfahren zeigt Tab.
2.
Tab. 2Das umfassende geriatrische Assessment
Alltagskompetenz | Instrumentelle Aktivitäten des täglichen Lebens (IADL) Aktivitäten des täglichen Lebens (ADL) |
Kognition | Mini Mental Status Examination (MMSE) DemTect |
Depression | Geriatrische Depressionsskala (GDS) |
Mobilität | Timed-up&go-Test Chair-rising-Test Mobilitätstest nach Tinetti |
Komorbidität | Charlson-Index Cumulative Illness Rating Scale (CIRS-G) Index of Coexisting Diseases (ICED) |
Ernährung | Mini Nutritional Assessment (MNA) |
Soziale Situation | Erhebung der Versorgungsstruktur, Unterstützung |
| Generische Instrumente: SF 12/36 EuroQOL COOP-Charts Tumorspezifische Instrumente: QLQ-C30 mit Zusatzmodulen FACT |
Alltagskompetenz
Die Alltagskompetenz wird in zwei Bereiche differenziert. Die Grundversorgung körperlicher Bedürfnisse wird in den ADL nach Barthel erfasst. Dieser Index bewertet in einer 5-Punkte-Stufung die Bereiche Baden und Waschen mit jeweils 5 Punkten, Essen, Toilettenbenutzung, Treppensteigen, An- und Auskleiden sowie Stuhl- und Harnkontinenz mit jeweils 10 Punkten sowie Gehen und Transfer mit jeweils 15 Punkten. Aus dem sich ergebenden Summenwert zwischen 0 und 100 kann der Grundpflegebedarf abgeschätzt werden.
Dabei ist aber zu beachten, dass der Test eine deutliche Tendenz oberhalb von 85 Punkten aufweist, die dazu führt, dass geringe Defizite nicht adäquat erfasst werden. Die einzelnen Bereiche können nur begrenzt gegeneinander aufgerechnet werden, sodass stets alle Bereiche einzeln berücksichtigt werden müssen. Werte unter 80 Punkten weisen auf einen relevanten täglichen Hilfsbedarf in der Grundversorgung des Betroffenen hin, d. h.
Pflegebedürftigkeit.
Die instrumentellen Aktivitäten des täglichen Lebens (IADL) betreffen die Fähigkeit, einen Haushalt selbstständig zu führen. Einkaufen, Telefonbenutzung, Kochen, Wäsche waschen, Benutzung von Transportmitteln, selbstständige Medikamenteneinnahme sowie Regelung der Geld- und Finanzangelegenheiten finden hierbei Berücksichtigung (Mahoney und Barthel
1965; Lawton und Brody
1988).
Mit dem IADL-ADL-Konzept
lässt sich die Lebensführung von der Selbstständigkeit im eigenen Haushalt bis zum fortgeschrittenen Grundpflegebedarf abbilden. Defizite in einer oder mehreren IADL-Domänen gehen mit einer Verdoppelung der 2-Jahres-Mortalität sowie einem 55 %igen Risiko für die Entwicklung einer
Demenz in den beiden Folgejahren einher, Defizite in einer ADL-Domäne führen zu einer Verdreifachung der 2-Jahres-Mortalität.
Wesentlicher Bestandteil der ADL- und IADL-Bewertung ist nicht das potenzielle Leistungsvermögen des Betroffenen, sondern nur die tatsächlich erbrachte Leistung. Eine externe
Validierung der Angaben ist bei Bedarf z. B. durch Angehörige notwendig.
Mobilität
Eingeschränkte Mobilität und Stürze stellen in der
Geriatrie einen wichtigen Risikoindikator dar. Stürze spielen dabei nicht nur durch ihre unmittelbaren Konsequenzen mit Verletzungen im muskuloskelettalen Bereich eine Rolle, sondern dienen auch als Indikator für Gebrechlichkeit. So ist bei rezidivierenden Stürzen davon auszugehen, dass eine dauernde Immobilität droht. Die orientierende Bewertung des Risikos lässt sich dabei in zwei Bereiche gliedern: anamnestische Angaben („Sind Sie in den letzten 8 Wochen gestürzt?“) sowie einfache Tests.
Der
Timed-up&go-Test misst die Zeit, die der Patient unter Nutzung seiner üblichen
Hilfsmittel benötigt, um von einem Stuhl aufzustehen, 3 m zu gehen und sich wieder zu setzen. Zeiten bis 10 s sind normal, Zeiten über 19 s weisen auf (I)ADL-relevante Defizite hin. Risikopersonen zwischen 11 und 20 s sollten frühzeitig entsprechend unterstützend therapiert werden, da bei einer Immobilisierung durch operative oder konservative Therapie durch den resultierenden Muskelabbau rasch die Grenze zur klinischen Relevanz erreicht wird (Podsiadlo und Richardson
1991).
Kognition
Kognitive Defizite nehmen in ihrer
Prävalenz mit zunehmendem Alter deutlich zu. So zeigen nur etwa 1 % der unter 65-Jährigen eine
Demenz, während bereits knapp 6 % der Patienten zwischen 75 und 79 Jahren demenzielle Symptome aufweisen. Dabei lassen sich zwei Problemgruppen identifizieren. Die erste Gruppe mit mittleren und schweren Demenzsymptomen stellt in ihrer Erkennung kein eigentliches Problem dar. Wesentlich schwieriger ist die Einschätzung, wie weit fortgeschritten die Demenz in Bezug auf Krankheitsverständnis und
Einwilligungsfähigkeit ist. Diese Entscheidung ist nur individuell unter Hinzuziehung entsprechender Fachkompetenz zu treffen.
Die Gruppe der Patienten mit leichten demenziellen Veränderungen dagegen stellt eine diagnostische Herausforderung dar, da im unmittelbaren Patientenkontakt diese Defizite nicht mehr offensichtlich werden und von den Patienten, denen die Defizite in aller Regel bewusst sind, auch sehr geschickt hinter einer Fassade verborgen werden. Diese Patienten sind dabei besonders gefährdet, einen postoperativen Verwirrtheitszustand zu entwickeln, oder sie zeigen in ambulanten Therapiekonzepten erhebliche Complianceprobleme.
Die zur raschen präinterventionellen Diagnostik zur Verfügung stehenden Tests sind in Tab.
3 dargestellt (Folstein et al.
1975; Kalbe et al.
2004; Watson et al.
1993).
Tab. 3Stärken und Schwächen der Instrumente zur Kognitionstestung
MMSE (Mini Mental State Examination) | Weit verbreitet, Standardinstrument, leichte bis mittelschwere Demenzformen | Unempfindlich in den Anfangsstadien einer Demenz, bildungsabhängig | 10 min |
DemTect | Differenzierung der leichten Einschränkungen, gute Patientenakzeptanz | Geringere Verbreitung als MMSE, mittelschwere und schwerere Demenzen können nicht differenziert werden | 10 min |
Clock Completion Test (Uhrentest) | Schnell und einfach durchzuführen, intuitiv verständlich | Unterschiedliche Auswertungs- und Bewertungsskalen | 2 min |
Depression
Depressionen
gehören zu den relevant unterdiagnostizierten Erkrankungen älterer Patienten. Dabei führen sie direkt und mittelbar über sozialen Rückzug mit Vereinsamungstendenzen und den Verlust funktioneller Kapazität zu einer Beeinträchtigung der
Lebensqualität. In der belastenden Situation der Konfrontation mit der Diagnose einer malignen Tumorerkrankung stellt eine resignative Haltung auf dem Boden einer Depression eine erhebliche Gefährdung des Therapieerfolgs dar.
Zum einfachen
Screening auf das Vorliegen einer Depression eignet sich die Kurzform der
Geriatrischen Depressionsskala (GDS). Das Instrument besteht aus 15 Fragen und kann vom Patienten selbst ausgefüllt werden. Ab 6 bzw. 11 Punkten besteht Verdacht bzw. hochgradiger Verdacht auf das Vorliegen einer Depression, der eine weitergehende Abklärung und Therapie rechtfertigt (Sheikh und Yesavage
1986).
Ernährung
Ältere Patienten sind häufig nicht optimal ernährt. Dabei stehen Fehl- und Mangelernährung im Vordergrund. Man kann zwischen einer kalorischen und einer proteinbezogenen Mangelernährung unterscheiden. Es konnte mehrfach gezeigt werden, dass diese Mangelzustände Risikofaktoren für erhöhte Morbidität und Mortalität darstellen.
Die laborchemische Bestimmung von
Albumin,
Cholesterin und
Präalbumin in Verbindung mit dem
Body-Mass-Index (BMI) erfassen die Konsequenzen einer bereits bestehenden Malnutrition. Gerade bei Patienten mit geplanter Chemotherapie oder Radiotherapie im Bereich des Verdauungstrakts ist eine frühzeitige Erfassung präklinischer Defizite vor der Therapie sinnvoll, um behebbare Ursachen frühzeitig zu behandeln. Zur Erfassung eignet sich das
Mini Nutritional Assessment, das in validierten Übersetzungen vorliegt. Hierbei werden sowohl der Ernährungszustand als auch Verhaltensmuster, die ein Risiko für Fehlernährung darstellen, erfasst und auf einer Skala zwischen 0 und 30 Punkten abgebildet. Bei weniger als 24 Punkten besteht das Risiko einer Mangelernährung, unter 17 Punkten ist von einer manifesten Mangelernährung auszugehen (Guigoz et al.
1994).
Soziale Unterstützung
Die Familienstrukturen innerhalb der Gruppe der alten Patienten sind sehr heterogen. Die Bedeutung dieses Bereichs im Unterschied zu jungen Patienten wird durch die begrenzten Kompensationsmöglichkeiten insbesondere funktioneller Art bestimmt. Bei Patienten mit relevanten Defiziten in den Bereichen ADL und IADL stellen die sozialen Bedingungen den bestimmenden Faktor für eine erfolgreiche Therapie außerhalb der Klinik dar. Da die Patienten selbst ihre sozialen Defizite häufig nicht thematisieren, kommt der aktiven Erfassung vor einer Therapieplanung eine besondere Bedeutung zu. So kann eine entsprechende Versorgung durch ambulante Pflegedienste oder in tagesklinischen Strukturen sinnvoll sein.
Geriatrisches Assessment
Da die vorstehend genannten Bereiche der konventionellen Anamneseerhebung und klinischen Untersuchung häufig entgehen, aber von prognostischer und therapeutischer Relevanz sind, wurde in der
Geriatrie das systematische geriatrische Assessment etabliert. Es dient der strukturierten Erfassung der individuellen Ressourcen und Defizite eines Patienten. Die Anwendung des geriatrischen Assessments im Rahmen der Betreuung alter Patienten mit Krebserkrankungen führt zur Diagnose von Defiziten, die dem konventionellen Vorgehen entgangen wären, diese Veränderungen können in einer Änderung des Behandlungsplans resultieren. Sie sind darüber hinaus von prognostischer Bedeutung für die
Lebensqualität, die Durchführbarkeit und Toxizität einer Therapie und für das Überleben. Nationale und internationale Fachgesellschaften empfehlen daher die Integration des strukturierten geriatrischen Assessments in die Betreuung alter Patienten mit Krebserkrankungen (Friedrich et al.
2003).
Aufgrund des zeitlichen Umfangs des Assessments kann ein zweistufiges Vorgehen sinnvoll sein (). Im ersten Schritt werden über ein
Screening diejenigen Patienten identifiziert, die auch im vollständigen Assessment keine Einschränkungen aufweisen, um nur jene Patienten einem vollständigen Assessment zuzuführen, bei denen Defizite zu finden sein werden. Hierfür bietet sich die
VES-13-Skala an, für die es Erfahrungen mit Prostatakarzinompatienten gibt (Mohile et al.
2007). Am verbreitetsten und von Decoster et al. (
2015) als ein mögliches Instrument empfohlen ist der G8-Score (Soubeyran et al.
2014). In einem systematischen Review erwiesen sich Screeninginstrumente allerdings als nicht ausreichend sensitiv und spezifisch (Hamaker et al.
2012).
Operatives Vorgehen im Alter
Unter den urologischen Tumoren stellt insbesondere das muskelinvasive
Harnblasenkarzinom eine besondere Herausforderung dar. Das operative Vorgehen ist aufwendig und mit einem relevanten Komplikationsrisiko behaftet.
In einem aktuellen Review wurden Morbidität und Mortalität nach radikaler
Zystektomie untersucht (Froehner et al.
2009). Von 42 eingegangenen Studien beschäftigten sich 20 Studien mit älteren Patienten, wobei von den meisten Autoren als ältere Patienten solche mit einem Alter über 75 Jahre definiert wurden. In einer Studie mit mehr als 100 über 80-jährigen Patienten zeigte sich für die Gesamtkomplikationsrate ein Trend zu höheren Werten bei den älteren Patienten (72 vs. 64 %, p = 0,08), wohingegen sich für schwere Komplikationen kein Unterschied ergab (17 vs. 13 %, p = 0,3) (Donat et al.
2010). Die am häufigsten genannten Komplikationen in den verschiedenen Studien waren
Ileus (2–32 %), Infektionen, besonders Pyelonephritiden (5–39 %) und weitere mit der Harnableitung verbundene Komplikationen (bis 33 %). Daneben spielen gerade im höheren Alter Verwirrtheitszustände eine Rolle, die durchaus aus den zuvor genannten Komplikationen resultieren können.
Die 30-Tage-Mortalität in der Studie von Donat et al. war bei den über 80-Jährigen 3-mal so hoch wie bei jüngeren Patienten (3,2 vs. 1,2 %). In den weiteren Studien des Reviews hatte die Mortalität eine Spannbreite von 0–11 %. Dabei wiesen Studien mit sehr niedrigen Mortalitätsraten geringe Patientenzahlen auf und bezogen sich meistens auf einen Zeitraum bis maximal 30 Tage postoperativ. 3 Studien konnten eine Korrelation zwischen dem Alter und der 90-Tage-Mortalität zeigen, die bei Patienten ≥65 Jahre 5,5 % (Boström et al.
2009), bei Patienten ≥75 Jahre 7,5 % (Zebic et al.
2005) und solchen ≥80 Jahre 11 % (Mendiola et al.
2007) betrug.
In einer Studie aus dem Jahr 2011 mit 830 Patienten zur Bedeutung der Komorbidität im Hinblick auf Morbidität und Mortalität nach
Zystektomie ergaben sich als häufigste Komorbiditäten kardiovaskuläre Erkrankungen,
Diabetes mellitus,
Adipositas, respiratorische und zerebrovaskuläre Erkrankungen sowie
Niereninsuffizienz. Signifikante Unterschiede zwischen jüngeren und älteren Patienten bestanden für
Hypertonie (38,5 vs. 57,3 %), KHK (14,8 vs. 27,1 %) und Diabetes (14,6 vs. 25,5 %) (Novotny et al.
2012).
Bestehende Komorbiditäten und höhere postoperative Komplikationsraten sprechen dafür, dass ältere Menschen in der
postoperativen Phase großer Operationen besonderer Aufmerksamkeit und Betreuung bedürfen.
Eine 2011 publizierte Studie befasste sich mit dem prognostischen Wert des Alters von Patienten, die sich einer
Zystektomie unterziehen (Chromecki et al.
2011). Ältere Patienten hatten signifikant höhere Tumorstadien, eine höhere Rezidivrate und eine höhere krankheitsspezifische Mortalität. Dies bestätigte auch eine deutsche Multicenterstudie (May et al.
2011). Sucht man nach Gründen, muss man erwähnen, dass das Intervall zwischen Diagnose und Zystektomie bei älteren Patienten häufig länger ist (Chang et al.
2003), das Ausmaß der Lymphadenektomie eher begrenzt ist und dass deutlich seltener eine neoadjuvante oder adjuvante Chemotherapie erfolgt (Shariat et al.
2009).
Andererseits belegen Studien, dass auch im hohen Alter Patienten nach
Zystektomie und Anlage einer Neoblase einen positiven Verlauf zeigen (Clark et al.
2005a,
b; Sogni et al.
2008). In einer aktuellen Arbeit von Weizer et al. (
2007) konnte gezeigt werden, dass der Karnofsky-Index des Patienten ein guter Prognosefaktor im Hinblick auf den Verlauf bei muskelinvasivem
Harnblasenkarzinom und möglichen Therapien ist.
Eine andere Problematik besteht bei der
radikalen Prostatektomie. Durch die Intention des kurativen Eingriffs als langfristig prognoserelevante Operation kommt den konkurrierenden Begleiterkrankungen sowie funktionellen Defiziten eine besondere Rolle zu. Defizite in den IADL und Komorbiditäten weisen auf eine relevante Einschränkung der Lebenserwartung hin, sodass sie in die Therapieplanung frühzeitig mit einbezogen werden sollten (Fitzpatrick
2008; Kastner et al.
2006).
Chemotherapie im Alter
Neben allgemeinen Hinweisen zur Durchführung einer Chemotherapie bei alten Patienten finden sich nachfolgend Empfehlungen für einzelne im Alter häufig auftretende Tumorerkrankungen des Urogenitaltrakts.
Systemische Therapie allgemein
Chemotherapie im Alter muss mehrere Faktoren berücksichtigen. So verändert sich die Verteilung der Kompartimente mit der Konsequenz eines um 15–20 % größeren Fettanteils. Gleichzeitig führen Alterungsvorgänge an den verschiedenen Organsystemen zu einer verminderten Stoffwechselleistung insbesondere der Nieren, was bei der Dosisberechnung entsprechender Substanzen berücksichtigt werden muss. Komorbiditäten bedingen häufig vor Therapie bereits eine medikamentöse Behandlung, sodass Wechselwirkungen im Alter häufiger zu erwarten sind. Dies ist insbesondere deswegen von Bedeutung, weil der hepatische
Metabolismus der meisten Substanzen im Alter nur unwesentlich verändert ist.
Im Bereich der hämatologischen Toxizität ist das Regenerationspotenzial, bedingt durch eine Abnahme sowohl der Stammzellpopulation selbst als auch ihrer Regenerationsfähigkeit, im Alter reduziert. Daher sollte bei Patienten über 70 Jahren bei Therapieschemata mit einer moderaten bis hohen Knochenmarktoxizität der Einsatz von Wachstumsfaktoren erwogen werden.
Gastrointestinale Toxizitäten spielen vor dem Hintergrund einer häufig bestehenden subklinischen Mangelernährung eine relevante Rolle und sollten frühzeitig durch Supportivmaßnahmen angegangen werden.
Neurotoxische Therapieschemata sollten bei Patienten mit vorbestehenden klinischen oder subklinischen Schäden nur vorsichtig und unter engmaschiger Kontrolle eingesetzt werden. Hierbei sind insbesondere Patienten mit
Diabetes mellitus unter Taxan-/Platin-haltigen Regimes zu erwähnen.
Zytostatische Therapien sind unter Berücksichtigung der Kontraindikationen auch bei älteren Patienten durchführbar. Bei der Durchführung und Planung der Therapie ist aber nicht nur die reine Toxizitätsklasse von Bedeutung, sondern auch ihre Konsequenz für die
Lebensqualität und die Kompensationsfähigkeit des Patienten. In Verbindung mit der Therapiezielplanung können besser verträgliche, wenngleich auf das Überleben nicht so wirksame Therapien vorteilhaft sein (Wildiers et al.
2003).
Systemische Therapie des Prostatakarzinoms
Die nachfolgenden Empfehlungen basieren zum einen auf der S3 Leitlinie
Prostatakarzinom und zum anderen auf den Empfehlungen der Internationalen Gesellschaft für Geriatrische Onkologie zur Therapie von älteren Patienten mit Prostatakarzinom (Droz et al.
2017; Mottet et al.
2017; Cornford et al.
2017). Weitergehende Empfehlungen finden sich in Wehling et al.
2019.
Patienten mit
Prostatakarzinom werden nicht optimal betreut, wenn das wesentliche Entscheidungskriterium das chronologische Alter des Patienten ist. Wesentlich ist die Erfassung der Komorbiditäten, des funktionellen Status und der weiteren Parameter des geriatrischen Assessments. Im Rahmen der endokrinen Therapie ist insbesondere der metabolischen Situation, der kardiovaskulären und der ossären Situation Rechnung zu tragen. Im Rahmen der systemischen Chemotherapie ist bei Vorliegen schwerer Komorbiditäten und funktioneller Einschränkungen mit einer erhöhten Toxizität und damit einem geringeren Behandlungsvorteil zu rechnen.
Aktuelle klinische Studien zeigten, dass die Effektivität neuer Substanzen (Cabazitaxe
l und Arbiraterone
) nicht vom chronologischen Alter, sondern vom guten Performance-Status (ECOG 0–1) abhängig ist (de Bono et al.
2010,
2011).
In der Therapie des fortgeschrittenen Prostatakarizinoms wird zunächst unterschieden, ob es sich um ein hormonsensitives oder nicht-hormonsensitives
Prostatakarzinom handelt.
Hormonsensitives
Prostatakarzinom:
Bei Patienten in gutem Allgemeinzustand (ECOG 0-1) mit metastasiertem (M1), hormon-sensitiven Prostatakarzinom kann zusätzlich zur Androgendeprivation eine Chemotherapie mit Docetaxel oder eine ergänzende antihormonelle Therapie mit Abirateron (plus Prednison/Prednisolon) empfohlen werden. Patienten, die nicht für eine Kombinationsbehandlung in Frage kommen, soll eine Androgendeprivation empfohlen werden. Der Vorteil im Gesamtüberleben für die Chemotherapie zusätzlich zur Androgenprivation beträgt 13–15 Monate, wird aber zu Lasten von z. T. auch schweren Nebenwirkungen erkauft. Der Vorteil im 3-Jahresüberleben zwischen einer Androgendeprivation plus Arbiraterone und einer alleinigen Androgendeprivation betrug 17 % (83 % vs. 66 %).
Bei Patienten mit symptomatischer progredienter Erkrankung unter medikamentöser
Kastration folgende für eine Therapieentscheidung ausschlaggebende Faktoren sollen bedacht werden:
Ein
Geriatrisches Assessment ist zur Entscheidungsfindung vor Einleitung einer tu-morspezifischen Therapie bei multimorbiden Patienten über 70 Jahre hilfreich. Ggf. kann durch geriatrische Interventionen der Allgemeinzustand des Patienten verbessert werden und damit die therapeutische Belastbarkeit.
Patienten mit metastasierter, kastrationsresistenter, symptomatischer progredienter Erkrankung und gutem Allgemeinzustand soll als Erstlinientherapie eine systemische Therapie empfohlen werden. Zur Option stehen: Arbiraterone, Enzalutamid, Docetaxel, Carbacitaxel und bei ausschließlich ossärer Metastasierung Radium 223.
Patienten mit kastrationsresistenter, symptomatischer, progredienter Erkrankung und reduziertem Allgemeinzustand (ECOG ≥ 2, Karnofsky-Index < 70) soll eine symptombezogene Therapie angeboten werden, ggf. ergänzt um eine tumorspezifische Therapie, wobei Nutzen und Schaden kritisch abzuwägen sind.
Systemische Therapie des Nierenzellkarzinoms
Die gegenwärtig empfohlenen systemischen Behandlungen des fortgeschrittenen
Nierenzellkarzinoms sind bisher nicht speziell bei alten Patienten geprüft worden. Retrospektive Analysen von Subgruppen der großen klinischen Studien für die neuen Substanzen Avelumab (Motzer et al.
2019), Axitinib, Pembrolizumab (Rini et al.
2019), Sorafenib, Sunitinib und Temsirolimus sind nur bedingt aussagefähig. Sie legen nahe, dass die Effektivität der Therapie, sprich das progressionsfreie und das Gesamtüberleben bei jungen und alten Patienten, in der Regel solche älter als 65 Jahre, nicht unterschiedlich ist, und dass auch die Toxizitätsrate nicht wesentlich erhöht ist. Allerdings handelt es sich um selektionierte alte Patienten. Zudem sind die Daten für sehr alte, über 80-jährige Patienten sehr begrenzt. Eine aktuelle Zusammenfassung erfolgte durch Kanesvaran et al. (
2018) im Namen der Internationalen Gesellschaft für Geriatrische Onkologie (SIOG)().
Systemische Therapie des Harnblasenkarzinoms
Im Rahmen operativer Eingriffe bei alten, über 70-jährigen Patienten mit muskelinvasivem
Harnblasenkarzinom ist der Performance-Status (ECOG- oder Karnofsky-Performance-Status) von herausragender Bedeutung für das Überleben (Weizer et al.
2007). Zur systemischen Chemotherapie bei alten Patienten gibt es nur sehr wenige Daten. Das klassische MVAC-Protokoll ist relativ toxisch, eine Kombinationschemotherapie, z. B. mit Cis- oder Carboplatin und Gemcitabine, oder eine Monochemotherapie, z. B. mit Carboplatin, Taxan, Gemcitabine oder Vinflunine, ist, wenn die Indikation zur palliativen Chemotherapie gestellt wird, zu präferieren. Der Stellenwert neuer zielgerichteter Substanzen ist derzeit noch unklar (Bamias et al.
2006). Seitens Galsky werden Empfehlungen gegeben, wie ältere Patienten behandelt werden können, da die Behandlung alter und sehr alter Patienten trotz sehr begrenzter Studiendaten ein häufiges klinisches Problem darstellt (Galsky
2015).
Strahlentherapie im Alter
Die Toxizität einer Radiotherapie
ändert sich mit zunehmendem Lebensalter nur gering. In der Planung der Therapie spielen aber bei den meist ambulanten Therapiekonzepten soziale Aspekte wie das soziale Netzwerk und verfügbare Unterstützung eine wesentliche Rolle. Defizite im IADL-Bereich und gleichzeitig nicht ausreichend vorhandene Kompensation durch soziale Unterstützung sind dabei therapielimitierend. Eine Übersicht findet sich bei Wendt (Wendt
2002).
Toxizitäten bei Bestrahlungen mit abdominellen Feldern können analog der Chemotherapie vorbestehende nutritive Defizite durch verminderte Reserven klinisch relevant werden lassen (Ausili-Cefaro und Olmi
2001).