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DGIM Innere Medizin
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Publiziert am: 06.01.2015

Angehörigengespräch

Verfasst von: Daniel Wiswede und Thomas Münte
Angehörige sollten bei der Behandlung schwerwiegender Erkrankungen mit einbezogen werden. Sie sind nicht nur Betroffene, sondern auch Unterstützer des Patienten. Angehörige haben einen erheblichen Einfluss auf die Krankheitsverarbeitung, die Compliance und den Verlauf der Therapie und sollten daher im Behandlungskonzept Berücksichtigung finden. Die Einbindung der Angehörigen kann zudem auch dazu führen, dass Patient und Angehörige leichter über die belastende Krankheitssituation ins Gespräch kommen.

Einleitung

Angehörige sollten bei der Behandlung schwerwiegender Erkrankungen nicht ausgeschlossen werden. Sie sind nicht nur Betroffene, sondern auch Unterstützer des Patienten. Angehörige haben einen erheblichen Einfluss auf die Krankheitsverarbeitung, die Compliance und den Verlauf der Therapie und sollten daher im Behandlungskonzept Berücksichtigung finden. Die Einbindung der Angehörigen kann zudem auch dazu führen, dass Patient und Angehörige leichter über die belastende Krankheitssituation ins Gespräch kommen. Im folgenden Abschnitt soll vor allem auf die Gesprächssituationen eingegangen werden, in denen die Angehörigen Gesprächspartner und Unterstützer des Patienten sind. Anschließend wird kurz auf das Gespräch mit Angehörigen als Betroffene eingegangen werden.

Die Angehörigen als Unterstützer des Patienten

Durch hohe Arbeitsbelastung im Klinikalltag steht für Gespräche mit Angehörigen nur wenig Zeit zur Verfügung; Angehörige werden sogar oftmals als Störfaktor wahrgenommen. Sie unterbrechen den Tagesablauf, beanspruchen wertvolle Zeit, stellen Fragen, kritisieren, fordern Aufmerksamkeit und wollen oft ihren eigenen Kummer loswerden. Viele der Konflikte beruhen auf einer ungünstigen Kommunikation zwischen medizinischem Personal und Angehörigen. Versuchen Sie daher, die unterstützenden Seiten der Angehörigen zu bedenken, bevor Sie mit Ihnen ins Gespräch kommen. Die Angehörigen kennen den Patienten viel länger und viel besser als Sie und waren wahrscheinlich in den bisherigen Verlauf der Behandlung, in die Pflege und die Medikamentengabe des Patienten eingebunden. Überlegen Sie vor dem Gespräch, wie Sie sich in Situationen fühlten, in denen es um das Wohlbefinden einer Ihnen wichtigen Person ging. Stellten Sie Fragen? Wollten Sie alles ganz genau wissen? Waren Sie übermäßig skeptisch oder besserwisserisch? Haben Sie vielleicht sogar die Literatur bemüht, um die Aussage der Experten zu überprüfen und weiteres Wissen zu erwerben? Durch diese vorbereitenden Gedankengänge wird es Ihnen leichter gelingen, sich in die Situation der Angehörigen zu versetzen und ihr „störendes“ Verhalten als aus Sorge um den Patienten motiviert zu verstehen. Bedenken Sie auch, dass die Angehörigen im Gegensatz zu Ihnen nicht an die Krankenhausumgebung gewöhnt sind. Der erste Anblick des Patienten, der vielleicht durch vielerlei Geräte, Verbände und Schläuche kaum wiederzuerkennen ist, mag auf die Angehörigen verstörend gewirkt haben. Auch kann Vorwissen über kulturelle und ethnische Besonderheiten der Angehörigen hilfreich sein, um Gesprächsbarrieren gar nicht erst entstehen zu lassen und so das Potenzial der Angehörigen für die erfolgreiche Behandlung des Patienten voll auszuschöpfen. Auch für Sie als Arzt wird der Umgang mit den Angehörigen deutlich weniger Spannungen bringen, wenn es Ihnen gelingt, diese als Behandlungspartner wahrzunehmen.
Im Kap. Überbringen schlechter Nachrichten wird erläutert, dass das Einbeziehen von Angehörigen sehr hilfreich sein kann. Diese können die emotionale Reaktion des Patienten zusammen mit dem Arzt auffangen und bei der Vermittlung behandlungsrelevanter Informationen den Patienten beim Verstehen der Lage unterstützen. Angehörige wünschen vor allem, vom Arzt ausreichend über den Gesundheitszustand des Patienten informiert zu werden. Benutzen Sie dazu eine patientengerechte Sprache, verzichten Sie auf Fachausdrücke und verwenden Sie stattdessen gebräuchliche, dem Angehörigen vertraute Worte. Bagatellisieren Sie nicht, auch wenn es sich um gut behandelbare Erkrankungen handelt. Patienten und Angehörige haben weniger elaborierte Krankheitskonzepte als Ärzte; Krebs wird beispielsweise fast immer als eine elementare Lebensbedrohung angesehen, auch wenn dieses im konkreten Fall unzutreffend sein mag. Geben Sie nicht nur dem Patienten, sondern auch den Angehörigen ausreichend Gelegenheit, Fragen zu stellen. Ertragen Sie Gesprächspausen, die durch emotionale Reaktionen der Angehörigen zustande kommen, und füllen Sie diese nicht, indem Sie ihren Gesprächsanteil erhöhen. Informieren Sie die Angehörigen umgehend, wenn sich wesentliche Änderungen am Zustand des Patienten ergeben. Klären Sie, wer die Informationen an die Angehörigen weitergibt, da diese es als belastend empfinden, wenn sie mehrere Ansprechpartner haben und es zu widersprüchlichen Informationen kommt.
Nutzen Sie die Anwesenheit der Angehörigen, um krankheitsbeeinflussende Verhaltensweisen zu erkennen. Beispielsweise können Angehörige bei chronischen Schmerzen dem Patienten Inaktivität und Schonhaltungen nahelegen. Auch können die Schmerzen das Sozialverhalten verändern, indem sich Aufgaben, Rollenverteilungen und Zuwendungen innerhalb der Familie verändern. So kann das Abnehmen von Alltagsaufgaben durch die Angehörigen die Schmerzzustände des Patienten verstärken, während soziale Integration und emotionale Unterstützung zu einer Schmerzverringerung führen können (Wilz und. Meichsner 2012). Auch kann ein zu starkes Schutzverhalten, übersteigerte Besorgnis der Angehörigen, vermeidendes oder dominantes Verhalten und ein Ungleichgewicht in der Paarbeziehung das Verbleiben des Patienten in der Krankenrolle bewirken und somit den Krankheitsverlauf negativ beeinflussen. Versuchen Sie, diese familiären Interaktionsmuster im Gespräch mit den Angehörigen zu erkennen. Verdeutlichen Sie, dass kleine Änderungen in einigen Verhaltensweisen sich positiv auf den Erkrankungsverlauf auswirken können.
Der Arzt hat den Angehörigen gegenüber keine gesetzlich festgeschriebene Informationspflicht; die Schweigepflicht gegenüber dem Patienten darf nicht ohne dessen Zustimmung umgangen werden. Daher sollte das Angehörigengespräch im Beisein des Patienten die Regel sein. Gelegentlich kann dessen Gesundheitszustand, z. B. Beatmung auf der Intensivstation, die Gesprächsteilnahme verhindern. Hier kommt den Angehörigen bei der Feststellung des Patientenwillens eine besondere Bedeutung zu1. Sollte das Angehörigengespräch ohne Beisein des Patienten stattfinden, so sollten Sie die Vorschläge, die im Kap. Überbringen schlechter Nachrichten erläutert sind, berücksichtigen. Verzichten sie auf jeden Fall auf „Flurgespräche“; die Entstehung einer förderlichen Gesprächsatmosphäre und ein empathischer Umgang mit den Angehörigen ist so nicht möglich, und der Umgang mit den Angehörigen kann nachhaltig gestört werden. Sollte der Patient durch medizinische Maßnahmen, Geräte und Verbände stark in seinem Äußeren verändert sein, so mildern Sie den Schock des ersten Anblicks, indem Sie die Angehörigen vorinformieren und gegebenenfalls bei der ersten Begegnung mit dem Patienten dabei sind.
Die meisten Angehörigen wollen in den Behandlungsprozess mit einbezogen werden und über Behandlungsmöglichkeiten informiert werden. Auch die Ärzte stehen der Einbeziehung von Angehörigen in die Entscheidungsfindung eher positiv gegenüber, obwohl eine französische Studie zeigte, dass Familienmitglieder nur in ca. 40 % der intensivmedizinischen Entscheidungen mit einbezogen wurden. Machen Sie den Angehörigen in einer stellvertretenden Entscheidungssituation beim Gesprächsbeginn deutlich, dass es nicht um eine Entscheidung des Angehörigen, sondern um die Ergründung des Patientenwillens geht. Betonen Sie, dass die beratende Funktion der Angehörigen eine sehr wertvolle Informationsquelle für das behandelnde Team darstellt. Nehmen Sie jedoch den Angehörigen auch die Last der Verantwortung für therapierelevante und eventuell lebensentscheidende Entscheidungen. Nicht die Angehörigen, sondern allein das Behandlungsteam und der zuständige Arzt tragen die medizinisch-therapeutische Verantwortung. Fassen Sie zum Ende des Gesprächs die wesentlichen Punkte noch einmal zusammen und klären Sie das weitere Vorgehen.
Es geschieht gelegentlich, dass Angehörige den Patienten vor der Wahrheit und der damit verbundenen emotionalen Belastung schützen wollen. Zeigen Sie Verständnis für dieses Bedürfnis der Angehörigen. Weisen Sie jedoch anschließend darauf hin, dass der Patient das Recht hat, Fragen bezüglich seiner Gesundheit wahrheitsgemäß beantwortet zu bekommen, auch wenn dieses zu emotionalen Belastungen führt. Verdeutlichen Sie, dass Sie gerade in dieser besonders schwierigen Situation das Selbstbestimmungsrecht des Patienten achten müssen, auch wenn dieses den Patienten belasten wird. Wahrscheinlich machen sich die Angehörigen deutlich mehr Sorgen um den emotionalen Zustand des Patienten, als dieser es selbst tut. Auch das Recht auf Nichtwissen über den eigenen Erkrankungszustand kann nur vom Betroffenen selbst und nicht von seinen Angehörigen eingefordert werden. Weisen Sie auch darauf hin, dass der Patient die Ungewissheit über seinen Zustand eventuell als noch belastender empfindet als die Gewissheit einer schweren Erkrankung. Die Sachlage bei minderjährigen und fraglich einsichtsfähigen Patienten wird hier nicht weiter erläutert und kann in Gaibler (2009) nachgelesen werden.
Das Gespräch mit den Angehörigen kann auch durch Misstrauen gegenüber der Behandlungseffektivität erschwert sein. Gerade hier ist vom Arzt eine besondere Professionalität erforderlich. Versuchen Sie, die Differenzen zu erkennen und zu verbalisieren. Bedenken Sie, dass die Angehörigen sich in einer emotionalen Ausnahmesituation befinden. Dies wird es Ihnen erleichtern, eventuell vorkommenden Angriffen auf die Art der Behandlung und das Behandlungsteam ruhig und sachlich zu begegnen. Überraschenderweise wird die Zufriedenheit der Angehörigen mit einer Behandlung weniger vom Ausgang der Behandlung beeinflusst als von der Qualität der Interaktion mit dem Behandlungsteam. Angehörige verstorbener Intensivpatienten berichteten sogar positivere Erfahrungen mit der intensivmedizinischen Betreuung als Angehörige überlebender Patienten, weil erstere mehr in die Behandlung eingebunden waren und mehr Unterstützung erfuhren.

Die Angehörigen als Betroffene

Nicht nur die Patienten selbst, sondern auch deren Angehörige sind Betroffene. Zum einen kann die Erkrankung einer nahestehenden Person folgenreiche zeitliche und finanzielle Folgen haben, die durch Betreuung und Pflege entstehen können. Die Belastung der Angehörigen geht oft jedoch auch mit psychosomatischen Störungen einher; häufig werden Depressionen, Angst, Schlafstörungen, Ess- und Verdauungsstörungen und Erschöpfungszustände berichtet. Die emotionale Belastung beruht zumeist auf Gefühlen der eigenen Hilflosigkeit, des Kontrollverlustes und auf der Angst vor dem Verlust der erkrankten Person. Es ist durchaus möglich, dass Angehörige ihre Sorgen nicht offen ansprechen, da sie das medizinische Personal nicht noch zusätzlich belasten und dem Patienten Vorrang gewähren wollen. Gehen Sie daher im Angehörigengespräch auch auf die aktuelle Situation und die Hilflosigkeit der Angehörigen ein. Gerade diese emotionale Unterstützung wird vom Angehörigen als Entlastung erlebt. Ermutigen Sie die Angehörigen, trotz der schwierigen Lage des Patienten die eigenen psychischen Bedürfnisse, ihre Gesundheit und das soziale Umfeld nicht zu vernachlässigen, da so das Risiko einer psychischen Erkrankung verringert wird. Geben Sie den Angehörigen Informationsmaterial mit auf dem Weg, das nicht nur die Belange des Patienten, sondern auch die Bedürfnisse des Angehörigen thematisiert2. Bieten Sie niederschwellige Kontaktmöglichkeiten für Krisensituationen an. Verweisen Sie auch auf die Möglichkeit von Pflegeseminaren und Psychoedukationsprogrammen für Angehörige. Auch nach dem Tod des Patienten muss die Kommunikation mit den Angehörigen nicht zwangsläufig zu Ende sein. Ein rückblickendes Gespräch auf den Verstorbenen kann ein wichtiger Teil der Trauerbewältigung sein.
Hinweis auf weiterführende Literatur: Seit einigen Jahren werden vor allem in der Intensivmedizin vermehrt Konzepte diskutiert und erprobt, um die Einbindung der Angehörigen zu professionalisieren. Eine deutschsprachige Übersicht bieten Janssens und Graf (2009) und Winkler (2008). Eine systematische Analyse der Häufigkeit typischer Angehörigenfragen in der Intensivmedizin ist in Peigne et al. (2011) zu finden.
Fußnoten
1
siehe Bundesgesetzblatt Jahrgang 2009 Teil i Nr. 48, Drittes Gesetz zur Änderung des Betreuungsrechts
 
2
Die Broschüre „Entlastung für die Seele – Ein Ratgeber für pflegende Angehörige“ der Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen e.V. bietet ein gutes Beispiel, zu finden auf http://www.bagso.de/fileadmin/Aktuell/Publikationen/2012/Entlastung_fuer_die_Seele_Ratgeber_pflegende_Angehoerige_3._Auflage.pdf
 
Literatur
Gaibler T (2009) Können Angehörige der Patientin die Aufklärung durch den Arzt verhindern? Gynäkologe 42:579–584CrossRef
Janssens U, Graf J (2009) Angehörigenkonferenz. Intensivmedizin 47:35–42CrossRef
Peigne V, Chaize M, Falissard B, Kentish-Barnes N, Rusinova K, Megarbane B, Bele N, Cariou A, Fieux F, Garrouste-Orgeas M, Georges H, Jourdain M, Kouatchet A, Lautrette A, Legriel S, Regnier B, Renault A, Thirion M, Timsit JF, Toledano D, Chevret S, Pochard F, Schlemmer B, Azoulay E (2011) Important questions asked by family members of intensive care unit patients. Critical Care Med 39(6):1365–1371CrossRef
Wilz G, Meichsner F (2012) Einbezug von Familienangehörigen chronisch Kranker in die Arzt-Patient Kommunikation. Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz 55(9):1125–1132PubMedCrossRef
Winkler E (2008) Angehörige auf der Intensivstation – Besucher, Helfer oder Traumatisierte? In: Junginger T, Perneczky A, Vahl C-F, Werner C (Hrsgs) Grenzsituationen in der Intensivmedizin: Entscheidungsgrundlagen. Springer Medizin Verlag Heidelberg, Berlin/Heidelberg