Definition
Eine chronische venöse Insuffizienz (CVI) beschreibt den Zustand von krankhaften lokalen Gewebsveränderungen infolge eines chronischen Blutrückstaus in den Beinvenen mit Prädilektionsort in der Innenknöchelregion. In schweren Fällen sind nicht nur die Haut bis hin zum chronischen Ulcus cruris venosum, sondern auch das darunter gelegene Gewebe einschließlich Faszien und Muskulatur sowie das Sprunggelenk in den Krankheitsprozess einbezogen.
Pathophysiologie
Die häufigste Ursache einer CVI sind Venenkrankheiten. Voraussetzung für den zugrunde liegenden chronischen Blutrückstau
ist immer eine Insuffizienz der tiefen, intrafaszial gelegenen Venen, also der Leitvenen. Auslöser können Krankheiten der tiefen oder der oberflächlichen Venen sein. Die dominierende Grundkrankheit der oberflächlichen (extrafaszialen) Venen ist die primäre Varikose
, vor allem die schwere Stammvarikose, mit konsekutiver sekundärer Schädigung der Klappen im tiefen Venensystem. Als Grundkrankheiten des tiefen (intrafaszialen) Venensystems disponieren eine primäre Avalvulie (selten) und eine sekundäre Venenklappenschädigung nach Thrombose (häufig) (Tab.
1).
Tab. 1
Venöse Ursachen einer chronischen venösen Insuffizienz. (Modifiziert nach Hach-Wunderle V (
2013) Gefäße. In: Renz-Polster H, Krautzig S (Hrsg) Basislehrbuch Innere Medizin. Urban und Fischer. 5. Aufl., S. 242)
Primärer Schaden (angeboren, erworben) |
Oberflächlich (extrafaszial):
Primäre Stammvarikose der Vena saphena magna |
Tief (intrafaszial):
Sekundäre Leitveneninsuffizienz infolge eines postthrombotischen Syndroms |
Initial nicht betroffene Venen |
Tief (intrafaszial)
|
Oberflächlich (extrafaszial)
|
Sekundärer Schaden (durch chronische Volumenüberlastung) |
Tief (intrafaszial):
Sekundäre Leitveneninsuffizienz infolge dekompensierter Stammvarikose |
Oberflächlich (extrafaszial):
Sekundäre Stammvarikose der Vena saphena magna |
Seltene Ursachen einer CVI sind Krankheitszustände, bei denen der chronische Blutrückstau auf einer ausgeprägten, dauerhaften Immobilität oder Funktionseinschränkung der peripheren Muskel- und/oder Gelenkpumpen beruht. Paradebeispiele sind das arthrogene Stauungssyndrom
bei chronischer Arthritis mit Einsteifung im oberen Sprunggelenk (dann einseitige CVI) und die eingeschränkte Beweglichkeit bei
Adipositas permagna
(dann beidseitige CVI).
Unabhängig von der zugrunde liegenden Krankheit wirkt sich ein chronischer Blutstau in den großen Leitvenen über die Venolen bis in die Kapillaren zurück aus. Es kommt zur lokalen Ausbildung eines eiweißreichen Ödems und zur Expression von pathologischen Matrixmolekülen. Das führt zu einer Proliferation von Bindegewebszellen und setzt eine zunehmende Fibrosierung in Gang. Dadurch verschlechtern sich die
Diffusion von Sauerstoff und Stoffwechselprodukten (Tab.
2). Aus dieser Situation heraus resultiert im Laufe von Jahren und Jahrzehnten eine Gewebsinduration, die zunächst die Haut betrifft. Prädilektionsort für die Hautschädigung ist die Knöchelregion, vor allem um den Innenknöchel herum. In schweren Krankheitsfällen werden im Verlauf auch die subkutan liegenden Faszien und Muskelkompartimente, ja sogar das Sprunggelenk (arthrogenes Stauungssyndrom) in den Krankheitsprozess einbezogen.
Tab. 2
Veränderungen der Mikrozirkulation bei chronischer venöser Insuffizienz. (Modifiziert nach Hach W, Mumme A, Hach-Wunderle V (
2013) VenenChirurgie. Schattauer. 3. Aufl., S. 336)
- Dilatation, Elongation, Schlängelung der Kapillaren |
- Reduktion der Kapillardichte |
- Verringerte Flussrate in Nutritionskapillaren |
- Halo-Formationen mit Mikroödem |
- Perikapilläre Fibrinmanschetten |
- Verminderte Sauerstoffdiffusion |
- Vermehrter Gehalt an Fibrinogen in Lymphflüssigkeit |
- Hyperfibrinogenämie mit Zunahme der Viskosität, Erythrozytenaggregate |
- Vermehrung von Plasminogen-Aktivator-Inhibitor (PAI) |
Epidemiologie
Die CVI gehört zu den häufigsten und kostenaufwendigsten Krankheiten in Mitteleuropa. Die Kosten lagen 2008 bei 2,6 % des gesamten Gesundheitsbudgets (AWMF-Leitlinie
2008). Jeder sechste Mann und jede fünfte Frau in Deutschland hat nach der Bonner Venenstudie eine chronische Veneninsuffizienz (Rabe et al.
2003).
Die
Prävalenz des Ulcus cruris venosum
ist altersabhängig. Sie liegt bis zum 60. Lebensjahr unter 1 % und steigt ab dem 80. Lebensjahr auf bis zu 3 % an. Mit einer medianen Persistenz von neun Monaten und einer jährlichen Rezidivrate von 6–15 % ist ein erhebliches sozioökonomisches Problem gegeben. Die häufigste Ursache einer CVI ist – entgegen früherer Annahmen – nicht das postthrombotische Syndrom, sondern eine primäre Varikose; bei Patienten mit Ulcus cruris venosum lag in 45 % der Fälle eine Insuffizienz des oberflächlichen Venensystems und in 12 % eine Insuffizienz des tiefen Venensystems zugrunde (Ruckley et al.
2002).
Klinik
Infolge des verminderten Blutrückstroms in den tiefen Venen dominiert eine Schwellungsneigung der Knöchelregion und des distalen Unterschenkels. Im weiteren Verlauf tritt die regionäre Gewebssklerose mehr und mehr in den Vordergrund als Dermatoliposklerose und bei Einbeziehung der Fascia cruris als Dermatolipofasziosklerose. Dabei entstehen dann Hyperpigmentierungen, Atrophie-blanche-Läsionen und schließlich Ulzerationen. Eine große Bedeutung für den weiteren Krankheitsverlauf hat eine gleichzeitig vorhandene Insuffizienz der Cockettschen Perforansvene oberhalb des Innenknöchels. Durch ihren kurzen geradlinigen Verlauf von den tiefen Leitvenen in das oberflächliche System induziert sie bei jedem Schritt des Patienten einen Rammeffekt auf die Haut mit mechanischer Gewebsirritation. Über diesem „blow out“ kann sich ein Ulcus cruris besonders leicht entwickeln. Eine schwere und irreversible Komplikation der CVI ist die zunehmende Einsteifung im oberen Sprunggelenk mit konsekutiver Einschränkung der Wadenmuskelpumpfunktion.
Die Beschwerden bei einer CVI sind vielseitig, oft unspezifisch und mit den objektivierbaren Befunden nicht korreliert. Typisch sind Stauungs- und Spannungsgefühle, Juckreiz und Dysästhesien (vorwiegend am Unterschenkel), mitunter auch nächtliche Wadenschmerzen. Ein venöses Ulkus verursacht meist
Schmerzen; es findet sich in der Regel oberhalb des Innenknöchels, in 20 % der Fälle aber an anderen Stellen des Unterschenkels. Typisch sind Fibrinbeläge. Beim arthrogenen Stauungssyndrom entwickelt sich eine Spitzfußstellung, die ein normales Abrollen bei Laufen unmöglich macht.
Diagnostik
Die Untersuchung erfolgt im Stehen (Varikose?) und im Liegen (Hautinduration?, Pigmentstörungen?, Cockettsche Perforansvarikose?, Sprunggelenksbeweglichkeit?) und erfordert immer eine Umfangsmessung der Beine.
Klinische Einteilungsprinzipien der CVI
Für die Erfassung des Schweregrads der CVI wurden verschiedene Klassifikationen geschaffen. Am praktikabelsten ist die Einteilung nach Widmer (Widmer et al.
1981). Wesentlich detaillierter ist die Einteilung nach dem CEAP-Prinzip von Kistner (
1995); sie eignet sich u. a. für die internationale Verständigung bei Forschungsprojekten. Die Einteilung nach Syndromen von Hach und Hach-Wunderle (
1994) trägt der Progredienz der Krankheit Rechnung und nimmt Bezug auf die operativen Indikationen.
Apparative Diagnostik
Die Duplexsonographie ist unerlässlich zur Festlegung der venösen Grundkrankheit und ihres Kompensationsgrades. Darüber hinaus sind Pathologika außerhalb der venösen Strombahn erkennbar. Die Phlebographie wird insbesondere bei schwierigen differenzialtherapeutischen Erwägungen ergänzend eingesetzt. Besonders vorteilhaft ist die übersichtliche Dokumentierbarkeit der Befunde. Die Magnetresonanz- und die Computertomographie kommen in Einzelfällen zur Anwendung, z. B. für die Beurteilung der Faszien und Muskeln beim chronischen venösen Kompartmentsyndrom.
Mit der Venenverschlussplethysmographie (VVP) (nicht invasiv) werden Kapazität und Drainage des Venensystems ermittelt. Die Phlebodynamometrie (invasiv) gibt noch detaillierter als die VVP Auskunft über die Pumpfunktion und über die globale Venenklappenfunktion. Sie eignet sich vor allem für die Erfolgsbeurteilung bei geplanter Ausschaltung einer sekundären Stammvarikose bei postthrombotischem Syndrom.
Mit der Photoplethysmographie oder Lichtreflexionsrheographie (LRR) (nicht invasiv) werden im Arbeitsversuch Volumenverschiebungen der Hautvenenplexus beurteilt. Mit mikrozirkulatorischen Methoden, u. a. der Kapillarmikroskopie, werden Zahl, Aussehen und Funktion der Hautkapillaren beurteilt.
Eine Kompartmentdruckmessung am Unterschenkel kann beim chronischen Kompartmentsyndrom mit schweren, therapieresistenten, z. B. zirkulären Ulzera zur chirurgischen Therapieplanung beitragen.
Differenzialdiagnostik
Die Differenzialdiagnostik erstreckt sich auf
Ödeme anderer Genese. Bei einseitigem Befall kommen vor allem posttraumatisches oder postoperatives Ödem sowie primäres und sekundäres
Lymphödem in Betracht. Bei beidseitigem Befall ist an hydrostatische Ödeme und an das Myxödem zu denken; darüber hinaus sind internistische Krankheiten mit systemischen Ödemen auszuschließen. Das
Lipödem ist in der Regel ebenfalls beidseitig angelegt, aufgrund seiner unterschiedlichen Pathophysiologie (Fettgewebsvermehrung) jedoch klinisch leicht zu differenzieren.
Therapie
Konservative und begleitende Maßnahmen
Eine CVI lässt sich bessern, ist aber nicht heilbar und bedarf deshalb der lebenslangen ärztlichen Betreuung. Die Kompressionstherapie steht absolut im Vordergrund. Bei akuter Krankheit (z. B. florides Ulcus cruris) wird ein Kompressionsverband angelegt, nach Abheilung dann ein medizinischer Kompressionsstrumpf (in der Regel Klasse II, wadenlang). Bei ausgeprägter CVI mit persistierendem Ödem trotz Kompression kann sich eine zusätzliche intermittierende pneumatische Kompression vorteilhaft auswirken.
Langes Stehen und Sitzen sollten möglichst vermieden werden, ebenso eine starke Hitzeeinwirkung der betroffenen Extremität. Kalte balneologische Maßnahmen wirken sich dagegen günstig auf die Zirkulation aus. Zur Hautpflege sollten pH-neutrale Produkte ohne Konservierungsstoffe angewandt werden (CAVE: hohe Allergiegefahr bei CVI). Übergewicht ist ungünstig, sportliche Aktivität vorteilhaft. Günstige Sportarten mit dynamischer Belastung sind u. a. Schwimmen, Walking und Radfahren.
Operation, endoluminale Ablation und Sklerosierung
Wenn möglich sollte die zugrunde liegende Venenkrankheit ausgeschaltet werden, um eine Progredienz der Erkrankung zu verhindern. Das ist bei einer primären Varikose gut realisierbar. Hingegen sind die invasiven Behandlungsmöglichkeiten beim postthrombotischen Syndrom von vornherein eingeschränkt und bedürfen einer sehr sorgfältigen Nutzen-Risiko-Abwägung durch einen erfahrenen Venenspezialisten.
Die Behandlungsmethode als solche zum Ausschalten einer primären Varikose ist eher von untergeordneter Bedeutung. Es kommen operative und endoluminale Verfahren in Betracht, in Einzelfällen auch die Schaumverödung. Funktionsfähige Venenabschnitte sollten belassen werden. Kleinere Varizen lassen sich anschließend flüssig veröden.
Das chronische Ulcus cruris venosum und das chronische venöse Kompartmentsyndrom bedürfen spezieller Operationsverfahren (Hach et al.
2013), auf die hier nicht eingegangen wird.
Medikation
Bei ausgeprägter Schwellung infolge CVI können initial kurzfristig
Diuretika eingesetzt werden. Ödemprotektiva wie Aescin und Ruscusglykoside sind in ihrer therapeutischen Wirksamkeit umstritten, da nicht ausreichend belegt. Flavonoide (Jantet
2002) und Rosskastanienextrakte (Pittler und Ernst
2006) haben sich bei der CVI in Studien als wirksam erwiesen, können aber eine Kompressionstherapie nicht ersetzen.
Verlauf und Prognose
Die CVI ist eine chronische Krankheitsentität. Eine zugrunde liegende primäre Varikose ist meist prognostisch günstiger als ein
postthrombotisches Syndrom. Nach Sanierung einer primären Varikose heilt ein begleitendes Ulcus cruris oft schnell ab und die Rezidivgefahr sinkt. Der weitere Krankheitsverlauf hängt dann davon ab, wie ausgeprägt die (oft parallel bestehende) sekundäre Schädigung der Leitvenen ist. Dem postthrombotischen Syndrom liegt ja definitionsgemäß eine Schädigung der Leitvenen zugrunde und wenn diese ausgeprägt ist, sind korrigierende Maßnahmen am Gefäß selbst so gut wie nicht möglich. Nur in ausgewählten Ausnahmefällen kann einmal ein Venenklappenersatz erfolgversprechend sein.
Besondere Aspekte
Ulcus cruris venosum
Beim venösen Ulcus cruris handelt es sich um eine chronische Wunde infolge der CVI. Es tritt spontan oder nach einem leichten mechanischen Trauma auf und vergrößert sich schnell. Gewöhnlich liegt es in der Innenknöchelregion und ist recht schmerzhaft. Nach Abklärung der Grundkrankheit erfolgt die sofortige Therapie mit lokalen (feuchten) Wundauflagen und einem Kompressionsverband.
Wenn ein Ulkus innerhalb von spätestens sechs Monaten nicht zur Abheilung gebracht werden kann, ist eine chirurgische Therapie zu erwägen. Die Rezidivrate eines Ulcus cruris venosum ist hoch; sie beträgt bis zu 50 % innerhalb von fünf Jahren (Hach et al.
2013). Bei einem therapieresistenen Ulkus ist differenzialdiagnostisch v. a. auch an eine Neoplasie zu denken. Die wichtigsten Differenzialdiagnosen sind in Tab.
3 aufgeführt.
Tab. 3
Differentialdiagnosen des Ulcus cruris venosum. (Modifiziert nach Hach W, Mumme A, Hach-Wunderle V (
2013) VenenChirurgie. Schattauer. 3. Aufl., S. 346)
Ulcus cruris arteriosum
| |
Ulcus cruris hypertonicum (Martorell) | Bei Hypertonus, meist beidseitig am Unterschenkel außen, oft mit Livedo racemosa, extrem schmerzhaft |
| Multiple erbsen- bis münzgroße Geschwüre am mittleren Unterschenkel, petechiale Einblutungen, zentrale Nekrosen |
Pyoderma gangraenosum
| Unregelmäßig begrenztes Geschwür mit lividem Randsaum am Unterschenkel, schnelle Vergrößerung, sehr schmerzhaft |
Neuropathisches Ulkus (Malum perforans) | Obligate Sensibilitätsstörung, z. B. bei Diabetes mellitus, Nervenkrankheiten; Lokalisation an Fußsohle, schmerzlos |
| Diabetes mellitus als Prädisposition, gelb-bräunliche Herde am Unterschenkel außen |
Neoplastisches Ulkus | Bösartig (u. a. Plattenepithelkarzinom, Sarkom, Lymphom) oder gutartig (u. a. Hämangiom, Histiozytom) mit Exulzeration |
Ulcus cruris infectiosum
| |
Exogenes Ulkus | Bedingt durch physikalische oder chemische Schäden, Traumata, Artefakte |
Hämatopathogene Ulzera | Bei Sichelzell- und Kugelzellanämie, Thalassämie, essenzieller Thrombozytose etc. |
Ulzera durch Arzneimittel oder metabolische Ursachen | Unter Hydroxyureatherapie, bei Amyloidose, Gicht etc. |