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DGIM Innere Medizin
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Publiziert am: 14.03.2016

Diabetische Neuropathie

Verfasst von: Ralf Lobmann
Bei etwa 50 % der Diabetiker besteht nach 25 Jahren Diabetesdauer eine symptomatische periphere Neuropathie; die Diabetesgenese besitzt keinen Einfluss, wohl aber besteht eine enge Abhängigkeit von Alter, Diabetesdauer und Qualität der Einstellung.

Einführung

Bei etwa 50 % der Diabetiker besteht nach 25 Jahren Diabetesdauer eine symptomatische periphere Neuropathie; die Diabetesgenese besitzt keinen Einfluss, wohl aber besteht eine enge Abhängigkeit von Alter, Diabetesdauer und Qualität der Einstellung.
Eine autonome Neuropathie liegt bei ca. 20 % der diabetischen Patienten vor, auch dies korreliert mit Lebensalter, Diabetesdauer und Mikroangiopathie. Bei einer manifesten peripheren Neuropathie liegt in 30–50 % der Fälle auch eine autonome Neuropathie vor.
Unterschiedliche pathogenetische Konzepte werden diskutiert; dies sind in erster Linie Störungen des Polyol- und Myoinositstoffwechsels, Reduktion der Na/K-ATPase, endoneurale mikrovaskuläre Defizite mit konsekutiver Ischämie, Bildung freier Sauerstoffradikale, neurotrophe Störungen (IGF-I, NGF), Defekte des axonalen Transportes und schließlich die nichtenzymatische Glykosylierung von neuronalen Struktur- und Transportproteinen (Abb. 1).
Differenzialdiagnostisch muss unbedingt an andere Ursachen einer Neuropathie, in erster Linie an Alkoholabusus, medikamentös bedingte Neuropathien, Paraneoplasien, Infektionen (Borreliose, HIV) und Vaskulitiden gedacht werden.

Autonome diabetische Neuropathie

Die diabetische Neuropathie des autonomen Nervensystems kann prinzipiell jedes innervierte Gewebe betreffen. Hervorzuheben sind Probleme des kardialen, gastrointestinalen und urogenitalen Systems.

Kardiale autonome Neuropathie (KADN)

Für die Mortalität diabetischer Patienten ist die Prävalenz der autonomen und hier insbesondere der kardialen Neuropathie von Bedeutung. Die Überlebensrate nimmt bei Vorliegen einer autonomen Neuropathie deutlich ab.
Neben einer sorgfältigen internistisch-kardiologischen Diagnostik sind insbesondere kardiovaskuläre Reflextests wichtig (Ewing-Batterie). Hier werden Herzfrequenz, Variation, Blutdruck unter Valsalva-Versuch und Orthostasetests sowie die Herzfrequenzveränderung beim Aufstehen als Minimalprogramm überprüft (Abb. 2).
Die therapeutischen Möglichkeiten sind hier eher begrenzt; neben der Optimierung der Diabetestherapie, der engmaschigen Überwachung, insbesondere auch bei operativen Eingriffen, besteht nur die Möglichkeit der Behandlung einer Orthostasesymptomatik. Das Vorliegen einer KADN ist keine Indikation für eine rhythmusmodifizierende Therapie.

Gastrointestinale Neuropathie

Subjektiv beeinträchtigend und für die Blutzuckereinstellung extrem problematisch ist das Vorliegen einer gastrointestinalen Neuropathie.
Diagnostisch steht hier in erster Linie die Erfassung der gestörten Magenentleerung im Vordergrund; dies kann durch Ultraschallverfahren, Szintigraphie einer nuklidmarkierten Mahlzeit oder den für ein Screening bestens geeigneten Oktansäureatemtest erfolgen (Abb. 3 und Abb. 4).
Grundsätzlich muss differenzialdiagnostisch beim Vorliegen einer Obstipation und/oder Diarrhoe auch an andere, insbesondere neoplastische Prozesse des Kolons gedacht werden.
Therapeutisch besteht neben der Optimierung der Diabetestherapie beim Vorliegen einer Gastroparese die Möglichkeit der Gabe von Domperidon (3- bis 4-mal 30 mg); zusätzlich kann eine Motilitätsbeeinflussung durch die Gabe von Erythromycin erzielt werden.
Bei Vorliegen einer Diarrhoe kann symptomatisch mit Loperamid behandelt werden, daneben wird ein Therapieversuch mit Doxycyclin über 14 Tage empfohlen. Bei therapierefraktärem Verhalten Versuch mit Clonidin. Bei Obstipation können Laktulose und die o. g. Prokinetika gegeben werden.

Urogenitale Neuropathie

Die Symptome der urogenitalen Neuropathie sind für den Patienten sehr beeinträchtigend; zum einen resultieren hieraus vermehrte Harnwegsinfekte, zum anderen kommt es zu einer subjektiv sehr beeinträchtigenden erektilen Dysfunktion (bei etwa 50 % der Diabetiker über 50 Jahren).
Neben der Optimierung der Diabetestherapie steht die Vermeidung der Gabe von Medikamenten mit spezifischen Nebenwirkungen (Betablocker, Antidepressiva, Sedativa) im Vordergrund.
Beim Vorliegen einer erektilen Dysfunktion muss eine zusätzliche Abklärung durch den Urologen erfolgen (Differenzierung zwischen neurogener und angiogener Ursache).
Therapeutisch kann der Einsatz von PDE5-Hemmer (Sildenafil, Tadalafil oder Vardenafil), unter strenger Beachtung der Kontraindikationen, hilfreich sein. Alternativ kann die Schwellkörperautoinjektionstherapie (SKAT) mit der Injektion von α-Rezeptorblockern oder Prostaglandinen in die Corpora cavernosa, die direkte Applikation der Wirkstoffe in die Harnröhre („Medical Urethral System for Erection“ – MUSE) oder Hilfsmittel wie eine Vakuumpumpe erwogen werden.

Periphere autonome Neuropathie

Durch eine Vasomotorenlähmung kommt es zur Eröffnung von arteriovenösen Shunts im Bereich des subkutanen Gefäßplexus. Ein weiteres Zeichen ist eine Störung bzw. ein Verlust der Schweißsekretion (Sudomotorenparese). Überwärmung der Haut durch Hyperperfusion in tiefen Hautschichten sowie die fehlende Befeuchtung und Verdunstungskälte durch die Störung der Schweißsekretion führen zu einer auffälligen Hautrockenheit der Füße mit Abschwächung der Schutzfunktion der Haut und damit erhöhtem Verletzungsrisiko. Auch die Entstehung einer Mediasklerose (verbunden mit 2fach höheren Ulkusrisiko und 3fach erhöhtem Amputationsrisiko), der diabetischen Osteoarthropathie (Charcot-Fuß), die neuropathische Ödembildung und Veränderungen der Hautdicke gehen auf das Vorliegen einer autonomen Neuropathie bei Diabetes mellitus zurück (Abb. 5).

Sensomotorische Neuropathie

Die Neuropathie der distalen unteren Extremität kann in eine sensorische, motorische und peripher autonome Komponente unterteilt werden.
Zeichen einer sensorischen Neuropathie sind eine Reduktion oder Verlust des Vibrationsempfindens (Pallhypästhesie) sowie der taktilen Oberflächensensibilität (Druck, Berührung) und subjektiv Parästhesien. Eine besondere und für den Patienten meist stark belastende Form der diabetischen Neuropathie ist das sog. „burning feet syndrome“, das besonders nachts auftritt und mit erheblichen Schmerzsensationen einhergeht.
Infolge der fehlenden Schmerzsymptomatik neigen sowohl der Patient als auch behandelnde Ärzte zu einer deletären Fehleinschätzung bei bereits eigentlich schon gravierenden Fußläsionen.
Fast regelhaft ist bei der sensorischen Neuropathie auch das Temperaturempfinden herabgesetzt. Der Gefühlsverlust bzw. die Missempfindungen (kribbeln, brennen) steigen symmetrisch, socken- oder strumpfförmig, distal beginnend auf.
Der Empfindungsverlust begünstigt schon bei Bagatelltraumen ein desaströses diabetisches Fußsyndrom (z. B. Verbrennungen durch heiße Wärmflasche, Heizdecke, Sonnenbrand, treten in eine Nadel/Scherbe, Stoßen am Türrahmen, etc.) (Abb. 6).
Die motorische Neuropathie äußert sich in einer Atrophie der kleinen Fußmuskeln, was eine Fehlstellung der Zehen im Sinne der sog. Krallenzehen bewirkt.
Außerdem kommt es zu motorischen Paresen und einem Verlust der Muskeleigenreflexe, wobei der Ausfall des Achillessehnenreflexes eines der Frühsymptome einer motorischen Neuropathie ist.
In der Kombination der sensorischen und motorischen Komponente der peripheren Neuropathie resultiert eine Fußfehlbelastung und Gangunsicherheit für den betroffenen Diabetiker. Klassischerweise bilden sich in der Folge von Neuropathie und erhöhter plantarer Druckbelastung Hyperkeratosen aus; durch subepidermale Hygrom- oder Hämatombildung kommt es an typischen Prädilektionsstellen (insbesondere Metatarsale I und Fersenbereich) zum Malum perforans.

Orientierende neurologische Untersuchung

Die minimale neurologische Diagnostik erfordert eine Vibrationsmessung mit graduierter 128-Hz-Stimmgabel nach Rydel-Seiffer und/oder die Testung des Druck- und Berührungsempfindens mittels 10-g-Mikrofilament (Semmes-Weinstein-Filament) (Video 1, Video 2 und Video 3).
Ergänzend sind ein reduziertes Warm-Kalt-Empfinden (Testung z. B. mittels Tip-Therm), ein vermindertes Schmerzempfinden sowie eine gestörte 2-Punkt-Diskrimination und der Status der Muskeleigenreflexe als wesentliche Risikoindikatoren zu werten. Insbesondere der Achillessehnenreflex stellt einen sensitiven Marker dar.
Neben der klinischen Untersuchung kann die Diagnostik durch Questionärs ergänzt werden. Der „Neuropathy Symptom Score“ (NSS) und „Neuropathy Dysfunction Score“ (NDS) sind hierbei hilfreich.

Therapie

Bei der Therapie der peripheren Neuropathie steht zunächst die optimale Diabetestherapie (intensivierte Insulintherapie) im Vordergrund. Folgende Behandlungsmöglichkeiten stehen zur Verfügung:
  • Stoffwechseloptimierung!!!
  • Medikamentös
    • symptomatische Behandlung sensibler Reizerscheinungen
    • Schmerzmedikation (ASS, Paracetamol, Tramadol, Mophinpflaster …)
    • externe Salben (Capsaicain, EMLA)
    • α-Liponsäure 600–1.200 mg (i. v., dann p. o.)
  • Psychologische Betreuung
Eine kausale Therapie steht nicht zur Verfügung. Die Gabe von α-Liponsäure; wird kontrovers diskutiert und von den aktuellen Leitlinien nicht empfohlen (Tab. 1).
Tab. 1
DDG-Leitlinien
Substanz
Empfohlene Dosierung
Antidepressiva
Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer
-Duolexitin
Trizyklische Antidepressiva
-Amitryptilin
-Desipramin
60–120 mg
50–150 mg, bei Älteren ↓
Antikonvulsiva mit Wirkung auf neuronale Kalziumkanäle
300–600 mg
1.500–3.600 mg
Nichtopoidanalgetika
3-mal 500 mg bis 3-mal 1 g
1–4 g, bei Älteren ↓
Opoidanalgetika
Morphin
50–400 mg
10–20 mg alle 12 h, mittlere Dosierung
10–30 mg alle 12 h, mittlere Dosierung
Insbesondere bei abendlichen oder nächtlichen Schmerzen empfiehlt sich die Gabe von trizyklischen Antidepressiva mit antinozeptiver Wirkung (z. B. Amitriptylin in einer Dosis von 25 bis maximal 75 mg abends). Ebenfalls gut geeignet zur Bekämpfung der nächtlichen Schmerzen ist Carbamazepin in einer Dosis von 1- bis 3-mal 200 mg. Auch Antikonvulsiva, z. B. Gabapentin (600–1.800 mg/d) oder Pregabalin (150–600 mg/d) können mit Erfolg bei sensorischen Störungen eingesetzt werden (Tab. 1).
Ergänzend können neben klassischen peripheren Analgetika zur Lokaltherapie capsaicin- oder lidocainhaltige Salben angewandt werden.
Als nichtpharmakologischer Ansatz kann die TENS-Methode („transcutaneous electrical nerve stimulation“), HiTop-Reizstromtherapie oder Akupunktur erwogen werden.

Video/Audio

Below is the link to the Video/Audio.
Video 1
∎ (AVI 3724 kb)
Video 2
∎ (AVI 4282 kb)
Video 3
∎ (AVI 3780 kb)
Literatur
Armstrong et al (1997) Diab Med
Zimny (2005) aus Eckhardt; Lobmann Der Diabetisches Fuß
Weiterführende Literatur
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