Einleitung
Unter einem
Delir versteht man ein Syndrom, das nach der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) folgendermaßen definiert wird: „Ein ätiologisch unspezifisches hirnorganisches Syndrom, das charakterisiert ist durch gleichzeitig bestehende Störungen des Bewusstseins und der Aufmerksamkeit, der Wahrnehmung, des Denkens, des Gedächtnisses, der Psychomotorik der Emotionalität und des Schlaf-Wach-Rhythmus“ (WHO
1993).
Das
Delir ist eine der häufigsten Komplikationen bei betagten Patienten im Krankenhaus. Der Begriff leitet sich aus dem Lateinischen „delirare“ bzw. „de lira“ ab, was aus einer vorgegebenen (Wagen-)Spur sich befindend bedeutet. Die Begrifflichkeit wurde im ersten Jahrhundert nach Christus als eigenständige Entität von Celsus neben der Manie, Depression und Hysterie in die damalige Medizin eingeführt (Fricchione et al.
2008; Siegemund et al.
2011). Historische Begriffe für das Syndrom Delir wie (postoperatives) Durchgangssyndrom
, organisches Psychosyndrom
oder akuter Verwirrtheitszustand
werden noch häufig synonym gebraucht, sollten aber zugunsten des Terminus Delir verlassen werden, da das akute Auftreten und die Desorientierung lediglich Symptome des Syndroms sind und dem syndromalen Komplex nicht in Gänze gerecht werden (Singler und Frühwald
2014).
Ein
Delir kann Ausdruck einer schwerwiegenden zugrunde liegenden Erkrankung sein, die akut behandlungsbedürftig ist und lebensbedrohlich sein kann. Beispiele hierzu können eine
Sepsis aber auch ein
akutes Koronarsyndrom sein (Then et al.
2001).
Prinzipiell ist es möglich, dass ein
Delir in jedem Lebensalter auftrit. Allerdings steigt mit dem Lebensalter die Wahrscheinlichkeit, ein Delir zu entwickeln. So stellt das Lebensalter den wichtigsten Risikofaktor für die Delirentstehung dar (Singler und Frühwald
2014). Die Genese des Delirs ist häufig multifaktoriell, wobei eine Prädisposition (die Vulnerabilität) in ein komplexes Wechselwirkungsgefüge mit präzipitierenden Faktoren (den Noxen) tritt. Bietet ein Patient aufgrund seiner Multimorbidität verschiedene Prädispositionen, also Risikofaktoren, so bedarf es nur einer geringen Veränderung (Noxe), z. B. einer Umgebungsveränderung auf einer Intensivstation, damit ein Delir entstehen kann (Singler und Frühwald
2014; Inouye und Charpentier
1996).
Das
Delir an sich ist mit einer erhöhten Mortalität verbunden, sodass dieses Syndrom als ein akuter Notfall betrachtet werden muss. Die Patienten sind in agitations- oder hypoaktiven Phasen besonders gefährdet durch das Auftreten von multiplen Komplikationen (Inouye und Marcantonio
2007). Die Prognose ist dabei abhängig vom Schweregrad des Delirs und den auftretenden Komplikationen (Marcantonio et al.
2002).
Delirante Patienten weisen eine längere Krankenhausverweildauer mit den damit verbundenen höheren Kosten auf. Alleine in 18 europäischen Ländern beliefen sich die durchschnittlichen jährlichen Kosten im Jahre 2011 auf ca. 182 Milliarden Dollar (137,76 Milliarden Euro) (Leslie et al.
2008; World Health Organization
2012). In den USA werden die Kosten für eine Delirepisode durchschnittlich mit 2500 Dollar pro Patient beziffert (Inouye et al.
1999).
Eine Delirepisode steht häufig am Anfang einer Kaskade aus Ereignissen, die zu einer Abwärtsspirale aus funktionellem Abbau mit Verlust der Selbsthilfefähigkeit, Institutionalisierung und schließlich dem Tod führt. Dabei kommt dem
Delir eine Schlüsselposition zum Anstoß oder der Unterhaltung dieser Ereignisse zu (Fong et al.
2009). So häufen sich die Hinweise, dass das Delir zu einem zunehmenden kognitiven Abbau führen kann und in einigen Patienten auch zu einer demenziellen Entwicklung führt (Inouye et al.
2014).
Pathophysiologie
Letztlich ist die Pathophysiologie des Delirs noch nicht vollständig aufgeklärt. Zur Entstehung des Delirs gibt es verschiedene Hypothesen. Häufig wird die Ursache des Delirs jedoch multikausal sein.
Neben einer Dysbalance verschiedener
Neurotransmitter, wird eine Immunantwort auf periphere Entzündungsprozesse durch Aktivierung der Mikroglia im Rahmen einer Neuroinflammation diskutiert. Ein weiteres Erklärungsmodell besagt, dass eine direkte Schädigung des Gehirns zum Beispiel bei
Hypoxie zum oxidativen Stress mit neuronalem Kalziumeinstrom, mitochondrialer Dysfunktion und schließlich
Apoptose im Rahmen einer zellulären Stressantwort führt (Siegemund et al.
2011). Unter der Stresshypothese
wird aber auch eine Dysregulation in der Hypothalamus-Hypophysen-Achse verstanden, die mit erhöhten Kortisolspiegeln einhergeht (Singler und Frühwald
2014).
Bisher wurde die Entstehung eines Delirs hauptsächlich mit der Theorie der „cholinergen Gleichgewichtsstörung“ erklärt. Diese geht davon aus, dass es zu einem Ungleichgewicht der
Neurotransmitter Acetylcholin und Dopamin kommt. Dabei herrscht ein relativer dopaminerger Überschuss, sodass ein cholinerges Defizit vorliegt. Eine Störung der synaptischen Kommunikation ist die Folge (Winkler
2010). Ein Acetylcholindefizit wird mit Aufmerksamkeits-, Gedächtnis- und Wahrnehmungsstörungen und unorganisiertem Denken in Verbindung gebracht. Acetylcholin
wird aus Cholin unter Einwirkung von Acetylcoenzym A (CoA) gebildet. Letzteres wird im Zitronensäurezyklus durch den Abbau von
Glukose gebildet. Alle Zustände, die diesen Stoffwechselweg beinträchtigen, z. B. eine
Hypoglykämie oder eine schwere Malnutrition sowie Schlaganfälle und traumatische Schädigungen des Gehirns, führen zu einer verminderten Bildung von Acetylcholin (Hshieh et al.
2008).
Der normale Alterungsprozess bringt einen Rückgang der acetylcholinproduzierenden Zellen mit sich, der zusammen mit dem Rückgang des Glukosemetabolismus zu einer verminderten Acetylcholinproduktion führt (Gunther et al.
2008). Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass bei Dysbalancen im Transmittersystem gerade ältere Menschen häufiger von einem
Delir betroffen sind.
Anticholinerge Medikamente können durch die postsynaptische Hemmung von striatalen cholinergen Interneuronen durch Blockierung von postsynaptischen muskarinergen M1-Rezeptoren führen, was
Halluzinationen und kognitive Defizite zur Folge haben kann (Hshieh et al.
2008). Dagegen führt die Inhibition von postsynaptischen nikotinergen Rezeptoren durch Anästhetika wie Isofluran oder Lachgas ebenfalls zu einer verminderten Bindung von Acetylcholin, was postoperative Störungen in der kognitiven Funktion bedingt (Practico et al.
2005).
Der
Neurotransmitter
Dopamin
ist anatomisch und funktionell eng mit anderen Neurotransmittern, wie dem Acetylcholin, verbunden. Der dopaminerge D2-Rezeptor hemmt beispielsweise die Acetylcholinsynthese. Dysfunktionen führen zu
Halluzinationen, sterotypen Verhalten und Denkstörungen (Mrzljak und Goldman-Rakic
1992; Maldonado
2008).
Da die verschiedenen dopaminergen Rezeptoren unterschiedlichen Einfluss auf die Menge an Acetylcholin haben, kann dies ein Erklärungsmodell für die unterschiedliche klinische Präsentation, seine hyper- bzw. hypoaktiven Formen sein (Hshieh et al.
2008).
Dopamin wird beispielsweise vermehrt bei
Hypoxie gebildet. Der Einstrom von Kalzium in die Zellen führt zu einer vermehrten Bildung von Dopamin und entkoppelt die oxidative Phosphorylierung in den Mitochondrien des Gehirns. Folge ist die Bildung toxischer Metabolite und ein Rückgang der Bildung von Adenosintriphosphat (ATP), was wiederum die Aktivität der Catechol-O-Methyltransferase (COMT) hemmt, die ein Schlüsselenzym für die Synthese und den Abbau von Dopamin im präfrontalen Kortex ist (Gunther et al.
2008). Des Weiteren wird die Acetylcholinausschüttung vermindert – ein
Delir ist die Folge. Durch Blockade der Dopaminrezeptoren durch
Neuroleptika wird auf diese Stoffwechselvorgänge Einfluss genommen.
Dem exzitatorischen
Neurotransmitter Serotonin kommt eine wichtige Rolle bei der Delirentstehung zu. Der Exzess dieser Substanz führt im Tierversuch zu Einschränkungen im Lernen und im Gedächtnis und hat Einfluss auf die kortikale elektroenzephalographische Aktivität. Serotonin nimmt auch Einfluss auf den Acetylcholin- und Dopaminstoffwechsel. Während die Bindung von 5-HT
3,6-Rezeptoren im Hippocampus von Ratten zu einer verminderten Freisetzung von Acetylcholin führt, kommt es bei Bindung an die 5-HT
1A,2A- und 5-HT
4-Rezeptoren zu einer verminderten Freisetzung (Trzepacz
2002). Serotonin stimuliert die dopaminerge Aktivität, was wiederum die Acetylcholinfreisetzung im frontalen Kortex, dem Striatum und limbischen System hemmt (Tanda et al.
1994). So erklärt sich auch, weshalb selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) ein
Delir auslösen können (Chan et al.
1994).
Dem
Neurotransmitter Norepinephrin
kommt in der Pathophysiologie des Delirs ebenso eine wichtige Rolle zu. Norepinephrin hat einen modulierenden Einfluss auf Aufmerksamkeit, Stimmung und Angst. Analog zum Dopamin führt ein Exzess dieses Transmitters zu deliranten Zustandsbildern (Hirano et al.
1995). Norepinephrin kontrolliert dopaminerge Neurone im Mesokortex und hat Einfluss auf den Präfrontalkortex, wo es zu einer Verbindung mit dem Stoffwechselweg der beiden Monoamine kommt (Tassin
1998).
Dysfunktionale Beziehungen anderer Transmitter wie γ-Aminobuttersäure (GABA) und Glutamat oder
Melatonin scheinen ebenfalls einen Einfluss auf die Delirgenese zu haben. Glutamat wird in GABA umgewandelt, das einen inhibitorischen
Neurotransmitter darstellt. Sedierende Medikamente können einen Abfall des GABA-Spiegels bedingen, was im Weiteren zu einem
Delir führen kann (Gunther et al.
2008).
Ein alternatives Erklärungsmodell zur Dysbalance der
Neurotransmitter stellt ein neuronales Entzündungsmodell
dar, das Analogien auf die Entstehung von neurodegenerativen Prozessen zulässt. Der Entzündungsprozess wird entweder direkt durch die Erkennung spezifischer Komponenten von Mikroorganismen durch Phagozyten angestoßen oder aber durch die Ausschüttung von endogenen
Liganden (z. B.
Hitzeschockproteinen) induziert. Proinflammatorische
Zytokine, wie TNF-α und Interleukin 1 (Il-1), die an der Schädigungsstelle von
Makrophagen und Phagozyten gebildet werden, führen zu einer weiteren Bildung von Entzündungsmediatoren und Rekrutierung von Entzündungszellen. Aus der lokalen Entzündung entwickelt sich eine systemische Immunantwort mit hohen Spiegeln an zirkulierenden Zytokinen (Cerejeira et al.
2010). Bei systemischen Infektionen gelangen Zytokine wie TNF-α in das Zentralnervensystem (ZNS).
Begünstigt wird dies durch eine vermehrte Durchlässigkeit der Blut-Hirn-Schranke
. In verschiedenen Studien konnte gezeigt werden, dass die Injektion von Lipopolysacchariden (LPS) eine Kaskade an Ereignissen lostritt, die u. a. zum Auseinanderreißen der Blut-Hirn-Schranke führen (Cerejeira et al.
2010; Marchi et al.
2004). Die Integrität der Blut-Hirn-Schranke kann durch Altersveränderungen wie eine verminderte Mikrovaskularisation des Kortex und der weißen Substanz geschädigt sein (Young et al.
2008). Das C-reaktive Protein (CRP) kann die Bildung reaktiver Sauerstoffradikale stimulieren, die wiederum zu einer vermehrten Durchlässigkeit der Blut-Hirn-Schranke führen (Shadid et al.
2011). So konnte gezeigt werden, dass erhöhte Spiegel an CRP und Interleukin 6 mit einer erhöhten postoperativen Delirinzidenz einhergehen (Belooseky et al.
2014).
Mit Einwanderung der
Zytokine in das Gehirn stimulieren diese die Mikroglia, was zur Ausschüttung neurotoxischer Substanzen führt, die wiederum zum einen akut die geregelte neuronale Funktion stören, aber auch dauerhafte schädliche Effekte auf die benachbarten Neurone ausüben, was letztlich längerfristige kognitive Veränderungen erklären könnte (Van Gool et al.
2010). Interessant ist in diesem Zusammenhang die Beobachtung, dass es im Alter zu einer Hochregulierung der Immunantwort kommt, was wiederum erklären könnte, warum gerade ältere Patienten häufig ein
Delir entwickeln (Franceschi et al.
2007). Häufig reichen bereits geringe Stimuli aus, damit es zu einer verstärkten überschießenden Immunantwort kommt.
Die aktivierte Mikroglia wird normalerweise durch eine cholinerge Inhibition kontrolliert, um eine überschießende Bildung neurotoxischer Substanzen zu vermeiden. Kommt es nun zu einem cholinergen Defizit, z. B. durch neurodegenerative Erkrankungen, so fällt diese Kontrolle der Mikroglia weg. Die ohnehin im Alter gesteigerte Aktivität der Mikroglia bedingt eine selbstunterhaltende neuronale Entzündungsantwort, die zum Teil über Monate hinweg verläuft. Dieses Erklärungsmodell könnte begründen, weshalb kognitive Defizite über längere Zeit bis hin zur demenziellen Entwicklung nach systemischen Infektionen auftreten können (Van Gool et al.
2010).
Klinik
Die Klinik des
Delirs richtet sich im Wesentlichen nach dem motorischen Subtyp des Syndroms. Man unterscheidet das hyperaktive vom hypoaktiven Delir
. Ferner kann noch ein Mischtyp bestehen. Es ist nicht selten, dass Patienten während eines Tages oder während der Delirepisode von einem Zustandsbild in das andere wechseln (Inouye et al.
2014).
Neben dem fluktuierenden Verlauf sind weitere Kernsymptome des Syndroms das Aufmerksamkeitsdefizit, die Bewusstseinsstörung und Einschränkungen der Wahrnehmung (z. B. Desorientierung,
Gedächtnisstörungen, Sprachwechsel). Weiterhin können eine Tag-Nacht-Umkehr, Wahrnehmungsstörungen wie etwa
Halluzinationen oder Wahnvorstellungen auftreten. Emotionale Labilität und Verhaltensstörungen sind weitere Symptome, die im Rahmen des Delirs auftreten können (Inouye et al.
2014).
Am häufigsten tritt das hypoaktive
Delir auf. In einer amerikanischen Studie an 172 geriatrischen Patienten nach einer Operation fanden sich bei 43 % ein Delir – davon hypoaktive Formen zu 68 %, während der Mischtypus bei 31 % der Patienten vorlag, lediglich 1 % der Verlaufsformen wurde als hyperaktiv beschrieben (Robinson et al.
2011). Die hypoaktive Verlaufsform ist generell mit einer schlechteren Prognose assoziiert (Marcantonio
1996; Robinson et al.
2011). Im hyperaktiven Delir befindliche Personen zeigen Agitationsphasen mit
Halluzinationen und Wahnvorstellungen und können vegetative Symptome aufweisen. Das hypoaktive Delir zeichnet sich durch Apathie, Vigilanzminderung und Verlangsamung der Motorik und der Sprache aus. Auch hier können Halluzinationen vorkommen (Singler und Frühwald
2014). Im Vergleich der beiden motorischen Subgruppen zeigt sich, dass häufiger in der hypoaktiven Form Halluzinationen und Wahnvorstellungen zu finden sind (Boettger und Breitbart
2011). Allerdings werden diese häufig erst durch gezieltes Nachfragen berichtet.
Häufig wird das Vorliegen eines hypoaktiven Delirs nicht rechtzeitig erkannt. Dies mag zum einen daran liegen, dass die klinische Präsentation diskret ist, aber auch, dass Assessmentinstrumente mehr auf hyperaktive Symptome in der Beurteilung des Ausprägungsgrades abzielen. Ferner werden häufig Fehldiagnosen gestellt – wie etwa depressive Verstimmung.
Diagnostik
Die Diagnose eines Delirs wird klinisch gestellt. Die derzeitigen klinischen Kriterien gehen aus dem
DSM-5 und dem ICD-10 hervor (American Psychiatric Association
2013; WHO
1993). Dabei ist von einer nicht standardisierten Beurteilung des Patienten aufgrund der geringen Spezifität abzuraten (Singler und Frühwald
2014; Grossmann et al.
2014). Bewährt haben sich verschiedene Assessmentinstrumente (Grover und Kate
2012). Die Spezifität und Sensitivität der einzelnen Instrumente ist abhängig vom jeweiligen Setting und dem Schulungsgrad der Durchführenden. Derzeit sind mehr als 24 Assessmentinstrumente veröffentlicht worden (Inouye et al.
2014). Der häufigste angewandte Test ist die „Confusion Assessment Method“ (CAM). Dessen Sensitivität wird mit 94 % und die Spezifität 89 % angegeben. Weiterhin besteht eine hohe Interrater-Reliabilität. Der CAM wurde in 12 Sprachen übersetzt und in über 4000 Studien eingesetzt. Ferner sind Versionen für Intensivstationen,
Notaufnahmen und Pflegeheime erhältlich. Der Test wird als Teil des „Minimum Data Sets“ in den USA standardmäßig in Seniorenheimen eingesetzt (Inouye et al.
2014). Weitere häufig angewandte validierte Assessmentinstrumente, die hauptsächlich auf klinischen Beobachtungen basieren, sind die „Delirium Observation Screening Scale“ (Schuurmanns et al.
2003), „Nursing Delirium Screening Checklist“ (Gaudreau et al.
2005) und „NEECHAM Confusion Scale“ (Neelon et al.
1996). Der Schweregrad eines Delirs kann mit der „Delirium Rating Scale“ (Trzepacz et al.
1998,
2001) eingeschätzt werden.
Zur weiteren Eingrenzung der Genese muss zeitnah eine zugrunde liegende somatische Erkrankung ausgeschlossen werden. Eine genaue Anamnese bzw. Fremdanamnese sowie eine körperliche Untersuchung sollten gezielt nach Ursachen für ein
Delir fahnden. Insbesondere sollte bei der Anamneseerhebung auf die eingenommenen Medikamente geachtet werden. Gezielt sollte nach kürzlichen Dosisänderungen und frei verkäuflichen Arzneimitteln gefragt werden. Zeichen der Exsikkose können Hinweis auf eine verschlechterte Nierenfunktion sein, die Wiederum zur
Kumulation von potenziell delirogenen Substanzen führen kann. Wichtig ist die Kenntnis von potenziellen Medikamenteninteraktionen. Bei vielen Pharmaka lässt sich ein Blutspiegel bestimmen, um den Wirkspiegel einschätzen zu können (z. B.
Theophyllin, Digitalisparate). Ergänzende bzw. weiterführende Untersuchungen ergeben sich aus der körperlichen Untersuchung und der Anamnese. Die internistische Basisdiagnostik sollte eine Laboruntersuchung mit Erhebung von Entzündungsparametern (Blutbild, CRP), Elektrolytverschiebungen, Nierenretentions- und Leberparametern sowie Schilddrüsenwerten umfassen. Weiterhin sollte nach Hinweisen auf einen stattgehabten Herzinfarkt durch enzymatischen Nachweis einer myokardialen Ischämie, aber auch mithilfe einer Elektrokardiographie (
EKG) nachgegangen werden. Sollten zentralnervöse Symptome bestehen, muss eine Bildgebung des Schädels z. B. durch kraniale Computertomographie (CCT) zum Blutungs- bzw. Ischämienachweis durchgeführt werden. Ergeben sich Verdachtsmomente auf eine entzündliche ZNS-Beteiligung, sollte baldmöglichst eine Liquorpunktion angestrebt werden. Das
Elektroenzephalogramm (
EEG) kann zur Abgrenzung eines non-konvulsivischen epileptischen Anfalls dienen (Singler und Frühwald
2014).
Differenzialdiagnostik
Das
Delir stellt ein Syndrom dar, das häufig als solches verkannt wird. Obgleich viele Instrumente zur Delirerkennung und zur Einschätzung des Schweregrades zur Verfügung stehen, werden diese häufig im klinischen Alltag nicht mit der wünschenswerten Stringenz zur Anwendung gebracht. Weiterhin können der fluktuierende Verlauf der Symptomatik und die verschiedenen motorischen Subtypen die Diagnosestellung erschweren.
Die Abgrenzung zu einer
Demenz kann über den zeitlichen Verlauf erfolgen. Ein
Delir entwickelt sich in Stunden bis Tagen, eine Demenz über einen längeren Zeitraum von mindestens sechs Monaten hinweg. Ein fluktuierender Verlauf ist untypisch für eine Demenz ebenso eine verminderte Aufmerksamkeitsspanne. Allerdings weist die
Lewy-Body-Demenz gewisse Ähnlichkeiten zum Delir auf: So können Patienten
Halluzinationen entwickeln, zeigen eine fluktuierende kognitive Störung und eine Verlangsamung des
EEG. Als Abgrenzungsmerkmal bestehen bei der Lewy-Body-Demenz extrapyramidalmotorische Störungen (Winkler
2010).
Ein kognitives Assessment sollte immer mit ausgeführt werden, um kognitive Defizite im Sinne einer demenziellen Entwicklung zu detektieren (Inouye et al.
2014).
Das hypoaktive
Delir zeigt eine gewisse Ähnlichkeit in der Symptomatik mit der Depression
. So können eine psychomotorische Verlangsamung, Reizbarkeit, aber auch Schlaf- und Denkstörungen auftreten. Kommt eine psychotische Komponente hinzu, sind auch Wahrnehmungsstörungen sowie Wahnvorstellungen möglich. Die Aufmerksamkeit und die Orientierung sind bei Depressionen aber normalerweise nicht gestört (Siegemund et al.
2011).
Im hyperaktiven
Delir können ähnlich wie bei einer Psychose
Ängste, Wahrnehmungs- und Denkstörungen auftreten (Fricchione et al.
2008). Beim Delir sind diese Symptome fluktuierend.
Halluzinationen sind bei der Psychose auditorisch, bei einem Delir häufig visueller Natur. Ein weiteres Abgrenzungsmerkmal ist, dass Bewusstsein, Aufmerksamkeit und Erkenntnisvermögen bei psychotischen Patienten weniger beeinträchtigt sind, als das bei im Delir befindlichen Personen der Fall ist (Siegemund et al.
2011).
Therapie
Die Therapie des Delirs basiert auf einem multidimensionalen Ansatz aus nicht medikamentösen und medikamentösen Strategien. Grundsätzlich gilt es, die Ursache des Delirs effektiv zu behandeln, die Sicherheit des Patienten zu gewährleisten und dessen Funktionalität zu erhalten (Yoon et al.
2013). Dabei ist weithin anerkannt, dass die nicht medikamentöse Primärprävention die wirksamste Strategie zur Delirbehandlung ist (O´Mahony et al.
2011; Inouye
2006).
Non-pharmakologische Strategien sowohl in der Prävention als auch in der Behandlung des
Delirs sind darüber hinaus kosteneffektiv und einfach anzuwenden. Wirksame Maßnahmen umfassen Reorientierungsstrategien, so z. B. gut von weitem erkennbare Wandkalender und Uhren, aber auch vertraute persönliche Gegenstände oder Bilder. Therapeutische soziale Aktivitäten wie etwa der gemeinsamen Einnahme der Patientenmahlzeiten können ebenso zur Delirprävention beitragen wie die Förderung eines gesunden Schlafes. So konnte gezeigt werden, dass Ohrstöpsel bei Intensivpatienten dazu beitragen können, ein Delir zu vermeiden (Rompaey et al.
2012). Bei jedem Krankenhausaufenthalt sollte auf die Aufrechterhaltung einer ausreichenden Hydratation und Ernährung geachtet werden und bei unzureichender Trinkmenge eine Substitution erfolgen. Weiterhin sollte die Perzeption durch Sehhilfen und/oder Hörgeräte sowie Zahnprothesen gefördert werden (Inouye et al.
2014).
Diese Maßnahmen können am besten durch ein interdisziplinäres Team mit gut geschulten Bezugspersonen (Bezugspflege) gewährleistet werden (Singler und Frühwald
2014). Ortswechsel, etwa die Verlegung von Patienten innerhalb einer Station oder unnötige Transporte, sollten soweit möglich unterlassen werden. Das „Point-of-Care“-Konzept – die Diagnostik am Patientenbett (z. B. mobile
Sonographie) – kann hierzu einen Beitrag leisten. Wünschenswert wäre eine ruhige, freundliche und helle Umgebung. Als besonders günstig im Hinblick auf den positiven Effekt hat sich die Einbindung der Angehörigen in den Pflegeprozess, etwa durch das „Rooming-in“ erwiesen. Die Einbindung muss begleitet sein durch Information über das Krankheitsbild und seinen Verlauf, durch Anleitung und Hilfestellung, da der Umgang mit einem deliranten Patienten nicht zuletzt emotional sehr belastend sein kann.
Konsequent sollte eine Frühmobilisation gefördert werden. Diese hilft Komplikationen wie Dekubitalgeschwüre oder
Pneumonien zu vermeiden, strukturiert aber auch den Tagesablauf und wirkt der Hospitalisation entgegen. Sobald als möglich sollte auf Fremdmaterial wie Blasenkatheter oder Infusionen verzichtet werden. Diese können ein
Delir bedingen und es in der Dauer unterhalten, was wiederum die Prognose verschlechtert (Singler und Frühwald
2014).
Auf die Anwendung von freiheitsentziehenden Maßnahmen sollte generell verzichtet werden. Zu diesen zählen Bettgitter, Fixierungsgurte, aber auch Sitzstühle mit angebrachten Tischen. Die Anwendung dieser Maßnahmen bringt zum Teil erhebliches Verletzungspotenzial mit sich (z. B. Sturz aus dem Bett über Bettgitter hinweg, Strangulation an nicht korrekt angebrachten Gurtsystemen, Strangulation zwischen Bettgitterstäben).
Ein weiterer wichtiger Ansatzpunkt ist die Erkennung und Behandlung von
Schmerzen, die ein
Delir induzieren, aber auch unterhalten können. Eine regelmäßige strukturierte Schmerzevaluation z. B. mit visuellen Analogskalen kann diesbezüglich hilfreich sein. Eine gute interdisziplinäre Dokumentation hilft, Trends im Heilungsverlauf zu erfassen und auf Veränderungen schnell und kompetent reagieren zu können.
Schließlich muss die Wichtigkeit der Medikamentenevaluation betont werden. Die Zusammenschau aller Pharmaka im Hinblick auf das jeweilige anticholinerge Potenzial, mögliche Überdosierungen oder potenzielle Wechselwirkungen der einzelnen Substanzen können häufig die Gefahr eines pharmakologisch bedingten Delirs bahnen. Interdisziplinäre Modelle – zum Beispiel im Rahmen von gerontotraumatologischen Stationen – sind vielversprechende Ansatzpunkte, um gerade prä- und postoperativ eine optimale Betreuung des Patienten zu gewährleisten und die Delirrate zu senken.
Pharmakologische Therapiestrategien wirken rein symptomatisch. Sie haben weder Einfluss auf die Länge einer Delirepisode noch auf die Prognose (Inouye et al.
2014). Im Gegenteil: Die Anwendung von antipsychotisch wirkenden oder sedierenden Pharmaka werden zunehmend im Zusammenhang mit einer Verschlechterung des kognitiven Status und einem ungünstigen klinischen Verlauf in Zusammenhang gebracht (Inouye et al.
2014). So kann die Anwendung eines Neuroleptikums bei einem Patienten im hyperaktiven
Delir einen Wechsel des motorischen Subtyps zur Folge haben: Der vermeintlich „ruhige“ Patient bietet eine hypoaktive Delirsymptomatik, die infolge der Limitation der Assessmentinstrumente nicht als solche erkannt wird (Inouye et al.
2014). Aus diesen Gründen sollten zunächst alle Aspekte der Prävention und der nicht pharmakologischen Therapie ausgeschöpft werden, bevor eine pharmakologische Intervention erfolgt.
Indikationen für eine pharmakologische Intervention sind stark agitierte Patienten mit Selbstgefährdungstendenzen. Dies kann auch die Unmöglichkeit einer geordneten Diagnostik und Therapie einschließen (z. B. weil sich der Patient einen zentralvenösen Zugang entfernt). Weiterhin sollten Patienten mit ausgeprägten produktiven Symptomen, wie
Halluzinationen, medikamentös behandelt werden.
Zur Anwendung kommen vornehmlich
Antipsychotika wie Haloperidol
, Risperidon
,
Quetiapin. Ferner werden
Benzodiazepine angewandt. Die zur Behandlung der
Alzheimer-Demenz zugelassenen Acetylcholinesterasehemmer Rivastigmin und Donepezil werden auch zur Delirbehandlung verwandt. Ein neuerer Ansatz stellt die Gabe des sedierenden α
2-Adrenorezeptoragonisten Dexmedetomidin dar. Insgesamt gesehen ist die Datenlage zu den einzelnen Substanzen überschaubar und zum Teil widersprüchlich. Große randomisierte Studien fehlen zum Teil. Zwischen den einzelnen antipsychotischen Substanzen Haloperidol, Risperidon, Olanzapin und Quetiapin konnte in einem Cochrane-Report kein Unterschied sowohl im Hinblick auf die Wirksamkeit noch im Bezug auf die Sicherheit gesehen werden (Lonergan et al.
2007). In einer neueren Arbeit konnte dies nochmals bestätigt werden, sodass der Einsatz der atypischen Antipsychotika Risperidon, Quetiapin, Olanzapin im „off-label use“ dann erwogen werden sollte, wenn höhere Dosen von Haloperidol vermieden werden sollen oder die Wahrscheinlichkeit von extrapyramidal-motorischen oder kardialen Nebenwirkungen hoch ist (Yoon et al.
2013). Bei Patienten, bei denen bereits extrapyramidal-motorische Störungen vorliegen (wie etwa dem
Morbus Parkinson oder einer Lewy-Body
Demenz), ist der Einsatz von niedrig dosiertem Quetiapin sinnvoll (Singler und Frühwald
2014). Die atypischen
Neuroleptika zeigen keine Überlegenheit gegenüber Haloperidol, sofern mittlere Tagesdosen von maximal 6,5 mg Haloperidol nicht überschritten werden (Singler und Frühwald
2014; Campell et al.
2009). Risperidon konnte seine Wirksamkeit gegenüber Plazebo bezüglich einer Verminderung der Delirrate nachweisen, allerdings ergab sich kein Unterschied in der Aufenthaltsdauer im Krankenhaus (Hakim et al.
2012). Grundsätzlich gilt, dass so kurz wie möglich in niedriger Dosierung behandelt werden sollte. Regelmäßige EKG-Kontrollen unter besonderer Beachtung der QTc-Zeit sind obligat, ebenso wie das Monitoring hinsichtlich unerwünschter Nebenwirkungen.
Der Grad der Wirksamkeit von
Antipsychotika auf den vorherrschenden motorischen Subtyp ist derzeit noch nicht ausreichend geklärt. Es liegen jedoch in gegenwärtig noch wenigen Studien Hinweise vor, dass Aripiprazol
eher auf das hypoaktive
Delir wirkt, Haloperidol etwa in gleichem Maße sowohl den hypo- als auch den hyperaktiven Typ beeinflusst, wogegen Olanzapin
eher seine Wirkung am hyperaktiven Delir zeigt (Friedman et al.
2014; Boettger et al.
2011; Breitbart et al.
2002; Platt et al.
1994).
Die Datenlage zur Anwendung von
Benzodiazepinen ist lückenhaft. Es existiert praktisch nur eine qualitative hochwertige Studie an beatmeten Intensivpatienten, die mit entweder mit dem α
2-Adrenorezeptoragonisten Dexmededetomidin oder Lorazepam behandelt wurden. Dabei konnte keine Überlegenheit des Benzodiazepins Lorazepam
im Hinblick auf delir- bzw. komafreie Tage gezeigt werden (Pandharipande et al.
2007). Weiterhin existieren noch zwei partiell kontrollierte Studien, die ebenfalls keine Überlegenheit der Benzodiazepine Alprazolam
und Lorazepam im Vergleich mit
Neuroleptika nachweisen konnten (Breitbart et al.
1996; Christensen und Benfield
1998). Eine dieser Studien musste vorzeitig wegen schwerer Nebenwirkungen der Benzodiazepine wie starker Sedierung, Ataxie und weiterer Verschlechterung der Desorientierung abgebrochen werden (Breitbart et al.
1996). Obgleich die verschiedenen Studiensettings nicht die Gänze der Patienten mit einem
Delir wiederspiegelt, wird derzeit nach einem Cochrane-Report von 2009 von der Anwendung von Benzodiazepinen zur Behandlung des nicht alkoholbedingten Delirs abgeraten (Lonergan et al.
2009). Zuletzt wurden große Hoffnungen auf die Acetylcholinesteraseinhibitoren gelegt. Ansatzpunkt ist die Hemmung des am Abbau des Acetylcholins beteiligten
Enzyms. Somit soll das cholinerge Defizit gemindert werden. An einer Studie an Intensivpatienten zeigte sich im Vergleich zu Plazebo eine verlängerte Dauer des Delirs unter Rivastigmin. Schließlich musste die Studie bei erhöhter Mortalität abgebrochen werden (Van Eijk et al.
2010). Für Donepezil konnte ebenfalls kein Vorteil im Bezug auf Prävention oder Behandlung im Vergleich mit Plazebo gezeigt werden (Liptzkin et al.
2005).
Der hoch selektive α
2-Adrenorezeptoragonist Dexmedetomidin
stellt eine weitere therapeutische Alternative dar. Dieses Arzneimittel wurde erst 2011 in Europa zugelassen. Die Wirkung ist sowohl sedierend als auch anxiolytisch. Ferner wirkt Dexmedetomidin analgetisch. Bislang existieren nur wenige Studien, sodass der Stellenwert dieser Substanz als Zusatz zu etablierten Therapiestrategien noch nicht abschließend beurteilt werden kann. Bei beatmeten Intensivpatienten zeigten sich eine Verkürzung der Delirdauer und eine kürzere Zeit bis zur Extubation. Dagegen fand sich jedoch kein positiver Effekt weder im Hinblick auf die Krankenhausverweildauer noch in der Mortalität (Friedman et al.
2014; Pandharipande et al.
2007; Riker et al.
2009).