Ähnlich erfolgreich bezüglich der Wiederherstellung des Immunsystems ist die Gentherapie der SCID-X1
(Mukherjee und Thrasher
2013). Zwischen 1999 und 2006 wurden 20 Patienten mit SCID-X1, für die kein HLA-identischer Spender gefunden werden konnte, behandelt (Mukherjee und Thrasher
2013; Touzot et al.
2014). Bei dieser Form der schweren primären Immundefekte besteht ein Defekt im IL-2RG-Gen (Peter et al.
2012; Mukherjee und Thrasher
2013). Dieses Gen kodiert für ein Protein (γ-Kette), das ein Bestandteil mehrerer Interleukin(IL)-Rezeptoren ist (IL-2R, IL-4R, IL-7R, IL-9R, IL-15R, IL-21R). Fehlt die γ-Kette, kommt es zu einer Entwicklungsstörung der T-, B- und NK-Zellen, die dazu führt, dass den betroffenen Patienten T- und NK-Zellen fehlen und die
B-Lymphozyten den Phänotyp nativer B-Zellen aufweisen. Die Gentherapie der SCID-X1 erfolgte analog zur Gentherapie der ADA-SCID (Brigida und Aiuti
2012; Mukherjee und Thrasher
2013). Auf eine Konditionierung wurde im Falle der SCID-X1-Gentherapie jedoch verzichtet, da die genkorrigierten Zellen einen Wachstumsvorteil besitzen und sich daher gegenüber den nicht korrigierten Zellen durchsetzen. Wie bereits erwähnt, konnte in den behandelten Patienten durch die Gentherapie das Immunsystem mit einer vergleichbar hohen Effizienz wie bei ADA-SCID rekonstituiert werden. Im Gegensatz zur ADA-SCID trat jedoch 2,5–5 Jahre nach Gentherapie in fünf der behandelten Patienten eine T-Zell-Leukämie auf (Hacein-Bey-Abina et al.
2008; Howe et al.
2008). Als Ursache für diese schwere Nebenwirkung werden sowohl vektorspezifische als auch krankheitsintrinsische Faktoren vermutet. Letzteres begründet sich damit, dass bei der ADA-SCID bisher keine Nebenwirkungen beobachtet wurden, obwohl dasselbe Vektorsystem, nämlich γ-retrovirale Vektoren, verwendet wurden. Als wichtige vektorspezifische Faktoren wurde zum einen das Integrationsprofil (Abschn.
3.2) und zum anderen der starke γ-retrovirale
Promotor, der für die Genexpression verwendet wurde, identifiziert. Der starke Promoter vermittelt nicht nur eine effiziente Expression der γ-Kette, sondern kann aufgrund seiner Stärke auch benachbarte Gene aktivieren. In den beschriebenen Fällen erfolgte die Integration benachbart zum Protoonkogen LMO2 („LIM domain only 2“), das infolge der Vektorintegration aktiviert wurde. Diese Aktivierung sowie weitere Genomveränderungen führten letztendlich zur Entwicklung der T-Zell-Leukämie
(Mukherjee und Thrasher
2013; Touzot et al.
2014). Vier der fünf Patienten konnten erfolgreich mit einem Standardchemotherapieprotokoll behandelt werden. Sie sind bisher tumorfrei, und ihr Immunsystem blieb trotz Chemotherapie erhalten (Mukherjee und Thrasher
2013; Touzot et al.
2014).
Um die Sicherheit gentherapeutischer Ansätze, die auf ein stabiles Einbringen der korrekten Genversion in proliferierende Zellen angewiesen sind, zu erhöhen, wurden nach dem Auftreten der T-Zell-Leukämien umfangreiche – meist interdisziplinäre – Forschungsaktivitäten initiiert. Diese führten 1. zur Identifizierung der bereits beschriebenen vektorspezifischen Faktoren der Tumorentstehung, 2. zur Entwicklung von Protokollen, die einen effizienteren Gentransfer in Stammzellen und somit den Einsatz geringer Vektordosen ermöglichen, und 3. zur Optimierung der Vektoren. Im Bereich der Vektoren wurde zum einen die Entwicklung der lentiviralen Vektoren, die günstigere Integrationseigenschaften aufweisen (Abschn.
3.2), forciert und zum anderen wurden die γ-retroviralen Vektoren weiterentwickelt. So werden z. B. die starken viruseigenen
Promotoren durch deutlich schwächere Promotoren ersetzt, die die Aktivierung benachbarter Gene durch das Einfügen von Isolatorsequenzen in das Vektorgenom aktiv verhindert, oder es wird zusätzlich zum therapeutischen Gen ein Selbstmordgen eingefügt, sodass vektorbehandelte Zellen ggf. abgetötet werden können. In den aktuellen Gentherapiestudien im Bereich der schweren primären Immundefekte, die neben ADA-SCID und SCID-X1 auch das
Wiskott-Aldrich-Syndrom und die chronische Granulomatose
umfassen, finden diese Optimierungen bereits Anwendung (Mukherjee und Thrasher
2013).