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DGIM Innere Medizin
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Publiziert am: 01.08.2023

Grundlagen der Hämostaseologie

Verfasst von: Bettina Kemkes-Matthes
Unter „Blutgerinnung“ verstehen wir heute einerseits die Abläufe des Gerinnungssystems im engeren Sinne, die – wenn gestört – zu Blutungs- oder Thromboseneigung führen können. Darüber hinaus spielt „die Blutgerinnung“ aber auch eine entscheidende Rolle bei der Angiogenese, Wundheilung, Infektabwehr und vielem mehr. Informationen über die Ursache einer Blutungsneigung kann man sich mit Anamnese und relativ einfachen Labortesten verschaffen, für die Differenzialdiagnostik hämorrhagischer Diathesen sind Spezialuntersuchungen notwendig. Zur Abklärung thrombophiler Diathesen gibt es keine Übersichtstests, Spezialanalytik ist in jedem Fall notwendig, sollte allerdings nur bei ausgewählten Patienten durchgeführt werden

Einführung

Noch vor 100 Jahren war die Vorstellung von „Hämostase“ (αἷμα – Blut, στάσις – Stehen) noch sehr einfach: es war bekannt, dass Thrombin Fibrinogen unter Einfluss von Kalzium (Ca++) in Fibrin umwandelt. In der Folge wurden weitere prokoagulatorisch aktive Gerinnungsproteine entdeckt und in der Reihenfolge ihrer Entdeckung durchnummeriert. Dass auch Proteine mit gerinnungshemmender Funktion existieren, wurde erst mit der Entdeckung des Antithrombins im Jahr 1965 vorstellbar.
Heute wissen wir, dass „die Blutgerinnung“ im engeren Sinne nur eine Funktion des Hämostasesystems ist, welches darüber hinaus in Abläufe wie Angiogenese, Wundheilung, Infektabwehr, Embryonalentwicklung und Tumorwachstum eingebunden ist. Darüber hinaus stellt das Hämostasesystem eine wichtige Verbindung zum Komplementsystem dar.
Hämostasemechanismen laufen Ca++-abhängig ab, auf aktivierten Oberflächen, insbesondere auf Thrombozyten. Notwendig für alle Abläufe im Hämostasesystem – und das ist gleichzeitig eine der Besonderheiten – ist jeweils ein Enzym, Kofaktor und Substrat (z. B. Faktor VIIa – Tissue-Faktor – Faktor X oder ThrombinThrombomodulinProtein C). Dabei ist das sogenannte „extrinsische System“ wichtig für die Initialzündung der „physiologischen“ Gerinnungs-Abläufe mit daraus resultierender erster Thrombinbildung (s. Abb. 1). Bei einem 1:1-Ablauf in der Kaskade wäre die initiale Thrombingenerierung in ihrer Menge allerdings so gering, dass daraus niemals eine ausreichende Fibrinbildung entstehen könnte. Daher sind Verstärkungsmechanismen nötig, um die initiale Thrombingenerierung zu potenzieren. Diese Verstärkermechanismen laufen thrombinvermittelt über die Faktoren XI, VIII:c und V des „intrinsischen“ Weges. Dadurch kommt es zu einer ca. 300.000-fachen Beschleunigung im unteren Teil der Gerinnungskaskade und entsprechendem Thrombin-Burst. So ist gewährleistet, dass ausreichend Fibrin gebildet werden kann, um z. B. Verletzungen suffizient abzudecken. Im Gegensatz zu dieser „physiologischen“ Aktivierung des Gerinnungssystems, die zwecks Blutstillung/Einleitung der Wundheilung im Rahmen von Verletzungen abläuft, erfolgt die „pathologische“ Aktivierung des Gerinnungssystems über das intrinsische System (Sharma et al. 2021). Aktivatoren sind dabei wesentlich sogenannte NETs („neutrophil extracellular traps“) – bestehend aus dekondensiertem Chromatin neutrophiler Kerne wie Desoxyribonucleinsäure (DNA) und Histonen – also Zelltrümmern. Es resultiert eine Thrombusbildung dort, wo eigentlich keine Thrombusbildung erfolgen sollte: Gefäßverschlüsse sind die Folge.
Thrombin diffundiert – im Gegensatz zu allen anderen aktivierten Gerinnungsfaktoren – von der Stelle der initialen Aktivierung ab und wird zu ca. 95 % gebraucht, um fernab der initialen Aktivierungsstelle Inhibitormechanismen in Gang zu setzen: so wird durch Ankoppeln von Thrombin an endothelständiges Thrombomodulin das Protein C-S-System aktiviert. Nur ca. 5 % des gebildeten Thrombins dient der eigentlichen Gerinnselbildung.
Störungen des Hämostasesystems können hereditär oder erworben sein, zu hämorrhagischen oder thromboembolischen Diathesen führen, Abortneigung- und Wundheilungsstörungen hervorrufen.

Diagnostik hämorrhagischer Diathesen

Die Diagnostik hämorrhagischer Diathesen dient der Abklärung hereditärer und erworbener Blutungsneigung. Verschiedene „Bausteine“ gehören dazu:
  • Eigen- und Familienanamnese
  • Medikamentenanamnese
  • Körperliche Untersuchung, Beurteilung der verschiedenen Blutungstypen
  • Orientierende Laboruntersuchungen
  • Weiterführende Labordiagnostik
Die gründliche Anamnese hat dabei einen hohen Stellenwert und gibt Hinweise auf einen erworbenen oder hereditären Defekt. Die Blutungsanamnese sollte mit einem standardisierten Fragebogen durchgeführt werden, der Umfang, Lokalisation und Umstände der Blutungen erfasst, eine genaue Medikamentenanamnese beinhaltet und auch die Familienanamnese bis mindestens in die 2. Generation miteinschließt (Tab. 1).
Tab. 1
Blutungsanamnesebogen bei Patienten mit Blutungsneigung
Anzahl und Lokalisation von aufgetretenen Blutungskomplikationen
Zeitpunkt der Erstmanifestation einer Blutung
Umstände der Blutungen (spontan, Trauma, Operation?)
 Nachblutungen postoperativ (insbesondere nach Tonsillektomie, Adenektomie)
 Notwendigkeit von Reoperationen wegen Blutungen
 Gabe von Blutprodukten
 Stattgehabte Operationen oder zahnärztliche Eingriffe, die nicht zu Blutungen geführt haben
 Nachblutungen postpartal
 Nabelschnurblutungen
Blutungstyp
 Hämatomneigung (Größe, Lokalisation)
 Epistaxis (wie oft, wann)
 Nachblutungen nach Schnittverletzungen
 Nachblutungen nach Zahnextraktionen
 Hypermenorrhö
 Gelenkblutungen
 Petechiale Blutungen
Aus der Familienanamnese ergeben sich entscheidende Hinweise, ob eine Erkrankung hereditär ist, darüber hinaus evtl. auch Hinweise auf den Vererbungsmodus.
Vollständige Medikamentenanamnese (aktuelle Medikamente inklusive orale Kontrazeptiva und nichtrezeptpflichtige Medikamente wie nichtsteroidale Antiphlogistika)
Bei der körperlichen Untersuchung ist die genaue Inspektion hilfreich, um verschiedene Blutungstypen zu unterscheiden, die wiederum Hinweise auf die Blutungsursache liefern. Schleimhautblutungen, Hypermenorrhö, verstärkte Blutungen nach Verletzungen oder postoperative Blutungen weisen auf eine gestörte Primärhämostase (thrombozytäre Störung, Von-Willebrand-Syndrom). Petechien sind ein Indiz für Thrombozytopenie. Wundheilungsstörungen oder eine Blutung im Intervall nach Verletzungen/Operationen sprechen für einen Faktor-XIII-Mangel. Intraartikuläre Blutungen sind typisch für Hämophilie, Hämatomneigung ist klassisch für eine Störung der Sekundärhämostase (Verminderung plasmatischer Gerinnungsfaktoren).
Zu den orientierenden Laboruntersuchungen zählen
  • Blutbild
  • Thromboplastinzeit (TPZ, Quick- Wert)
  • partielle aktivierte Thromboplastinzeit(aPTT)
Ergeben die Globaltests aPTT und TPZ einen pathologischen Befund, spricht dies für einen Mangel plasmatischer Gerinnungsfaktoren. Die notwendigen Einzelfaktorenbestimmungen werden durch die Ergebnisse der Globaltests vorgegeben (s. Abb. 2).
Bei auffälliger Blutungsanamnese sind die Globaltests nur bedingt aussagekräftig, da die Mehrzahl der Blutungspatienten ein Von-Willebrand-Syndrom oder Thrombozytenfunktionsstörungen aufweisen, die durch aPTT und TPZ nicht erfasst werden.
Bei Patienten mit auffälliger Blutungsanamnese, aber unauffälligen Globaltests, muss daher eine weiterführende Labordiagnostik bezüglich zellulärer und plasmatischer Gerinnungsstörungen veranlasst werden. Folgende Analysen sind zu ergänzen:
Zeigt diese weiterführende Diagnostik pathologische Befunde, sind weitere, hochspezielle Untersuchungen zu ergänzen, um die jeweilige Verdachtsdiagnose zu beweisen. Beispiel: Klassifizierung des Von-Willebrand-Syndroms oder Differenzialdiagnose der Hypo-/Dysfibrinogenämie.
Literatur
Sharma S, Hofbauer TM, Ondracek AS, Chausheva S, Alimohammadi A, Artner T, Panzenboeck A, Rinderer J, Shafran I, Mangold A, Winker R, Wohlschläger-Krenn E, Moser B, Taghavi S, Klepetko W, Preissner KT, Lang I (2021) Neutrophil extracellular traps promote fibrous vascular occlusions in chronic thrombosis. Blood 137(8):1104–1116CrossRefPubMed