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DGIM Innere Medizin
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Publiziert am: 20.04.2023

Angeborene und erworbene Hämophilie

Verfasst von: Katharina Holstein
Die X-chromosomal vererbte angeborene Hämophilie A (Faktor-VIII-Mangel) und Hämophilie B (Faktor-IX-Mangel) führen abhängig vom Schweregrad zu Blutungen perioperativ oder bei Bagatellverletzungen, bei schwerer Hämophilie treten spontane Blutungen vor allem in Gelenke auf. Die Therapie erfolgt durch Substitution des fehlenden Gerinnungsfaktors, zur Prophylaxe von Blutungen steht auch ein bispezifischer Antikörper bei Hämophilie A oder eine Gentherapie zur Verfügung. Betroffene mit schwerer Hämophilie oder schwerem Blutungsphänotyp werden prophylaktisch behandelt. Komplikationen sind die hämophile Arthropathie und die Entwicklung von Inhibitoren gegen den substituierten Gerinnungsfaktor. Die erworbene Hämophilie entsteht bei zuvor gerinnungsgesunden, meist älteren Menschen durch Autoantikörper gegen Faktor VIII und führt in der Regel zu schweren Blutungen. Die Therapie von Blutungen ist mit Bypasspräparaten möglich, zur Eradikation des Inhibitors wird eine Immunsuppression eingesetzt.

Angeborene Hämophilie

Definition

Die angeborene Hämophilie A oder B (klassische Bluterkrankheit) ist eine X-chromosomal rezessiv vererbte seltene, mit einer Blutungsneigung verbundene Blutgerinnungsstörung, charakterisiert durch einen Mangel oder ein komplettes Fehlen des Blutgerinnungsfaktors VIII (Hämophilie A) oder IX (Hämophilie B).

Pathophysiologie

Eine Mutation im F8- oder F9-Gen führt zu einer Verminderung oder einem Fehlen des Faktor VIII oder IX. Beide spielen eine wichtige Rolle in der Amplifikationsphase der Gerinnung, sodass ein Mangel zu einer relevanten Blutungsneigung führen kann. Nach einer Gefäßwandverletzung wird die Gerinnung initiiert über den Gewebefaktor (Tissue Factor) und Faktor VII, die über die Aktivierung von Faktor X und V zur ersten Bildung einer geringen Menge von Thrombin führt (Abb. 1a). Thrombin aktiviert dann den Faktor VIII/IX-Weg, der als sich selbst verstärkende Schleife in der Amplifikationsphase zur relevanten Thrombin- und Fibrinbildung führt (Abb. 1b). Durch die körpereigenen Gerinnungshemmer wird der Gerinnungsvorgang wieder beendet und reguliert (Abb. 1c).
In der Regel korreliert die Faktor-VIII/IX-Restaktivität gut mit der Blutungsneigung, deshalb wird die Hämophilie nach der Faktoraktivität in drei Schweregrade eingeteilt (Tab. 1) (Blanchette et al. 2014), dennoch werden unterschiedlich schwere Blutungsphänotypen bei gleicher Restaktivität beobachtet, die Ursache hierfür ist noch nicht endgültig geklärt.
Tab. 1
Schweregrade der Hämophilie A oder B
Schweregrad
Faktor VIII-/IX-Restaktivität
Klinische Manifestation
Schwer
< 1 %
Spontane Blutungen (v. a. Gelenke, Muskulatur), seltener Hirn-, GI-Blutungen, perioperative Blutungen
Mittelschwer
1–5 %
Seltener spontane Blutungen, Blutungen nach Bagatellverletzungen, perioperativ
Mild
> 5–40 %
Im Alltag meist unauffällig, selten spontane Blutungen, Blutungen nach Verletzungen, perioperativ

Epidemiologie

Die Hämophilie A und B sind seltene Erkrankungen, wobei die Hämophilie A häufiger ist als die Hämophilie B und 80–85 % aller Hämophiliefälle ausmacht (Srivastava et al. 2020). Aufgrund des X-chromosomal gebundenen Vererbungsmodus erkranken in erster Linie Männer. Die geschätzte Häufigkeit beträgt 24,6 pro 100.000 männlicher Geburten für die Hämophilie A und 5 pro 100.000 männliche Geburten für die Hämophilie B. Frauen können als heterozygote Überträgerinnen die Hämophilie auf ihre Nachkommen übertragen, meistens kompensiert das zweite X-Chromosom die F8- oder F9-Mutation. Seltener können Frauen von einer relevanten Blutungsneigung betroffen sein, wenn das zweite X-Chromosom inaktiviert ist oder (sehr selten) beide X-Chromosomen betroffen sind (Srivastava et al. 2020). In der Hälfte der Hämophiliefälle ist die Hämophilie in der Familie bekannt, in einigen Familien, in denen keine erkrankten oder diagnostizierten männlichen Betroffenen vorkommen, kann der Erbgang erst im Nachhinein nachvollzogen werden, etwa 30 % der Hämophiliefälle entstehen aufgrund von Neumutationen.

Klinik

Symptome der Hämophilie sind Blutungen, die abhängig vom Schweregrad spontan auftreten, bei Bagatellverletzungen und/oder Operationen (Tab. 1). Häufigste Blutungslokalisation sind Gelenke und Muskulatur, vor allem bei der schweren und mittelschweren Hämophilie. Erstes Symptom im Neugeborenenalter können ein postnatales Kephalhämatom oder auch intrazerebrale Blutungen sein. Bei zunehmender Mobilität des Kindes, meist im Alter von 6–12 Monaten, fallen multiple Hämatome auf, sodass häufig zunächst eine Kindesmisshandlung vermutet wird. Erste Gelenkblutungen treten bei Betroffenen mit schwerer Hämophilie, die nicht primär prophylaktisch behandelt werden, im Alter von 1–2 Jahren auf. Jede relevante Gelenkblutung führt zu einer Entzündung der Gelenkschleimhaut, der Synovitis, die wiederum das Risiko für weitere Blutungen erhöht, wodurch es dann zur chronischen Synovitis und Entwicklung einer hämophilen Arthropathie kommen kann.
Perioperative Blutungen treten bei nicht ausreichender perioperativer Behandlung oder bei noch nicht diagnostizierter (milder) Hämophilie auf. Deshalb ist die perioperative Begleitung durch in der Hämophilietherapie erfahrende Ärzte von großer Bedeutung.

Diagnostik

Bei der Diagnostik der angeborenen Hämophilie unterscheidet man die initiale Diagnostik zur Diagnosesicherung und die Diagnostik im Verlauf zur Überwachung der Therapie.
Initiale Diagnostik
Es sollte zunächst eine ausführliche Blutungsanamnese erfolgen, abhängig vom Alter des Patienten. Diese beinhaltet Fragen nach Hämatomneigung, Nasen- Zahnfleischblutungen, Gelenk- und Muskelblutungen, perioperative Blutungen, Blutungen nach Zahnbehandlungen und bei Frauen nach Hypermenorrhoe und postpartalen Blutungen. Eine Blutungsneigung bei insbesondere männlichen Verwandten kann auf eine angeborene Hämophilie hinweisen. Ein Familienstammbaum zum Erfassen aller betroffenen Familienmitglieder sollte erstellt werden.
Bei positiver Blutungs- und/oder Familienanamnese sollte eine Labordiagnostik eingeleitet werden. Bei angeborener Hämophilie fällt im Standardgerinnungslabor eine verlängerte aktivierte partielle Thromboplastinzeit (aPTT) auf. Zur weiteren Abklärung sollten dann die Einzelfaktoren VIII, IX, XI, XII bestimmt werden. Wenn diese normal sind, sollte ein Lupusantikoagulans ausgeschlossen werden.
Zur Diagnostik der angeborenen Hämophilie gehört zudem die genetische Untersuchung, um die Diagnose zu bestätigen und anhand der Art der Mutation das Risiko für die Entwicklung eines Inhibitors abzuschätzen. Auch ist bei Frauen häufig die genetische Untersuchung notwendig, um festzustellen, ob sie Konduktorin sind, was erleichtert wird, wenn die Mutation des Indexpatienten bekannt ist. Wenn die Mutation bei der Konduktorin bekannt ist, erleichtert das die Pränataldiagnostik, wenn diese gewünscht wird.
Diagnostik im Verlauf
Die Diagnostik im Verlauf hat in erster Linie das Ziel, Komplikationen frühzeitig zu erkennen. Insbesondere in der ersten Phase einer Faktortherapie sind engmaschige Bestimmungen des Inhibitors notwendig, da das Risikos der Entwicklung von inhibitorischen Antikörpern in den ersten 50 Expositionstagen am höchsten ist, danach sinkt das Risiko zunächst, nimmt im höheren Alter jedoch wieder zu. Um die Entwicklung einer hämophilen Arthropathie frühzeitig zu erkennen, muss der Therapieerfolg auch klinisch überprüft werden durch Ermittlung von Blutungsraten und regelmäßige klinische und ggf. bildgebende Gelenkuntersuchungen. Auch wenn die Gerinnungsfaktorkonzentrate heute sicher sind bezüglich Übertragung von HIV und Hepatitis, werden Infektionsserologien bestimmt, da Personen mit Hämophilie ein erhöhtes Risiko haben, in ihrem Leben Bluttransfusionen zu erhalten. Ältere Betroffene mit HIV oder Hepatitis müssen hinsichtlich Komplikationen der Infektionen überwacht werden.

Differenzialdiagnosen

Differenzialdiagnosen zur der verlängerten aPTT mit Blutungsneigung sind neben der Hämophilie A oder B ein Faktor-XI-Mangel, ein von-Willebrand-Syndrom oder bei gleichzeitig vermindertem Quickwert ein Mangel der Faktoren I (Fibrinogen), II, V, X oder komplexe (erworbene) Gerinnungsstörungen. Bei einer aPTT-Verlängerung ohne klinische Blutungsneigung können ein Faktor-XII-Mangel, ein Lupusantikoagulans oder ein Mangel an Präkallikrein oder hochmolekularem Kininogen zugrunde liegen. Mit Messung des Faktor-VIII-Inhibitors sollte eine erworbene Hämophilie ausgeschlossen werden.

Therapie

Bei der Therapie der Hämophilie unterscheidet man die Therapie der akuten Blutung (Bedarfsbehandlung) und die blutungsprophylaktische Therapie, die bei schwerer Hämophilie spontane Blutungen in Gelenke und Muskulatur und somit die Entwicklung einer Gelenkschädigung verhindern soll. Auch bei Operationen wird prophylaktisch behandelt, um perioperative Blutungen zu verhindern und eine adäquate Wundheilung zu gewährleisten. Die Therapie der Hämophilie sollte von erfahrenen Ärzten in spezialisierten Zentren (Hämophiliezentren) gesteuert und überwacht werden.
Entwicklung der Medikamente zur Therapie der Hämophilie
Vor Entdeckung der Blutgruppen war eine sichere und wirksame Therapie der Hämophilie nicht möglich. Ab Anfang des 20. Jahrhunderts konnten Blutungen mittels Vollblut- oder Plasmatransfusion behandelt werden. Ab Mitte der 1960er-Jahre mit Entdeckung des Kryopräzipitats war die erste prophylaktische Therapie möglich, seitdem ist die Entwicklung von Medikamenten zur Behandlung der Hämophilie weiter fortgeschritten. Wegen der heute vielseitigen Therapiemöglichkeiten sollte die Therapieentscheidung für die Dauertherapie in dafür spezialisierten Zentren erfolgen.
Gerinnungsfaktorkonzentrate
Die ersten Gerinnungsfaktorkonzentrate wurden aus Poolplasma hergestellt. Nachdem es zu schweren, häufig tödlichen Komplikationen durch die Übertragung von HIV und Hepatitis durch kontaminierte Faktorkonzentrate kam, wurden seit Anfang der 1980er-Jahren Methoden zur Virusinaktivierung eingesetzt, seit Anfang der 1990er-Jahre ist die gentechnische Herstellung von Faktorkonzentraten möglich.
Heute stehen virusinaktivierte plasmatische und rekombinante Faktorkonzentrate mit Standardhalbwertszeit zur Verfügung sowie Präparate mit verlängerter Halbwertszeit. Durch Modifikation bei der gentechnischen Herstellung (z. B. PEGylierung, Kopplung mit Albumin oder einem Immunglobulin-Fc-Fragment, Einzelkettentechnologie) kann bei Faktor-VIII-Konzentraten eine bis zu etwa 1,5-fache, bei Faktor-IX-Präparaten eine 5-fache Verlängerung der Halbwertszeit erreicht werden. Dadurch ist eine Verlängerung der Substitutionsintervalle in der Prophylaxe möglich, was die Therapiebelastung der Patienten reduziert und höhere Talspiegel ermöglicht. In klinischer Prüfung befindet sich ein Präparat, welches durch Kopplung an ein von-Willebrand-Faktor-Fragment und X-ten-Technologie auch für Faktor VIII eine etwa 5-fache Halbwertszeitverlängerung erreicht (Weyand und Pipe 2019).
Non-Faktortherapien
Zur blutungsprophylaktischen Therapie steht für die Hämophilie A mit oder ohne Inhibitor ein bispezifischer Faktor VIII-mimetischer Antikörper zur Verfügung (Emicizumab). Dieser kann subkutan injiziert werden, bei einer Halbwertszeit von 4–5 Wochen werden darunter stabile Spiegel erreicht. Wegen des langsamen Anflutens der Wirkung ist Emicizumab nicht zur Blutungstherapie geeignet. Die Messung der Gerinnungsaktivität ist schwierig, da alle aPTT-abhängigen Tests gestört werden und die herkömmliche koagulometrisch durchgeführte Faktor-VIII-Bestimmung deutlich zu hohe, falsche Werte anzeigt. Die Gerinnungswirksamkeit wird entsprechend einer Faktor-VIII-Aktivität von etwa 10–15 % geschätzt, sodass bei relevanten Blutungen oder Operationen eine zusätzliche Gerinnungstherapie erforderlich ist. Zur Steuerung einer Faktor-VIII-Therapie unter Emicizumab-Prophylaxe müssen spezielle chromogene Tests mit bovinen Reagenzien genutzt werden. Die Effektivität zur Blutungsprophylaxe ist gut, sodass > 60–80 % der Hämophilen unter Emicizumab-Prophylaxe keine Blutungen haben (Callaghan et al. 2021).
In klinischer Entwicklung befinden sich zudem Präparate, die über eine Reduktion der physiologischen körpereigenen Gerinnungsinhibitoren (Abb. 1c) eine Rebalancierung der Hämostase und damit eine Blutungsreduktion erreichen. In der Phase-3-Prüfung befinden sich ein Antithrombinsynthesehemmer und Antikörper gegen Tissuefactor Pathway Inhibitor (TFPI).
Gentherapie
Da die Hämophilie A und B monogenetisch vererbte Erkrankungen sind, eigenen sie sich für die Gentherapie. Bei der Gentherapie der Hämophilie werden AAV-Vektoren genutzt, um das Faktor VIII- oder IX-Gen in die Leberzelle zu bringen, wo es dann episomal im Zellkern verbleibt ohne relevante Integration in das Wirtsgenom. Abhängig vom genutzten AAV-Serotyp und dem Vorhandensein präexistenter neutralisierender AAV-Antikörper sind nicht alle Betroffenen für die Gentherapie geeignet. Auch bei einer relevanten Lebererkrankung ist eine Gentherapie nicht möglich. Für die Hämophilie A wurde die erste Gentherapie im August 2022 zugelassen, für die Hämophilie B im Februar 2023. Jedoch ist das Ansprechen auf die Gentherapie individuell sehr variabel und die Dauer der Genexpression wahrscheinlich begrenzt. Als häufigste Nebenwirkung wird ein Transaminasenanstieg, der unbehandelt zum Verlust der Genexpression führen kann, beobachtet und in der Regel mit einer Steroidtherapie behandelt. Deshalb sind vor allem im ersten Jahr nach Gentherapie engmaschige Überwachungen der Leberfunktion und Faktorexpression erforderlich. (Ozelo et al. 2022).
Therapie der akuten Blutung
Die Intensität der Blutungsbehandlung richtet sich nach der Schwere der Blutung und der Blutungslokalisation, kritische Blutungslokalisationen sind z. B. intrazerebrale, Mundboden- und gastrointestinale Blutungen, die einer hochdosierten Substitution bedürfen. Grundsätzlich kann die Dosis zur Substitution nach folgender Formel berechnet werden:
  • Die Gabe von 1 IE/kg Körpergewicht führt zum Anstieg des jeweiligen Faktors im Plasma von 1–2 %.
In Tab. 2 sind die empfohlenen Dosierungen zur Behandlung von Blutungen je nach Lokalisation aufgeführt. (Querschnittsleitlinie der Bundesärztekammer 2020; Srivastava et al. 2020). Die Intervalle der weiteren Substitution sind abhängig von der Halbwertszeit des substituierten Gerinnungsfaktors. Z. B. bei einer Halbwertszeit eines Standard-Faktor-VIII-Konzentrates von 10–12 Stunden ist bei Hämophilie A meist eine zwei- bis dreimal tägliche Faktor VIII-Substitution erforderlich. Die Substitution sollte ausreichend lange fortgesetzt werden, um Nachblutungen zu vermeiden und eine adäquate Wundheilung zu gewährleisten bzw. bei einer Gelenkblutung eine chronische Synovitis zu verhindern. Die in der Tabelle genannten Dosierungen und Zeiträume sind lediglich Richtwerte, die Substitution muss immer individuell, auch abhängig vom klinischen Verlauf, festgelegt werden. Zur Steuerung der Substitution sollten Faktorspiegel direkt vor der anstehenden Substitution bestimmt werden (Talspiegel), anhand derer eine eventuelle Dosisanpassung vorgenommen werden sollte.
Tab. 2
Empfehlungen zur initialen Dosierung und initialen Spitzenspiegeln zur Blutungstherapie
Blutungslokalisation
Initiale Dosierung des FVIII- oder FIX-Konzentrats1
Angestrebter Spitzenspiegel (initial)2
Mittlere Dauer der Substitution2
Gelenk
40–60 IE/kg
40–60 %
1–2 Tage
Muskulatur (außer Iliopsoas)
20–40 IE/kg
40–60 %
2–3 Tage
Iliopsoas
40–60 IE/kg
80–100 % (HA) 60–80 % (HB)
5–7 Tage
Intrakraniell
50–80 IE/kg
80–100 % (HA) 60–80 % (HB)
14–28 Tage
Mundboden/Hals
40–60 IE/kg*
80–100 % (HA) 60–80 % (HB)
8–21 Tage
Gastrointestinal
30–60 IE/kg*
80–100 % (HA) 60–80 % (HB)
7–14 Tage
Niere/Hämaturie
20–40 IE/kg
50 % (HA), 40 % (HB)
3–5
HA= Hämophilie A; HB= Hämophilie B, FVIII= Faktor VIII, FIX= Faktor IX
1Empfehlungen aus der Querschnittsleitlinie der Bundesärztekammer 2020
2Empfehlungen aus der WFH-Leitlinie zur Therapie der Hämophilie, Srivastava et al. 2020
*Bei lebensbedrohlichen Blutungen 50–80 IE/kg
Blutungsprophylaktische Therapie
Bei Personen mit schwerer (und mittelschwerer) Hämophilie besteht ein hohes Risiko für spontane Gelenkblutungen und deshalb in der Regel die Indikation zur Prophylaxe, die durch die Betroffenen selbst in Form der ärztlich kontrollierten Heimselbstbehandlung durchgeführt wird. Hierbei lernen die Patienten*innen oder ihre Eltern, das Faktorkonzentrat selbst intravenös zu spritzen. Bei einer nicht schweren Hämophilie wird die Indikation abhängig vom individuellen Blutungsphänotyp gestellt. Zur Prophylaxe können Faktorkonzentrate mit Standard- oder verlängerter Halbwertszeit eingesetzt werden, bei Hämophilie A ist auch die Prophylaxe mit dem bispezifischen Antikörper Emiczumab möglich. Wenn die Prophylaxe mit Faktorkonzentrat durchgeführt wird, werden Talspiegel von > 3–5 % empfohlen, um einen effektiven Blutungsschutz zu gewährleisten. Abhängig von individuellen Faktoren wie Aktivität, Begleiterkrankungen, Ausmaß der Gelenkerkrankung und individueller Pharmakokinetik sind eventuell Anpassungen notwendig. Ziel der Prophylaxe ist es, dass keine Blutungen auftreten (Srivastava et al. 2020). Auch die Auswahl des Medikaments zur Prophylaxe ist von individuellen Faktoren und Präferenzen der Betroffenen abhängig. Wegen der Komplexität der Therapiemöglichkeiten und Überwachung sollten Personen mit Hämophilie in dafür spezialisierten Zentren (Hämophiliezentren) behandelt werden.
Die meisten Personen mit milder Hämophilie, die im täglichen Leben keine schwere Blutungsneigung haben, erhalten eine Therapie im Fall von Blutungen (Bedarfsbehandlung). Bei der milden Hämophilie A ist zur Blutungsbehandlung oder perioperativen Therapie mit dem Vasopressinanalogon DDAVP eine Freisetzung von Faktor VIII aus den Endothelzellen und damit eine vorübergehende Erhöhung der Faktor-VIII-Aktivität möglich. Möglichst sollten Wirksamkeit und Verträglichkeit vorher getestet werden. Als mögliche Nebenwirkung kann es zur Wasserretention mit der Folge einer Verdünnungshyponatriämie kommen, deshalb wird an den Tagen der DDAVP-Gabe eine Flüssigkeitsrestriktion bzw. sorgfältige Bilanzierung empfohlen. Vorteil der DDAVP-Therapie im Vergleich zu Faktor-VIII-Konzentraten ist die breitere Verfügbarkeit und dass kein Risiko für die Entwicklung eines Inhibitors besteht.
Auch in Ländern mit geringen Ressourcen ist häufig nur eine Bedarfsbehandlung, auch bei schwerer Hämophilie, möglich, mit der Folge der Entwicklung einer schweren hämophilen Arthropathie, wie es bei älteren Patienten und Zuwanderern aus ressourcenarmen Ländern beobachtet wird.
Mit der Zulassung der ersten Gentherapien für die Hämophilie A oder B steht auch diese Therapieoption zur Verfügung für einige Patienten mit guter Leberfunktion und ohne relevante AAV-Antikörper.
Perioperatives Management
Vor jeder Operation sollte ein Inhibitor gegen den zu substituierenden Gerinnungsfaktor ausgeschlossen sein und es sollte ein detaillierter Substitutionsplan vorliegen mit Angaben der Dosierung und Intervalle der Substitutionstherapie sowie der Laborkontrollen zur Steuerung der Therapie. Bei Operationen mit relevantem OP-bedingtem Blutungsrisiko und großer Wundfläche sollte die initiale Dosierung der Faktor-VIII- oder -XI-Konzentrats bei 50–80 IE/kg Körpergewicht liegen, bei Operationen mit geringerem Blutungsrisiko und kleinen Wundflächen 25–40 IE/kg (Querschnittsleitlinie der Bundesärztekammer 2020). Eine ausreichend lange Substitution, abhängig von der Art der OP und dem klinischen Verlauf, ist erforderlich, um eine adäquate Wundheilung zu gewährleisten.
Durch den Gerinnungsfaktormangel bei der Hämophilie ist das Risiko für venöse Thrombosen geringer als in der Normalbevölkerung, deshalb ist die Indikation zur perioperativen Thromboseprophylaxe umstritten und sollte individuell an die Risikofaktoren des Patienten angepasst werden.
Dokumentation nach Transfusionsgesetz
Nachdem es in den 1980er-Jahren zur Übertragung von HIV und Hepatitis durch kontaminierte Blutprodukte gekommen ist, wurde im Transfusionsgesetz (TFG) u. a. die Anwendung von Gerinnungsfaktorkonzentraten und Medikamenten zur Behandlung der Hämophilie geregelt. Dazu gehört die Dokumentationspflicht nach § 14 TFG, bei der jede Gabe eines Gerinnungsfaktorkonzentrats mit Dosis, Chargennummer, Datum, Uhrzeit und Substitutionsgrund dokumentiert werden muss. Das betrifft auch gentechnisch hergestellte Gerinnungsfaktorkonzentrate und den bispezifischen Antikörper Emicizumab.
Nach § 21 TFG sind alle Ärzte, die Personen mit Hämophilie behandeln, dazu verpflichtet, nach Einwilligung der Betroffenen die Daten als Einzelmeldung oder bei fehlender Einwilligung zumindest die Daten zum Faktorverbrauch nach Art der Blutungsneigung und Schweregrad als Sammelmeldung an das Paul-Ehrlich-Institut in das Deutsche Hämophilieregister zu melden. Bei nicht erfolgter oder nicht vollständiger Meldung drohen Sanktionen.

Verlauf und Prognose

Vor Entdeckung der Blutgruppen war keine sichere Therapie der Hämophilie möglich, die Mortalität der ersten Bluttransfusionen war hoch. Deshalb lag die mittlere Lebenserwartung für Personen mit schwerer Hämophilie bei etwa elf Jahren. Mit der Blut- und später Plasmatransfusion war erstmals eine Therapie möglich, die aber nur zu einem geringen Anstieg der Faktoraktivität führte. Mit Entdeckung des Kryopräzipitats 1965 und Entwicklung der ersten aus Plasma gewonnenen Faktorkonzentrate in den 1970er-Jahren wurde erstmals eine prophylaktische Behandlung der Hämophilie möglich, was zu einer deutlichen Reduktion der Mortalität und Morbidität führte. Zu der Zeit wurde auch die ärztlich kontrollierte Heimselbstbehandlung eingeführt, um den Betroffenen ein unabhängiges und voll integriertes Leben zu ermöglichen.
Einen erneuten Einbruch in der Lebenserwartung gab es durch die Übertragung von HIV und Hepatitis durch kontaminierte Faktorkonzentrate Ende der 1970er bis Mitte der 1980er-Jahre. Nach Entwicklung von wirksamen Verfahren zur Virusinaktivierung und der gentechnischen Herstellung von Faktorkonzentraten ist eine wirksame und sichere Therapie der Hämophilie möglich und die Lebenserwartung mit schwerer Hämophilie liegt nur noch gering unter der der Normalbevölkerung, wobei intrazerebrale Blutungen weiterhin zu einer gewissen Übersterblichkeit beitragen (Hassan et al. 2021), was die Empfehlung zur Prophylaxe bei schwerer Hämophilie auch bei älteren Betroffenen untermauert.
Die Morbidität wird heute in erster Linie durch die Gelenkerkrankung, die hämophile Arthropathie, bestimmt. Insbesondere ältere Betroffene, für die in der Kindheit noch keine sichere Therapie zur Verfügung stand, leiden unter der hämophilen Arthropathie, die häufig zu chronischen Schmerzen und Einschränkung der Mobilität führt. Aber auch bei jüngeren Menschen mit Hämophilie kann es trotz der Prophylaxe noch zu einer Arthropathie vor allem der Sprunggelenke kommen.
Die älteren Patienten*innen sind auch häufiger von Folgen der Infektionen mit HIV und Hepatitis oder deren Therapie betroffen, was zur Morbidität und Mortalität beiträgt.
Die wichtigsten und häufigsten Komplikationen der Hämophilie sind die Entwicklung von Inhibitoren gegen den substituierten Gerinnungsfaktor (Hemmkörper), die hämophile Arthropathie und die Folgen der in den 1980er-Jahren durch kontaminierte Blutprodukte erworbenen Infektionen mit HIV und Hepatitis.
Inhibitoren (Hemmkörper)
Inhibitoren bei Hämophilie sind neutralisierende Antikörper gegen exogenen Faktor VIII (Hämophilie A) oder Faktor IX (Hämophilie B). Ein Verdacht auf einen Inhibitor besteht, wenn ein fehlendes klinisches Ansprechen auf die Substitutionstherapie auffällt und kein adäquater Substitutionseffekt im Labor nachweisbar ist. Bei Hämophilie B tritt häufig dann zusätzlich eine allergische Reaktion auf das Faktorkonzentrat auf. Zur Messung eines Inhibitors kann als Screeningtest ein Plasmamischversuch eingesetzt werden, zur Bestätigung und Quantifizierung sollte der spezifische Bethesda-Assay mit der Nijmegen-Modifikation eingesetzt werden.
Das Risiko, einen inhibitorischen Antikörper gegen den substituierten Gerinnungsfaktor zu entwickeln, liegt bei der schweren Hämophilie A bei etwa 30 % (Srivastava et al. 2020) und bei der schweren Hämophilie B bei etwa 10 % (Male et al. 2021). Inhibitoren treten vor allem in der Anfangszeit der Substitutionstherapie (in den ersten 50 Expositionstagen), also im Kindesalter auf. Aber auch im späteren Verlauf können sich noch Inhibitoren entwickeln, insbesondere im höheren Alter scheint das Risiko wieder anzusteigen. Bei Patienten mit milder Hämophilie A bleibt das Inhibitorrisiko dauerhaft erhöht und liegt bei etwa 7 % nach 50 und 13 % nach 100 Expositionstagen, insbesondere nach intensiven Substitutionsphasen. Deshalb sollte bei milder Hämophilie A immer als Alternative zur Blutungsbehandlung DDAVP in Betracht gezogen werden. Das Risiko der für die Inhibitorentwicklung wird z. B. die Art der Mutation bestimmt, auch eine genetische Prädisposition des Immunsystems wird vermutet, weshalb eine positive Familienanamnese als Risikofaktor für Inhibitoren gilt. Des Weiteren werden äußere Einflüsse, wie intensive Behandlungsepisoden in den ersten Expositionstagen, vor allem bei Trauma und schweren Blutungen, als Triggerfaktoren des Immunsystems („Danger signals“), Bedarfsbehandlung und Art der Therapie als Risikofaktoren diskutiert.
Wenn durch die neutralisierenden Antikörper, häufig auch bei höherer Dosierung, keine wirksamen Spiegel des Gerinnungsfaktors erreicht werden können oder Personen mit Hämophilie B allergisch reagieren, müssen Blutungen mit sog. „Bypassprodukten“ behandelt werden. Diese können durch hohe Dosen von voraktivierten Gerinnungsfaktoren (z. B. Faktor VII) das Fehlen der Amplifikation über Faktor VIII/IX zumindest zum Teil kompensieren. Bypassprodukte sind z. B. rekombinanter aktivierter Faktor VII (rFVIIa) oder die voraktivierten Faktoren des Prothrombin-Komplex-Konzentrats (aPCC). Wegen der kurzen Wirkdauer dieser Präparate ist eine effektive Prophylaxe damit schwierig. Für die Hämophilie A steht jedoch auch bei Vorhandensein eines Inhibitors das Faktor VIII-mimetische Emicizumab für die Prophylaxe zur Verfügung, da dieses als bispezifischer Antikörper mit den Faktor VIII-Antikörpern nicht kreuzreagiert.
Um eine Therapie mit dem Faktorkonzentrat wieder zu ermöglichen, wird eine Elimination des Inhibitors angestrebt. Diese erfolgt in der Regel durch die immunmodulatorisch wirksame hochdosierte Therapie mit dem Faktorkonzentrat, gegen das sich der Antikörper gebildet hat (Immuntoleranztherapie, ITT), z. B. nach dem „Bonn“-Protokoll mit initial 2 x täglich 100–150 IE/kg Körpergewicht. Damit können bei der Hämophilie A in 60–80 % der Fälle der Inhibitor eradiziert werden.
Da bei der Hämophilie B die ITT weniger erfolgreich ist und es häufiger zu Nebenwirkungen kommt wie allergischen Reaktionen oder nephrotischem Syndrom, ist das Therapiekonzept weniger klar. Einige Patienten konnten erfolgreich mit einem immunsuppressiven Therapieregime in Kombination mit Faktor-IX-Konzentraten behandelt werden. (Astermark et al. 2021). Die Therapieentscheidung muss somit individuell getroffen werden. Eine Immunsuppression kann auch bei schwierig zu behandelnden Patienten mit Hämophilie A eingesetzt werden.
Hämophile Arthropathie
Eine Blutung in ein Gelenk führt häufig zu einer entzündlichen Reaktion der Gelenkschleimhaut, der zunächst akuten Synovitis. Dadurch steigt das Risiko für weitere Blutungen, sodass es im Verlauf zu einer chronischen Synovitis kommen kann. Bei der chronischen Synovitis kommt es nicht nur durch die direkten toxischen Effekte des Blutes zu einer Schädigung von Knorpel und Knochen, sondern auch durch die inflammatorischen Zytokine. Neben der Destruktion des Knorpels kommt es im späteren Stadium der hämophilen Arthropathie zu knöchernen Deformitäten mit Osteophyten und Blutungszysten sowie deutlicher Bewegungseinschränkung. Die meisten Menschen mit hämophiler Arthopathie leiden unter rezidivierenden oder chronischen Schmerzen.
Deshalb ist die ausreichend intensive und ausreichend lange Behandlung einer Gelenkblutung entscheidend. Um die damit verbundene Inflammation zu reduzieren, ist zusätzlich eine antiphlogistische Therapie sinnvoll. Nach Abklingen der akuten Blutung sollte mithilfe von Krankengymnastik die Gelenkfunktion und Koordination wieder hergestellt werden.
Die Behandlung der hämophilen Arthropathie sollte multidisziplinär erfolgen. Krankengymnastik spielt eine entscheidende Rolle bei der Prophylaxe und Behandlung der hämophilen Arthropathie sowie zur Schmerzreduktion. Bei chronischer Synovitis ist die nuklearmedizinische Behandlung mittels Radiosynoviorthese eine wirksame und nebenwirkungsarme Option. Mit der Hämophilie vertraute Orthopäden sollten für die konservative und operative Behandlung der Gelenkerkrankung frühzeitig eingebunden werden, bei fortgeschrittener Arthropathie sind Gelenkersatz und Arthrodese Optionen. Bei fortgeschrittener hämophiler Arthropathie ist zudem häufig eine multimodale Schmerztherapie zur Behandlung der chronischen Schmerzen erforderlich. Bei der Schmerztherapie ist das Nebenwirkungsprofil der Medikamente und die Begleiterkrankungen der Betroffenen zu beachten. Z. B. sollte ASS wegen der stärkeren Hemmung der Thrombozytenfunktion und des höheren Risikos für gastrointestinale (GI) Blutungen bei Hämophilie nicht zur Schmerztherapie eingesetzt werden. Nicht-steroidale Antirheumatika (NSAR) sind wegen der antiphlogistischen Wirkung effektiv zur Schmerzreduktion, das erhöhte Risiko für GI-Blutungen bei COX1-selektiven NSAR und das erhöhte kardiovaskuläre Risiko bei COX2-selektiven NSAR müssen berücksichtigt werden sowie die häufig begrenzte Wirksamkeit von Opioiden. Bei schweren chronischen Schmerzen sollte ein Schmerztherapeut eingebunden werden.
Infektionen
Durch Verfahren zur Virusinaktivierung und die gentechnische Herstellung der Medikamente werden heute Infektionen wie Hepatitis und HIV nicht mehr über Gerinnungsfaktorkonzentrate übertragen. In Deutschland ist die Wahrscheinlichkeit der Übertragung von Infektionen über Bluttransfusionen auch sehr gering.
Die durch Infektionen mit HIV und Hepatitis aus den 1980er-Jahren Betroffenen profitieren heute von den antiretroviralen Medikamenten zur HIV-Therapie und von den neueren direkten antiviralen Medikamenten zur Behandlung der Hepatitis C. Allen Betroffenen mit chronischer Hepatitis C und nachweisbarer Viruslast sollte eine Behandlung der Hepatitis C angeboten werden, um das Risiko für Entwicklung einer Leberzirrhose und eines hepatozellulären Karzinoms (HCC) zu reduzieren.

Besondere Behandlungssituationen

Hämophilie im Kindesalter
Da es sich um eine angeborene Erkrankung mit abhängig vom Schweregrad relevanter Blutungsneigung handelt, wird bei schwerer Hämophilie oder positiver Familienanamnese die Diagnose häufig im frühen Kindesalter gestellt. Bei schwerer Hämophilie wird in der Regel nach ausführlicher Beratung der Eltern und Auswahl des Medikamentes zur Therapie der Hämophilie eine prophylaktische Therapie begonnen, um Blutungen und die Entwicklung einer hämophilen Arthropathie zu verhindern. Wenn das Kind mit Gerinnungsfaktorkonzentraten behandelt wird, sind engmaschige Kontrollen des Inhibitors erforderlich, da vor allem in den ersten Expositionstagen das Inhibitorrisiko hoch ist. Eine umfangreiche Schulung der Eltern zur intravenösen Injektion, zum Erkennen und Behandeln von Blutungen ist erforderlich.
Konduktorinnen/Frauen mit Hämophilie
Auch wenn Frauen als Konduktorinnen meist nicht schwer betroffen sind von der Hämophilie, haben doch einige Frauen eine klinisch relevante Blutungsneigung. Durch mögliche Inaktivierung des gesunden X-Chromosoms haben einige Frauen eine milde bis hin zur mittelschweren Hämophilie. Deshalb sollte bei jeder Konduktorin die Faktor-VIII- bzw. -IX-Aktivität bekannt sein, insbesondere vor einer Operation. Da Frauen durch die Menstruationsblutung und Geburten besonderen Blutungsrisiken ausgesetzt sind, können auch Faktorrestaktivitäten von 40–50 % zur klinisch relevanten Blutungsneigung und Therapiebedürftigkeit führen.
Töchter von hämophilen Männern und Mütter mehrerer hämophiler Söhne gelten als obligate Konduktorinnen. Die Schwester eines Hämophilen kann Konduktorin sein, was häufig erst durch die genetische Untersuchung eindeutig geklärt werden kann.
Bei Kinderwunsch ist dann eine ausführliche Beratung zum Vererbungsmodus und den Folgen für einen mit 50 % Wahrscheinlichkeit betroffenen Jungen und dessen Therapiemöglichkeiten erforderlich.
Hämophilie im Alter
Bei heutiger Verfügbarkeit sicherer Therapien steigt die Lebenserwartung der Menschen mit Hämophilie, sodass neben der o. g. hämophiliebedingten Folgeerkrankungen wie hämophiler Arthropathie mit Immobilität und chronischen Schmerzen oder Folgen der HIV-Infektion oder Hepatitis normale altersbedingte Erkrankungen behandelt werden müssen, von denen hier einige kurz dargestellt werden.
Die Inzidenz der arteriellen Hypertonie scheint bei Hämophilie höher zu sein als in der nicht-hämophilen Bevölkerung. Eine nicht suffizient behandelte arterielle Hypertonie gilt als Risikofaktor für intrakranielle Blutungen und für weitere kardiovaskuläre Erkrankungen, sodass ein frühzeitiges Erkennen und Behandeln einer arteriellen Hypertonie prognoserelevant ist für diese Patientengruppe.
Die Häufigkeit thrombotischer Ereignisse sowie von Herzinfarkten und Schlaganfällen scheint noch geringer als in der Normalbevölkerung, bei weiterer Verbesserung der Hämophilietherapie ist aber damit zu rechnen, dass sich diese annähert. Die Hämophilie schützt nicht vor Arteriosklerose, sodass das Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse insbesondere in Phasen intensiver Substitutionstherapie wie bei Operationen ansteigt.
Wenn es zu kardiovaskulären Ereignissen gekommen ist oder z. B. Vorhofflimmern auftritt, muss das erhöhte Blutungsrisiko bei Hämophilie gegenüber dem Risiko für ein thrombotisches Ereignis abgewogen werden. Die Evidenz zum Management ist schwach, Kohortenstudien zeigen jedoch, dass bei einer Faktoraktivität < 20 % ein relevant gesteigertes Blutungsrisiko unter einer antithrombotischen Therapie besteht. Deshalb ist eine sorgfältige interdisziplinäre Nutzen-Risiko-Abwägung bei prinzipieller Indikation zur antithrombotischen Therapie erforderlich.
Wenn Menschen mit Hämophilie eine Tumorerkrankung entwickeln, sollte die Diagnostik und Therapie unter entsprechender blutungsprophylaktischer Therapie leitliniengemäß wie bei nicht-hämophilen Personen erfolgen. Dabei ist insbesondere das erhöhte Blutungsrisiko bei Operationen, welches ein sorgfältig überwachtes perioperatives Gerinnungsmanagement erfordert, und bei z. B. chemotherapiebedingter Thrombozytopenie zu berücksichtigen (Srivastava et al. 2020).

Erworbene Hämophilie

Definition und Pathophysiologie

Die erworbene (Hemmkörper-)Hämophilie entsteht durch Entwicklung von Autoantikörpern, meist gegen Faktor VIII, bei zuvor gerinnungsgesunden, meist älteren Menschen im Sinne einer Autoimmunerkrankung. Dadurch kommt es zu schweren, häufig lebensbedrohlichen Blutungen.

Epidemiologie

Die erworbene Hemmkörperhämophilie gehört zu den seltenen Erkrankungen, die Häufigkeit liegt bei etwa 1,5–5/1.000.000 Einwohner pro Jahr. Das mediane Erkrankungsalter liegt bei etwa 74 Jahren. Bei mehr als 60 % der Fälle liegt keine prädisponierende Grunderkrankung vor. Prädisponierende Grunderkrankungen können z. B. andere Autoimmun- oder rheumatische Erkrankungen, maligne Erkrankungen sein, etwa 2–5 % der Fälle treten bei jungen Frauen peripartal auf. Männer und Frauen sind im Wesentlichen gleich häufig betroffen, wobei bei dem Erkrankungsgipfel im Alter von 20–40 Jahren vorwiegend peripartale Hemmkörperhämophilien bei Frauen zu finden sind und im höheren Alter Männer geringfügig häufiger betroffen sind (Tiede et al. 2015).

Klinik

Typische Blutungsmanifestationen bei erworbener Hemmkörperhämophilie sind großflächige Hauthämatome und Muskelblutungen. Anders als bei der angeborenen Hämophilie treten Gelenkblutungen nur selten auf. Schwere, zum Teil lebensbedrohliche Blutungsmanifestationen können Muskel- und Weichteilblutungen, Zungengrundblutungen, retroperitoneale, gastrointestinale, urogenitale und seltener intrakranielle Blutungen sein.

Diagnostik

Klinisch wegweisend sind Blutungen bei zuvor gerinnungsgesunden, meist älteren Menschen, vor allem großflächige Hauthämatome.
Labordiagnostisch fällt im Standardgerinnungslabor als Screening eine isoliert verlängerte aPTT auf, welche selten die einzige Manifestation der Erkrankung ist. Durch eine Bestimmung der Faktor-VIII-(IX-, XI-, XII-)Aktivität bestätigt sich der Faktor-VIII-Mangel und durch einen Plasmamischtest ein Inhibitor. Ein Faktor-VIII-Inhibitor sollte dann immer durch einen spezifischen Hemmkörpernachweis mit dem Bethesda-Test bestätigt und quantifiziert werden.
Entscheidend ist, bei typischer Blutungsmanifestation und verlängerter aPTT an die erworbene Hemmkörperhämophilie zu denken und umgehend die Diagnostik einzuleiten.

Differenzialdiagnostik

Differenzialdiagnostisch kommen bei Blutungen bei zuvor gerinnungsgesunden Menschen Inhibitoren gegen andere Gerinnungsfaktoren in Betracht, z. B. gegen Faktor V, ein erworbenes von-Willebrand-Syndrom, eine dekompensierte disseminierte intravasale Gerinnung, Lebersynthesestörung oder Thrombozytenfunktionsstörungen oder Thrombozytopenien. Bei den meist älteren Menschen mit z. B. kardiovaskulären Erkrankungen kann auch eine Kumulation/Überdosierung von Antikoagulanzien vorliegen. Bei jüngeren Menschen mit Blutungsneigung müssen insbesondere angeborene Gerinnungsstörungen (z. B. Hämophilie A oder B, Mangel anderer Gerinnungsfaktoren, von-Willebrand-Syndrom, angeborene Thrombozytopathien) abgegrenzt werden

Therapie

Die Therapie der erworbenen Hemmkörperhämophilie besteht aus zwei entscheidenden Elementen. An erster Stelle steht die Behandlung der akuten Blutung. Da das Risiko für weitere Blutungen hoch ist, ist zweites Element der Therapie, den Inhibitor zu eliminieren, meist durch eine Immunsuppression.
Therapie der akuten Blutung
Wegen der neutralisierenden Wirkung der Antikörper ist eine Faktor-VIII-Substitution meistens nicht wirksam. Zur Therapie der akuten Blutung bei erworbener Hemmkörperhämophilie stehen mehrere Bypassprodukte zur Verfügung. Die Auswahl des Medikaments richtet sich nach Verfügbarkeit, individuellem Risikoprofil und klinischer Wirksamkeit im Verlauf. Für die Blutungsbehandlung stehen rekombinanter aktivierter Faktor VII (rFVIIa), aktiviertes Prothrombinkomplexkonzentrat (aPCC) und rekombinanter porciner Faktor VIII (rpFVIII) zur Verfügung, die alle über eine gute klinische Wirksamkeit verfügen. Der Einsatz von DDAVP oder humanem Faktor VIII wird nicht als Therapie der ersten Wahl empfohlen (Tiede et al. 2020). Wenn rpFVIII eingesetzt wird ist zu beachten, dass bei einigen Patienten kreuzreagierende Antikörper vorliegen, die auch die Wirksamkeit von rpFVIII einschränken. Deshalb sollte auf Inhibitoren gegen rpFVIII möglichst vorher getestet werden und es wird ein engmaschiges Monitoring des Substitutionseffekts über die Faktor VIII-Aktivität empfohlen.
Bei schwerwiegenden Weichteilblutungen kann zusätzlich eine antifibrinolytische Therapie mit Tranexamsäure als ergänzende Blutungstherapie hinzugenommen werden. In Kombination mit Bypassprodukten kann ein leicht erhöhtes Thromboembolierisiko bestehen, welches gegen das Risiko der weiteren Blutung abgewogen werden muss (Tiede et al. 2020). Der Einsatz des für die angeborene Hämophilie A mit Inhibitor zugelassenen bispezifischen Antikörpers Emicizumab sollte möglichst nur im Rahmen von Studien erfolgen.
Inhibitoreradikation
Da auch nach erfolgreicher Blutungsbehandlung das Risiko für weitere Blutungen hoch bleibt, sollte, sofern keine Kontraindikationen bestehen, möglichst sofort nach Diagnosesicherung eine immunsuppressive Therapie begonnen werden, um die Phase zu verkürzen, in der ein hohes Blutungsrisiko besteht. Diese enthält in der Regel Steroide (z. B. Prednisolon 1 mg/kg), häufig in Kombination mit Cyclophosphamid oder Rituximab (Tiede et al. 2020).

Verlauf und Prognose

Prognoserelevant ist ein frühzeitiges Erkennen und Diagnostizieren der erworbenen Hemmkörperhämophilie, um weitere bedrohliche Blutungen und gefährdende Operationen zu verhindern. Wegen des hohen Blutungsrisikos sollten invasive Maßnahmen nur bei zwingender Indikation nach sorgfältiger Nutzen-Risikoabwägung erfolgen.
Die Mortalität durch Blutungen ist mit Verbesserung der Blutungstherapie im Laufe der Jahre gesunken und lag in der jüngsten Registerstudie bei etwa 3 %, dagegen lag die Mortalität an Folgen der Immunsuppression zuletzt bei etwa 16 %, an kardiovaskulären Ereignissen bei 6 %. Eine anhaltende komplette Remission konnte am Ende der Beobachtungszeit bei etwa 50 % der Fälle erreicht werden. Eine Faktor-VIII-Aktivität < 1 % und ein WHO-Performance-Status > 2 bei Diagnosestellung waren mit einer schlechteren Prognose bezüglich des Gesamtüberlebens assoziiert, auch die Dauer bis zum Erreichen einer Remission ist länger bei einer Faktor-VIII-Aktivität < 1 % (Tiede et al. 2015).
Die mediane Dauer bis zum Erreichen eines Faktor-VIII-Anstiegs auf > 50 % liegt bei 4–7 Wochen (Tiede et al. 2015). Wegen der höheren Mortalität durch Folgen der Immunsuppression als durch Blutungen sollten Intensität der Immunsuppression und Auswahl der Medikamente an den Allgemeinzustand und Risikofaktoren der Betroffenen angepasst werden (Tiede et al. 2020).
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