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DGIM Innere Medizin
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Publiziert am: 30.03.2017

Leitsymptom: Anurie/Oligurie

Verfasst von: Markus Meier
Eine Urinausscheidung von <500 ml pro Tag wird als Oligurie und <100 ml pro Tag als Anurie bezeichnet. Ein Rückgang der Harnausscheidung wird im klinischen Alltag sehr häufig beobachtet und muss zügig differenzialdiagnostisch abgeklärt werden. Die wichtigste Differenzialdiagnose ist die akute Nierenschädigung (akutes Nierenversagen, ANV), dessen Prognose sich mit jeder Stunde verzögerten Behandlungsbeginn verschlechtert. Dabei ist die Urinausscheidung kein verlässlicher Parameter für die Nierenfunktion, da das ANV sowohl mit einer Oligurie/Anurie als auch mit einer Polyurie einhergehen kann. Die klinischen Symptome sind abhängig von der jeweiligen Differenzialdiagnose.

Definition

Eine Urinausscheidung von <500 ml pro Tag wird als Oligurie und <100 ml pro Tag als Anurie bezeichnet.

Klinik

Ein Rückgang der Harnausscheidung wird im klinischen Alltag sehr häufig beobachtet und muss zügig differenzialdiagnostisch abgeklärt werden. Die wichtigste Differenzialdiagnose ist die akute Nierenschädigung (Kap. Akutes Nierenversagen (AKI), Diagnostik, ANV), dessen Prognose sich mit jeder Stunde verzögerten Behandlungsbeginn verschlechtert (Anderson et al. 1977). Dabei ist die Urinausscheidung kein verlässlicher Parameter für die Nierenfunktion, da das ANV sowohl mit einer Oligurie/Anurie als auch mit einer Polyurie einhergehen kann. Die klinischen Symptome sind abhängig von der jeweiligen Differenzialdiagnose.

Diagnostik

Da ein verzögerter Therapiebeginn eines ANV die Prognose verschlechtert, sollte ein standardisiertes diagnostisches Vorgehen erfolgen, um die Ursache der Oligurie oder Anurie rasch zu erkennen: Im Vordergrund steht dabei die sonographische Diagnostik, da diese als nicht invasives Verfahren ubiquitär verfügbar ist und insbesondere ein postrenales Nierenversagen dadurch zügig ausgeschlossen werden kann (Abb. 18). Die notwendige Urindiagnostik umfasst den Urinstreifentest (spezifisches Gewicht, Albuminurie), das Urinsediment (dysmorphe Erythrozyten, Erythrozytenzylinder) und die Bestimmung der endogenen glomerulären Filtrationsrate (Kreatininclearance) sowie des Urinnatriums im Sammelurin. Zu beachten ist, dass insbesondere das Urinnatrium bei Diuretikatherapie trotz des intravasalen Volumenmangels erhöht sein kann (>10 mmol/l). Nach Pausieren der Diuretikamedikation kann jedoch durch wiederholte kurze Urinsammelperioden (2–4 Stunden) der intravasale Volumenmangel demaskiert werden (Abfall des Urinnatriums im Verlauf) (Dixon und Anderson 1985).
Die serologische Diagnostik hilft in der Akutsituation nicht weiter, da diese erst Tage später vorliegt (Antikörperdiagnostik). Dennoch ist die Serologie ein fester Bestandteil in der Differenzialdiagnostik der intrarenalen Nierenschädigung. Eine histologische Sicherung der Diagnose sollte beim Vorliegen eines intrarenalen ANV mit nephritischem Urinsediment auch ohne Vorliegen der serologischen Befunde erwogen werden, um eine rapid progressive Glomerulonephritis (RPGN) frühzeitig zu erkennen (Abb. 9) (Khwaja 2012).

Differenzialdiagnosen

Exsikkose (Dehydratation)

Der Begriff beschreibt die klinischen Zeichen eines Volumenmangels (stehende Hautfalten, trockene Schleimhäute, insbesondere der Zunge, eingesunkene Augen, Hypotonie, Tachykardie) mit oder ohne Nierenversagen. Der Urin ist oft dunkel und hat ein hohes spezifisches Gewicht (>1025, Hypersthenurie). Unter Diuretikatherapie oder bei einer akuten Tubulusnekrose (ATN) kann der Urin aber auch hell sein und ein spezifisches Gewicht von <1020 aufweisen (Dixon und Anderson 1985).

Prärenales akutes Nierenversagen (60–70 %)

Klinische Zeichen des Volumenmangels (Exsikkose) mit Abfall der glomerulären Filtrationsrate (GFR) und Anstieg des Serumkreatinins um mindestens 0,3 mg/dl (Abb. 9). Dabei ist auch ein Anstieg der Retentionsparameter innerhalb des Referenzbereiches formal mit der Diagnose einer akuten Nierenschädigung vereinbar (akutes Nierenversagen des vorher nierengesunden Patienten). Durch die Bestimmung der endogenen Kreatinin- und Harnstoffclearance (Sammelurin) während des Volumenmangels und nach entsprechender Rekompensation kann der Abfall der glomerulären Filtrationsrate (GFR) nachgewiesen werden (Dixon und Anderson 1985; Khwaja 2012).
Zu beachten ist, dass trotz peripherer Ödeme ein intravasaler Volumenmangel vorliegen kann (z. B. bei Hypalbuminämie).
Zu den häufigsten Ursachen des Volumenmangels zählen die Diuretikatherapie, Fieber, Durchfall, Erbrechen und Blutverluste. Auch bei jeder Form des Schocks (hypovolämisch, vasodilatatorisch oder kardiogen) kann es durch eine renale Hypoperfusion (Blutdruckabfall) zu einer prärenalen Nierenschädigung kommen.

Intrarenales Nierenversagen (20–30 %)

Ursächlich für ein intrarenales ANV sind:
Akute Tubulusnekrose (ATN)
Ischämischer Nierenschaden mit Ausfall der Tubulustransportfunktion und Verlust der renalen Konzentrierfähigkeit (spezifisches Gewicht um 1010, Isosthen-urie, Urinnatrium >40 mmol/l, fraktionelle Natriumexkretion >2 %). Jede prärenale akute Nierenschädigung kann zu einer ATN führen, wenn die Ursache nicht schnell genug beseitigt wurde (Volumentherapie) (Dixon und Anderson 1985; Khwaja 2012). Weitere Ursachen einer ATN sind Rhabdomyolyse, Leichtkettenerkrankungen und Medikamente.
Rapid progressive Glomerulonephritis (RPGN)
Seltene Glomerulonephritis mit schnellem GFR-Verlust, die unbehandelt innerhalb weniger Wochen zu einer terminalen Niereninsuffizienz führen kann. Ursächlich sind in erster Linie ANCA-assoziierte Vaskulitiden (MPA, GPA), Anti-Basalmembran-Antikörper-Erkrankungen und Immunkomplexvaskulitiden (SLE, postinfektiöse Glomerulonephritis, Purpura Schönlein-Henoch). Typischerweise Nachweis von Akanthozyten und Erythrozytenzylindern im Urinsediment (glomeruläre Mikrohämaturie) sowie Nachweis einer Proteinurie (nephritisches Syndrom). Diagnostisch zwingende Indikation zur Nierenbiopsie (Chadban und Atkins 2005).
Interstitielle Nephritis
Interstitielle Nierenschädigung durch inflammatorische Infiltration. Ursächlich sind am häufigsten Medikamente (Antibiotika, NSAR). Aber auch im Rahmen von Systemerkrankungen (SLE, Sjörgen-Syndrom, Sarkoidose) oder Infektionen (Hantavirus, Leptospirose, CMV) kann eine interstitielle Nephritis auftreten. Klinisch bestehen oft Fieber (30 %), ein Exanthem (15 %) und eine Eosinophilie (25 %). Bei Infektiöser Genese sind Flankenschmerzen (Kapselspannungsschmerz durch ausgeprägte Organschwellung) typisch (Neilson 1989).
Rhabdomyolyse/Hämolyse
Nierenschädigung durch Myoglobin oder Hämoglobin, das nach glomerulärer Filtration zu einer Tubulusobstruktion und einem Tubulusschaden (Tubulustoxizität) führen kann. Ursächlich sind am häufigsten Muskeltraumen mit typischerweise stark erhöhten Werten der Creatinkinase (CK) und des Myoglobins im Serum. Aber auch eine schwere intravasale Hämolyse mit stark erhöhten freien Hämoglobinkonzentrationen im Plasma kann zu einer akuten Nierenschädigung führen (Transfusionsreaktionen, Malaria, Vergiftungen, Enzymdefekte). Der Urin ist typischerweise rötlich-bräunlich als Hinweis der Myoglobinurie und Hämoglobinurie (Giannoglou et al. 2007).
Leichtkettenerkrankungen
Im Rahmen eines Multiplen Myeloms oder MGUS sind mehrere Schädigungsmechnismen möglich: glomeruläre Nierenschädigungen (Kap. Amyloidose der Leber), tubuläre Schädigung und interstitielle Schädigungen (Plasmazellinfiltration, interstitielle Nephritis). Diagnostisch steht der Nachweis von monoklonalen Immunglobulinen im Vordergrund (Sanders et al. 1991).
Medikamente und Kontrastmittel
Direkt toxische und ischämische Effekte auf das Tubulussystem (ATN, s. o.) oder eine interstitielle Nephritis, die zum akuten Nierenversagen führen können. Diagnostisch sind die exakte Medikamentenanamnese und der zeitliche Zusammenhang zwischen Substanzapplikation und ANV entscheidend (Parfrey et al. 1989).
Chronische Niereninsuffizienz
Mindestens seit 3 Monaten bestehender Nierenschaden, der zu einer Einschränkung der GFR geführt hat. Eine Oligurie oder Anurie ist bei der terminalen Niereninsuffizienz nach jahrelanger Hämodialysetherapie typisch und im Langzeitverlauf zu erwarten.

Postrenales Nierenversagen (10 %)

Störungen des Harnabflusses auf verschiedenen Ebenen des harnableitenden Systems.
Prävesikale Obstruktion
Ein- oder beidseitige Ureterabflussstörung, bei der eine Nephrolithiasis, eine retroperitoneale Fibrose (Morbus Ormond) oder Tumoren ursächlich sein können. Diagnostisch bietet sich nach der Sonografie die Computertomografie (CT) an, da sowohl Konkremente (nativ-CT!) als auch extrauretere Raumforderungen sicher erkannt werden.
Intravesikale Obstruktion
Intravesikale Obstruktion mit ein- oder beidseitiger Ureterabflussstörung, die am häufigsten durch einen Tumor (z. B. Urothelkarzinom) verursacht wird. Anamnestisch wird oft eine Makrohämaturie berichtet.
Postvesikale Obstruktion (akuter Harnverhalt)
Häufigste Ursache eines postrenalen Nierenversagens, in der Regel durch eine Prostatahyperplasie oder einen verschlossenen Dauerkatheter verursacht. In der klinischen Untersuchung ist die prall gefüllte Harnblase als schmerzhafte palpable Resistenz im Unterbauch zu tasten.
Alle postrenale Harnabflussstörungen können sonographisch erkannt werden, sodass die initiale Sonografie besonderen Stellenwert in der Diagnostik hat.

Therapie

Die Therapie der Oligurie oder Anurie richtet sich nach der Grunderkrankung, so dass der Diagnostik besondere Bedeutung zukommt (Abb. 9). Bei der Exsikkose und der prärenalen Nierenschädigung ist die zügige Volumengabe die entscheidende Therapie. Das postrenale akute Nierenversagen (Harnaufstau) muss in der Regel durch eine Harnableitung (Dauerkatheter, Doppel-J-Schieneneinlage oder perkutane Nephrostomie) behandelt werden. Sollte eine intrarenale Ursache der Oligurie oder Anurie vorliegen, erfolgt eine ursachenspezifische Therapie.
Literatur
Anderson RJ, Linas SL, Berns AS, Henrich WL, Miller TR, Gabow PA, Schrier R (1977) Nonoliguric acute renal failure. N Engl J Med 296(20):1134CrossRefPubMed
Chadban SJ, Atkins RC (2005) Glomerulonephritis. Lancet 365(9473):1797CrossRefPubMed
Dixon BS, Anderson RJ (1985) Nonoliguric acute renal failure. Am J Kidney Dis 6(2):71CrossRefPubMed
Giannoglou GD, Chatzizisis YS, Misirli G (2007) The syndrome of rhabdomyolysis: pathophysiology and diagnosis. Eur J Intern Med 18(2):90CrossRefPubMed
Khwaja A (2012) KDIGO clinical practice guidelines for acute kidney injury. Nephron Clin Pract 120(4):179–184CrossRef
Neilson EG (1989) Pathogenesis and therapy of interstitial nephritis. Kidney Int 35(5):1257CrossRefPubMed
Parfrey PS, Griffiths SM, Barrett BJ, Paul MD, Genge M, Withers J, Farid N, McManamon PJ (1989) Contrast material-induced renal failure in patients with diabetes mellitus, renal insufficiency, or both. A prospective controlled study. N Engl J Med 320(3):143CrossRefPubMed
Sanders PW, Herrera GA, Kirk KA, Old CW, Galla JH (1991) Spectrum of glomerular and tubulointerstitial renal lesions associated with monotypical immunoglobulin light chain deposition. Lab Invest 64(4):527PubMed