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DGIM Innere Medizin
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Verfasst von:
Sylvia Pemmerl
Publiziert am: 05.12.2014

Notfall Vergiftung: Differenzialdiagnose und Erstbehandlung

Intoxikationen zählen beim Erwachsenen zu den häufigsten Todesursachen und bedingen 5–10 % aller Notarzteinsätze. Bei der Diagnostik haben sich neben der klinischen Einschätzung insbesondere „Point-of-Care“-Messmethoden bewährt gemacht. Eine symptomatische Therapie steht immer vor der spezifischen Vergiftungsbehandlung.

Einführung

Intoxikationen zählen zu den häufigsten Notfällen in der Präklinik. Abhängig von der Lokalisation bedingen sie 5–10 % aller Notarzteinsätze (in ländliche Region eher weniger, dafür in Ballungszentren mehr), wobei die Anzahl steigend ist. Die meisten Patienten bedürfen einer Vorstellung in der Notaufnahme, davon ein Teil auch weiterer stationärer Überwachung und Therapie, so dass rund 1–2 % aller Hospitalisationen Vergiftungsfälle sind. Bei Erwachsenen unter 35 Jahren zählen Intoxikationen zu den häufigsten Todesursachen (Dyckmanns 2011; Eyer und Zilker 2013; Tate und Nixon 1987).
Generell unterscheidet man akzidentielle von vorsätzlichen Vergiftungen, wobei Letztere den Großteil ausmachen und entweder in suizidaler Absicht oder durch den Missbrauch von meist illegalen Drogen zustande kommen. Schätzungen zur Folge leben in Deutschland ca. 200.000 drogenabhängige Menschen, die in ihrer Suchthistorie teilweise auch wiederholt akutmedizinisch behandlungspflichtig werden. Hinzu kommen noch einmal geschätzte 1,3 Mio. alkoholabhängige Patienten und 1,4 Mio. Menschen, die abhängig von verschiedensten Medikamenten sind (Dyckmann 2011; Eyer und Zilker 2013) und ebenfalls häufig medizinische Hilfe benötigen. Circa 10.000–15.000 Intoxikationen pro Jahr in Deutschland sind suizidaler Absichten geschuldet, in vielen Fällen mit nachfolgenden Notarzteinsätzen (Hoffmann und Goldfrank 1995).

Klinik

Vergiftungen können zu unterschiedlichsten klinischen Symptomen führen. Am häufigsten kommt es allerdings zu qualitativen und/oder quantitativen Vigilanzveränderungen, so dass insbesondere bei unklaren Bewusstlosigkeiten auch immer eine Intoxikation differenzialdiagnostisch in Betracht gezogen werden muss. Weiter können Störungen des Herz-Kreislauf-Systems (z. B. Hypotension bei Vergiftungen mit Betablockern oder Opiaten, Hypertension bei Vergiftungen mit Kokain oder Amphetaminen), der Atmung (z. B. Hyperventilation bei Vergiftungen mit Ecstasy bzw. Hypoventilation bei Alkoholvergiftungen oder Opiatintoxikationen) oder auch der Temperaturregulation (z. B. Hyperthermie nach Einnahme von Amphetaminen oder Ecstasy bzw. Hypothermie nach längerem Aufenthalt im Freien unter Drogeneinfluss) auftreten (s. auch Tab. 1). Um diese Symptome einer Intoxikation zuordnen zu können, bedarf es in der Erstbehandlung eines gewissen detektivischen Vorgehens vom Rettungsdienst bzw. Notarzt, das oft über die unmittelbare Patientenversorgung hinausgeht.
Tab. 1
Klinische Symptomatik verschiedener Noxen. (Nach Pemmerl 2013; Sivilotti 2013).
Wirkmechanismus Vergiftung
Beispiele
Klassische Pupillenveränderungen
Sonstige häufige Symptome
Psychopathologischer Befund
Sympathomimetische Wirkung
Kokain, Amphetamine, Koffein, Theopyllin
Mydriasis
Hyperthermie, Tachykardie, Hypertension, Tachypnoe, Tremor, Krampfanfälle, Hyperreflexie
Halluzinationen, Paranoia, Agitation
Anticholinerge Wirkung
Antihistamine, Trizyklische Antidepressiva, Parkinsonmedikamente, Atropin, Scopolamin
Mydriasis
Hyperthermie, Tachykardie, Hypertension, trockene Haut, Myoklonien
Agitation, Halluzinationen, Koma, Delirium
Halluzinogene
LSD, Designerdrogen
Mydriasis
Hyperthermie, Tachykardie, Hypertension, Nystagmus
Halluzinationen, Agitation, selten Koma
Heroin, Morphin, Methadon, Hydromorphon
Miosis
Hypotension, Bradykardie, Hypoventilation oder Apnoe, Hyporeflexie
Quantitative Vigilanzminderung bis zum Koma
Sedativ-hypnotisierende Wirkung
Benzodiazepine, Barbituarte, Alkohol, Zolpidem
Miosis
  
Cholinerge Wirkung
Organophosphate, Nervengifte, Insektizide, Physostigmin
Miosis
Bradykardie, Tachy- oder Bradypnoe, Diarrhoe und Tenesmen, Bronchokonstriktion, Krampfanfälle
Serotoningesteuerte Wirkung
MAOIs oder SSRIs
Mydriasis
Hyperthermie, Tachykardie, Hypertension, Tachypnoe, Termor, Moyklonien, Kloni oder Hyperreflexie, Flush
Verwirrtheit, Agitation, Koma

Präklinische Ersteinschätzung/-diagnostik

Steht eine Vergiftung differenzialdiagnostisch im Raum, sollten bereits präklinisch die Fragen „W“er, „W“as, „W“ieviel, „W“ovon, „W“ann und „W“ie geklärt werden. Das Rettungsteam muss dabei sein Hauptaugenmerk auf Medikamente, Alkohol und szenetypische Hilfsmittel zur Rauschmittelaufnahme am Auffindeort richten. Aber auch auf haushaltsübliche Flüssigkeiten, z. B. toxische oder ätzende Reinigungsmittel oder weitere Substanzen (z. B. Treibstoffe, Insektizide, Pestizide etc.) ist zu achten. Speziell auf landwirtschaftlichen Betrieben muss mit Altbeständen an blausäurehaltigen Düngemitteln gerechnet werden. Derartige Hinweise können die Behandlung im weiteren Verlauf deutlich erleichtern und ggf. nicht nur das „W“ovon, sondern auch das „W“ieviel näher einordnen. Dabei sollte stets von der „maximal möglichen Menge“ ausgegangen werden. Bei all diesen Feststellungen muss stets unbedingt auf den entsprechenden Eigenschutz geachtet werden! Die GAMS-Regel („G“efahr erkennen – „A“bsperren – „M“enschenrettung – „S“pezialkräfte alarmieren) bietet beim Austritt gefährlicher Stoffe und Güter einen ersten Handlungsleitfaden. Insbesondere bestehende Gefahren in derartigen Einsatzlagen zu erkennen, bedarf einer großen Aufmerksamkeit und Einsatzerfahrung. Eigengefährdung für die Rettungskräfte liegt beispielsweise regelmäßig bei Suizidversuchen mit Kohlenmonoxid (CO) in geschlossenen Räumen vor.
Eine Asservierung von Erbrochenem oder anderen Körperflüssigkeiten für eventuell spätere toxikologische Analysen bringt erfahrungsgemäß wenig klinischen Nutzen, da meist andere Befunde zeitnäher vorliegen bzw. die symptomatische Behandlung im Vordergrund steht. Allerdings können in einzelnen forensischen Fragestellungen durchaus Asservate nutzbringend ausgewertet werden. Insbesondere in den Fällen, bei denen ein Fremdverschulden im Raum steht. Viele Autoren empfehlen daher nach wie vor verdächtige Materialien wie Speisereste, Erbrochenes, Flüssigkeiten etc. zu asservieren.
Bei der körperlichen Erstuntersuchung sollten die Erhebung der Vitalparameter, des Bewusstseinsstatus und eine neuropsychiatrische Untersuchung erfolgen. Vor allem bei Betäubungsmittelmissbrauch kann der Pupillenstatus oftmals einen ersten Rückschluss auf die konsumierte Substanz zulassen (s. Tab. 1). Zur erweiterten präklinischen Diagnostik zählen 12-Kanal-EKG und die Körpertemperaturmessung.

Klinische Ersteinschätzung/-diagnostik

Da das „W“iviel und „W“ovon durch äußere Umstände oder Fremdanamnese häufig nicht beurteilbar ist, können im klinischen Setting laborchemische Analysen weiterhelfen, eine Diagnose zu sichern. In der Notfallmedizin haben sich qualitative „Point-of-Care“-Methoden aus Urin oder in der letzten Zeit auch aus dem Speichel etabliert, die einen raschen Nachweis gängiger Drogen erbringen und so auch einer differenzialdiagnostischen Abwägung dienen. In der Regel können so innerhalb von 5–10 min Vergiftungen mit Benzodiazepinen, Opiaten oder Heroin bestätigt oder ausgeschlossen werden. Problematischer ist der Nachweis neuer sog. Designerdrogen wie synthetischer Cannabinoide (Spice, Lava Red u. a.), γ-Hydroxybuttersäure (GHB) oder „Liquid Ecstasy“, die rasch im Blut abgebaut werden, für die es (noch) keine Schnelltestungen gibt und deren Analyse nur in meist sehr teuren Speziallabors möglich ist. Dies kann die Diagnosefindung deutlich erschweren. Weiter werden diese Substanzen oft als sog. „K.O.-Tropfen“ missbraucht. Patienten (meist weiblich, oft in gastronomischen Einrichtungen oder nach deren Besuch bewusstlos aufgefunden) geben nach Abklingen der klinischen Symptomatik nicht selten an, noch nie mit illegaleren Substanzen in Kontakt gekommen zu sein. Sie schildern ein akutes Unwohlsein, gepaart mit einer sich anschließenden retrograden Amnesie. In diesen Fällen ist stets an Beimischung derartiger Stoffe in Getränke durch Dritte zu denken.
Serumanalysen sind generell deutlich zeitaufwendiger, nicht überall verfügbar und wesentlich teurer. Sie bieten allerdings den Vorteil, neben dem qualitativen Nachweis auch eine Quantifizierung zu erbringen. Dies kann insbesondere bei der Aufnahme von Substanzen, die erst nach einiger Zeit ihre Toxizität entfalten, hilfreich sein. Häufige Beispiele hierfür sind Vergiftungen mit Paracetamol, Salizylaten, Alkoholverbindungen oder auch giftigen Pilzen.
Zur Routinelaborbestimmung bei unklaren Intoxikationen sollte zudem die Bestimmung von
  • Serumosmolarität (Berechnung Osmolaritätslücke)
  • Elektrolyten (Berechnung Anionenlücke)
  • Blutglucose
  • kleinem Blutbild
  • Blutgasanalyse v. a. bei kritischer respiratorischer Situation gehören.
Liegt eine Veränderung der Anionenlücke vor, sollte differenzialdiagnostisch nach den in Tab. 2 aufgeführten Noxen anamnestisch und laborchemisch gesucht werden bzw. Serumkreatinin, Glucose, Ketone und Laktat bestimmt werden, um eine endogene Ursache abzugrenzen.
Tab. 2
Veränderungen der Anionenlücke mit Beispielen für mögliche Intoxikationen, die diesen zugrunde liegen können. (Nach Pemmerl 2013; Sivilotti 2013)
Veränderung der Anionenlückea
Vergrößerte Anionenlücke mit metabolische Azidose
Verkleinerte Anionenlücke
Beispiele für Intoxikationen
Salizylate, NSAR
Formaldehyd
Metformin
Cholchicin
Sympathikomimetika wie Kokain, Theophyllin
Magnesium, Kalzium
Nitrate
Spironolacton
aBerechnung der Anionenlücke: = ([Na+]) – ([Cl] + [HCO3 ])
Normwerte: 3–11 mmol/l
Bei sämtlichen Vergiftungen kann bei Bedarf ein Giftnotruf um Rat gefragt werden. Im deutschsprachigen Raum gibt es derzeit 11 Giftnotrufzentralen, die 24 h besetzt sind und sofortige telefonische Hilfe bieten (internationale Ansprechpartner auf http://www.who.int). Hier kann auch erfragt werden, ob und wie lange ein Patient nach einer Vergiftung überwachungspflichtig ist bzw. welche Komplikationen noch zu erwarten sind. Darüber hinaus existieren zahlreiche Webseiten mit Datenbanken, die suffiziente Informationen bereithalten und sowohl präklinisch über Tablet-PCs/Smartphones als auch klinisch abgerufen werden können.
Jeder potenziell suizidale Patient bedarf einer psychiatrischen Vorstellung, die u. a. die Ernsthaftigkeit des Versuches und die Art und Weise explorieren muss, da ein nicht unerheblicher Teil der Patienten nach einem Suizidversuch erneut suizidal wird. Im Rahmen dieser Untersuchung sollte auch geklärt werden, ob eine Unterbringung in einer psychiatrischen Einrichtung (wegen Eigen- bzw. Fremdgefährdung) erforderlich ist.

Ersttherapie

Bei der Ersttherapie akuter Vergiftungen müssen stets symptomatische vor spezifischen Maßnahmen ergriffen werden. Lebensrettende Sofortmaßnahmen genießen immer höchste Priorität. Der Fokus liegt hier auf der Optimierung/Wiederherstellung der Respiration und Hämodynamik.

Lebensrettende Basismaßnahmen

Respiratorische Probleme kommen durch direkte Wirkungen der Noxen entweder zentral am Atemzentrum (z. B. Opioide) oder der Sauerstoffaufnahme in der Lunge (z. B. CO-Inhalation) zustande. Eine unmittelbare Gabe von hochkonzentriertem Sauerstoff (Mittel erster Wahl bei CO-Vergiftungen s. Abschn. Sekundäre Giftelimination)und ggf. Initiierung einer Beatmung sind hier notwendig.
Darüber hinaus kommt es bei Vergiftungen indirekt zu respiratorischen Pathologien, die häufig durch Aspirationen oder metabolische Veränderungen bedingt sind. Beim bewusstseinsgeminderten intoxikierten Patienten sollte zur Verhinderung einer Aspiration frühzeitig über eine Intubation nachgedacht werden. Dabei ist zu beachten, dass bei der hierzu ggf. notwendigen Narkose gefährliche Wechselwirkungen durch die Gabe von Sedativa oder Hypnotika auftreten können. Ein möglichst sparsamer Einsatz dieser Medikamente wird empfohlen bzw. beim komatösen Patienten sollte – falls möglich – gänzlich auf die Applikation weiterer Substanzen verzichtet werden. Respiratorische Probleme kommen bei vergifteten Patienten auch häufig durch Veränderungen des Säure-Basen-Haushaltes zustande. Vergiftungen in suizidaler Absicht zum Beispiel mit Alkoholverbindungen wie Ethylenglykol führen zu ausgeprägten metabolischen Acidosen, die durch eine Ventilation mit hohen Atemvolumina ausgeglichen werden. Kommt es bei diesen Patienten zur plötzlichen respiratorischen Insuffizienz, so sinkt der pH-Wert rapide ab, was über die begleitende zunehmende Acidose zu ausgeprägten hämodynamischen Instabilitäten führen kann. Hier ist über die Gabe von Bicarbonat vor bzw. während der Intubation nachzudenken. Außerdem wird eine Ventilation mit hohen Atemminutenvolumina, z. B. 8 ml/kg KG bei einer Atemfrequenz von 20/min unter Kontrolle von BGA und Spitzenatemdruckwerten empfohlen (Tenenbein 1997).
Hämodynamische Veränderungen treten aber auch durch direkte Noxenwirkung zentral oder kardiovaskulär auf. Ein Großteil von suizidalen Vergiftungen wird mit Psychopharmakamedikamenten herbeigeführt, die u. a. durch ihre Wechselwirkung mit den kardialen Elektrolytkanälen zu malignen Herzrhythmusstörungen führen können. Generell gilt hier Natriumbicarbonat als Mittel der Wahl bei ventrikulären Arrhythmien oder QT-Verlängerungen (Gefahr bei Verlängerung >100 msec), insbesondere wenn dieses durch eine Intoxikation mit trizyklischen Antidepressiva zustande kommen. Klassische antiarrhythmische Medikamente (v. a. Klasse Ia-, Ic- und III-Antiarrhythmika) können in diesen Fällen durch Interaktionen eher zu einer Verschlechterung der kardialen Situation beitragen, so dass ein sparsamer Medikamenteneinsatz empfohlen wird und, falls notwendig, grundsätzlich eher elektrische als medikamentösen Rhythmisierungsversuchen unternommen werden sollten.
Bei einem Herz-Kreislauf-Stillstand bedarf es der Durchführung des „Basic bzw. Advanced Life Supports“. Intoxikierte Patienten werden nicht selten im Freien aufgefunden, so dass bei entsprechenden Außentemperaturen häufig auch eine Hypothermie vorherrschen kann. Eine prolongierte Herz-Kreislauf-Wiederbelebung kann die Folge sein; diese ist dann unbedingt bis zum Erreichen einer Normothermie fortzusetzen.

Sonstige Initialmaßnahmen

Ein Großteil von Vergiftungen führt zu einer quantitativen Vigilanzminderung, so dass sich dem Erstbehandeltem das Bild einer „unklare Bewusstlosigkeit“ präsentiert. Hier sollte Patienten nicht nur bei Verdacht auf eine Hypoglykämie, sondern auch bei Intoxikationen mit 100 mg Thiamin und 4 g Glucose intravenös behandelt werden. Somit beugt man einerseits einer drohenden Wernicke-Enzephalopathie vor, andererseits können hypoglykämische Entgleisungen, die häufig beim Polytoxikomanen zu beobachten sind, therapiert werden. Thiamin sollte dabei zuerst appliziert werden, da die zelluläre Glucoseaufnahme dies als Coenzym benötigt. Bei präexistentem Thiaminmangel besteht die Gefahr, dass die Enzephalopathie durch den zusätzlichen Glucoseverbrauch exazerbiert (Tate und Nixon 1987). In der Literatur wird bei Normoglykämie die Glucosegabe in dieser Situation durchaus kontrovers diskutiert, nicht zuletzt aufgrund häufiger präklinischer Messunschärfen (Hoffman und Goldfrank 1995; Pemmerl 2013). Da das Nebenwirkungsspektrum dieser Therapie jedoch als vernachlässigbar angesehen werden kann, ist dies gängige Praxis in der Präklinik (Pemmerl 2013).
Durch die zentrale Wirkung vieler Noxen kommt es bei Intoxikationen oftmals auch zu Krampfanfällen. Hier gelten Benzodiazepine als Mittel erster Wahl.

Spezifische Maßnahmen

Bei den spezifischen Maßnahmen unterscheidet man zwischen primärer und sekundärer Giftentfernung. Die primäre Giftelimination bezeichnet die Entfernung der Noxe vor Aufnahme in den Körper (Inkorporation). Am häufigsten werden Intoxikationen durch oral aufgenommene Substanzen verursacht. Hier besteht grundsätzlich die Möglichkeit, durch eine Magenspülung oder gastrale Lavage bzw. durch Gabe von Aktivkohle eine Giftelimination zu betreiben (gastrointestinale Giftdekontamination). Zur sekundären Giftentfernung zählen Maßnahmen, die nach Aufnahme der Noxe in den Körper durchgeführt werden und die Noxenwirkung minimieren sollen. Hierzu rechnet man die extrakorporale Giftelimination oder auch die Gabe von Antidota.

Primäre Giftelimination

Evidenzbasierte Daten, die eine Verbesserung der Mortalität oder Morbidität durch Anwendung der gastrointestinalen Giftdekontamination nachweisen, existieren nicht (Chyka et al. 2005; Tenenbein 1997). Aktuell werden diese Maßnahmen für Patienten empfohlen, die sich nach Aufnahme einer potenziell toxischen Substanz möglichst rasch der gastrointestinalen Giftelimination unterziehen und im Idealfall keine Bewusstseinsminderung aufweisen, so dass Nebenwirkungen der Maßnahmen minimiert werden können. Die Gabe von Aktivkohle wird v. a. dann empfohlen, wenn die Noxenaufnahme nicht länger als eine Stunde zurückliegt (Chyka et al. 2005). Standardmäßig werden 0,5–1 g/kg KG appliziert, wobei eine angemessene Suspendierung erforderlich ist (in ca. 120–240 ml Wasser aufgelöst), um einen Ileus zu vermeiden. Eine wiederholte Gabe von Aktivkohle (alle 4–6 h) ist bei Substanzen wie Carbamazepin oder Theophyllin indiziert, um sowohl den enterohepatischen Kreislauf zu durchbrechen als auch eine verspätete Noxenaufnahme durch die Depotwirkung der Medikamente zu verhindern (Position statement and practice guidelines on the use of multi-dose activated charcoal in the treatment of acute poisoning 1999). Bei derartigen Vergiftungen, die dem enterohepatischen Kreislauf unterliegen, ist zudem über eine Cholestyramingabe nachzudenken (z. B. Digitalisglykoside, Vitamin-K1-Antagonisten). Bei Vergiftungen mit Säuren und/oder Basen, Schwermetallen wie Eisen, anorganische Substanzen wie Zink oder auch Alkoholverbindungen wie Äthanol hat die Gabe von Aktivkohle keinen Nutzen, da keine Beeinflussung der gastralen Resorptionsrate möglich ist. Häufig ist Aktivkohle in fester Kombination mit abführenden Substanzen wie Glaubersalz erhältlich. Dazu existieren wenig evidenzbasierte Daten. Der generelle Einsatz dieser Kombination wird in der Literatur nicht befürwortet; eine gleichzeitige Gabe schwächt den Effekt beider Wirkstoffe sogar ab (Tenenbein 1997).
Die Magenspülung oder auch gastrale Lavage hat bei der Behandlung von Vergiftungspatienten weitgehend an Bedeutung verloren (Hendrickson und Kusin 2013). Diese kann erwogen werden, wenn die Gabe von Aktivkohle nicht zielführend ist bzw. bei Medikamenten, die eine verlängerte gastrale Passagezeit aufweisen und gleichzeitig einen verzögerten Wirkeintritt haben. Einen Sonderfall stellt das sog. „bodypacking“ dar, dessen Ziel es ist, Betäubungsmittel in Form von Paketen (z. B. durch Zuhilfenahme von Präservativen oder Kapseln) im menschlichen Körper zu transportieren. In diesem Fall ist schnellstmöglich eine Magenspülung oder anderweitige Entfernung aus dem gastrointestinalen Trakt notwendig, da bei einer Ruptur dieser Pakete aufgrund der extremen Wirkstoffmengen (regelmäßig mehrere Gramm) akute Lebensgefahr besteht. Hauptrisikofaktor der Magenspülung ist eine Aspiration bzw. Komplikationen bei der Intubation, die eben zum Schutz vor möglicher Aspiration durchgeführt wird. In einer amerikanischen Studie aus dem Jahr 1999 konnte bei 808 intoxikierten Patienten ein signifikanter Anstieg an Intensivverlegungen und Anzahl an Intubationen unter Anwendung einer Magenspülung im Vergleich zum konservativen Vorgehen festgehalten werden. Zudem war die Magenspülung mit einem signifikanten Anstieg der Aspirationspneumonien assoziiert (Pemmerl 2013; Merigian et al. 1990). Es wird in der neusten Version eines Positionspapiers vom Februar 2013 dazu geraten, dass diese Therapie nur von einem erfahrenen Untersucher durchgeführt wird (Müller und Desel 2013; Benson et al. 2013).

Sekundäre Giftelimination

Extrakorporale Eliminationsverfahren kommen eher in Einzelfällen zum Einsatz (z. B. Vergiftungen mit Lithium, Carabazepin, Phenytoin). Neben der klassischen Hämodialyse für wasserlösliche, dialysierbare Noxen, ist auch über den Einsatz von Leberersatzverfahren (MARS, Prometheus) zur Elimination von letal bedrohlichen proteingebundenen Noxen nachzudenken. Hier gibt es vielversprechende Einzelfallberichte. Die Alkalisierung des Urins auf pH-Werte über 7,5 mittels Natriumhydrogencarbonat wird heute lediglich für Salizylatintoxikationen und schwere Herbizidintoxikationen (mit z. B. Dichlorphenoxyessigsäure) empfohlen, um die Elimination zu beschleunigen (Müller und Desel 2013).
Lediglich in 1–5 % aller Vergiftungsfälle werden statistisch gesehen Antidota zur spezifischen Therapie und sekundären Giftelimination eingesetzt (Hruby 2013). Man unterscheidet grundsätzlich zwischen lebensrettenden und supportiven Antidota, die also fakultativ eingesetzt werden können, jedoch nicht prognoseentscheidend sind (Tab. 3). Während in den 90er Jahren auf vielen Notfallrettungsmitteln gut sortierte „Antidotkoffer“ vorgehalten wurden, ist die präklinische Ausstattung in Sachen Intoxikation heute weitaus übersichtlicher. Grund dafür ist v. a., dass viele supportive Antidota nicht ohne Komplikationspotenzial applizierbar sind und so jede Gabe kritisch zu hinterfragen ist. Ein bekanntes Beispiel für mögliche Komplikationen durch Antidota ist die Flumazenilgabe bei vermuteter Benzodiazepinintoxikation. Gerade bei Mischintoxikationen mit Vigilanzminderung kann diese zum Auslösen von Krampfanfällen führen, da die antiepileptische Wirkung der Benzodiazepine aufgehoben wird. Zudem besteht bei Drogenintoxikationen die Problematik, dass nach Gabe von supportiven Antidota der Patient häufig unkooperativ ist, medizinischer Hilfe ablehnend gegenübersteht und fremdgefährdend werden kann. Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich durch den Applikationsweg für ein Antidot in der Präklinik. Hier sind insbesondere desolate Venenverhältnisse beim Drogenabhängigen oder mangelnde Erfahrung bei der Venenpunktion von Kindern nach einer akzidentiellen Vergiftung zu nennen. Eine Alternative bietet hier die nasale Applikation mittels Zerstäuber, mit deren Hilfe verschiedene flüssige Medikamente wie auch Antidota verabreicht werden können. Dabei handelt es sich jedoch um einen „Off-Lable-Use“, solange das jeweilige Medikament nicht für die nasale Applikation zugelassen ist (Pemmerl 2013).
Tab. 3
Auswahl häufig angewendeter Antidota
Antidot
Intoxikationen mit…
Präklinisch
Klinisch
Ergänzende Hinweise
Supportiv
Physostigmin (Anticholium)
X
X
1–2 mg i.v.
Flumazenil (Anexate)
Benzodiazepinen
X
X
0,5–1 mg i.v.
Biperiden (Akineton)
X
X
5 mg i.v.
Naloxon (Narcanti)
Opiaten
X
X
0,4–0,8 mg i.v.
N-Acetylcystein (ACC)
 
X
So genanntes ACC-Rescue-Schema über mehrere Stunden
Lebensrettend
Atropin
X
X
5–50 mg i.v.
4-DMAP oder Hydroxocobalamin (Cyanokit)
Blausäure
X
X
Siehe Text
Glucose
X
X
Dosierung nach BZ, initial 4 g Glucose
Natriumbicarbonat
Trizyklische Antidepressiva
X
X
Siehe Text
Sauerstoff
Kohlenstoffmonoxid
X
X
FiO2 100 %
Bei den lebensrettenden Antidota kommen v. a. Substanzen zum Einsatz, die bei Rauchgasintoxikationen indiziert sind. 80 % aller Todesfälle bei Bränden sind auf Rauchgasintoxikationen zurückzuführen, die v. a. durch die Bestandteile des Brandrauches Zyanid und Kohlenmonoxid zustande kommen.
Kohlenmonoxid ist ein farb-, geschmack- und geruchloses Gas, das als kompetetiver Sauerstoffantagonist eine 200- bis 300fach höhere Affinität zu Hämoglobin hat als Sauerstoff. Es führt durch die verminderte Sauerstofftransportkapazität sowie die verringerte Sauerstoffabgabe durch Blockierung intrazellulärer Sauerstofftransporter zur globalen hypoxischen Schädigung. Lebensrettende Antidot ist die 100 % Sauerstoffgabe, die unmittelbar appliziert werden muss. Bei bewusstseinsgeminderten Patienten ist auch über eine hyperbare Sauerstofftherapie in Druckkammern nachzudenken, die die Eliminationsgeschwindigkeit mehr als verdoppeln. Um die eingeatmete Menge an Kohlenmonoxid besser beurteilen zu können, kann bereits präklinisch mittels pulsoxymetrische Verfahren (Ermittlung des CO-Hämoglobinanteils) oder CO-Messungen in der Ausatemluft Messungen der Kohlenmonoxidanteil bestimmt werden.
Cyanide erzeugen eine Zellhypoxie durch Entkopplung der Atmungskette auf zellulärer Ebene (Cytochromoxidase). Das stattfindende „innere Ersticken“ kann grundsätzlich durch 3 Therapieoptionen verhindert werden:
  • Förderung des Cyanidabbaus mittel Natriumthiosulfat
  • Bindung von Cyanid an Kobaltkomplexe mittels Hydroxocobalamin
  • Methämoglobinbildner mittels 4-DMAP
Dabei ist wichtig, dass Natriumthiosulfat und 4-DMAP nur bei Cyanidmonointoxikationen (z. B. Suizidversuch mit Zyankali oder Insektiziden) angewendet werden dürfen und damit für Rauchgasintoxikationen keine Option darstellen. Hydroxocobalamin (Cyanokit) ist erst seit 2009 in Deutschland zugelassen und bei schweren Rauchgasintoxikationen mittel erster Wahl. Da es sich um ein sehr kostenintensives Medikament handelt, ist dieses präklinisch in der Fläche nicht verfügbar. Es führt zur irreversiblen Komplexbildung von Vitamin B12 (Hydorxocobalamine) mit Cyanid zu Cyanocobalamin, welches in der Folge renal eliminiert wird.
Literatur
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