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DGIM Innere Medizin
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Publiziert am: 25.04.2023

Das Reizdarmsyndrom

Verfasst von: Miriam Goebel-Stengel und Andreas Stengel
Das Reizdarmsyndrom verursacht gastrointestinale Symptome und schränkt die Lebensqualität ein. Die Basisdiagnostik sollte einmal gewissenhaft durchgeführt werden. Die Differenzialdiagnosen orientieren sich an den vorherrschenden Symptomen. Bei Alarmsymptomen sollte zeitnah eine weiterführende Diagnostik erfolgen, um lebensbedrohliche Erkrankungen auszuschließen. Der pathophysiologischen Erklärung dient das biopsychosoziale Krankheitsmodell. Die frühzeitige Diagnosestellung, Psychoedukation und Therapieangebote sollten angestrebt werden. Zur Behandlung häufig koexistenter verschiedenartiger Symptome können symptomorientierte Medikamente, nichtmedikamentöse Strategien und integrative und multimodale Behandlungskonzepte kombiniert werden. Die Psychotherapie ist eine exzellente Therapieoption v. a. bei Patient:innen mit schwerem Verlauf und/oder psychischer Komorbidität. Obgleich das Reizdarmsyndrom nicht heilbar ist, so ist es doch gut behandelbar.

Einleitung

Patient:innen mit sog. funktionellen Störungen stellen sich in jeder Fachrichtung vor. Der Begriff funktionelle Störung beschreibt eine gestörte Funktion eines Organs oder mehrerer Organe, obwohl bei der körperlichen und apparativen Untersuchung keine Auffälligkeiten detektiert werden können. Sie werden auch somatoforme Störungen genannt (auch wenn die Konzepte sowie Definitionen nicht deckungsgleich sind). Aus psychosomatischer Sicht verweist der Begriff auch auf eine Funktion des Symptoms: die Symptombildung kann als bestmöglicher, wenngleich unzureichender, Lösungsversuch eines Konflikts angesehen werden.
In der Inneren Medizin und Gastroenterologie gibt es viele Patient:innen mit Symptomen, die sich mit gängigen Untersuchungsmethoden nicht erklären lassen. Die Diagnose Reizdarm- oder Reizmagensyndrom (funktionelle Dyspepsie) wird häufig gestellt.
Wenn alle Untersuchungsergebnisse normal sind, werden gern Psyche oder Stress als auslösende Faktoren benannt. Viele Patient:innen geben sich zu recht damit nicht zufrieden und suchen weiter, – damit beginnen Doctor Shopping und Unzufriedenheit.
Da jedoch nachweislich etliche Auffälligkeiten auf molekularbiologischer oder genetischer Ebene zu finden sind, verlässt die Gastroenterologie schrittweise den Begriff funktionell, um überzugehen auf Störungen der Darm-Hirn-Interaktionen.

Definition

Für die Diagnosestellung gibt es Kriterien, die erfüllt, und Erkrankungen, die ausgeschlossen werden müssen.
Die deutsche S3-Leitlinie Reizdarmsyndrom (Layer et al. 2021) definiert folgendes:
  • Patient:in äußert Bauchbeschwerden (über einen Zeitraum von 3 Monaten), die auch vom Behandelnden auf den Bauch bezogen werden, z. B. Krämpfe, Schmerzen, Blähungen, Diarrhö oder Obstipation. Eine Kombination verschiedener Symptome ist häufig, muss jedoch nicht vorliegen.
  • Patient:in erfährt eine relevante Beeinträchtigung des täglichen Lebens und der Lebensqualität durch die Beschwerden.
  • Andere Erkrankungen, die aufgrund der Beschwerden differenzialdiagnostisch erwogen werden sollten, müssen vor Diagnosestellung Reizdarmsyndrom einmal verlässlich ausgeschlossen werden.
Bei den weltweit gültigen Rom-IV-Kriterien wird eine längere Zeitachse genannt: Die Beschwerden sollten mindestens an 1 Tag pro Woche über einen Zeitraum von 6 Monaten aufgetreten sein (chronisch).
Weitere Rom-IV-Kriterien sind wiederkehrende Bauchschmerzen im Durchschnitt 1-mal pro Woche und mindestens ein weiteres Kriterium:
  • Assoziation mit Stuhlentleerung,
  • Assoziation mit Stuhlkonsistenz,
  • Assoziation mit einer Veränderung der Stuhlgewohnheiten.
Erst, wenn Beschwerden dauerhaft vorhanden sind und den Alltag der Patient:innen beherrschen bzw. die Lebensqualität dadurch eingeschränkt wird und relevante Differenzialdiagnosen ausgeschlossen wurden, darf die Diagnose Reizdarmsyndrom gestellt werden.
Die Untergruppen des Reizdarmsyndrom definieren sich anhand der Bristol-Stuhlformen (BSF)-Skala (Abb. 1) und haben Relevanz für die leitsymptomorientierte Therapie. Dabei lassen sich grundsätzlich Diarrhö, Obstipation oder Schmerzen/Blähungen als 3 verschiedene Symptommuster abgrenzen (Tab. 1). Prinzipiell können aber alle Symptome auch neben- oder nacheinander bzw. im Wechsel auftreten. Stuhlformen sind individuell. Eine BSF 3–5 und jede Stuhlfrequenz zwischen 3-mal täglich und 3-mal wöchentlich liegt im Bereich des Normalen.
Tab. 1
Subtypen des Reizdarmsyndroms (RDS) nach 2-wöchigem Stuhltagebuch nach Bristol-Stuhlformen-Skala definiert. (nach Drossman and Hasler 2016)
RDS-D (diarrhöprädominantes RDS)
RDS-O (obstipationsprädominantes RDS)
RDS-U (unklassifizierter Typ)
RDS-M (Mischtyp)
> 25 % dünnflüssige Stühle und < 25 % harte Stühle
> 25 % harte Stühle und < 25 % dünnflüssige Stühle
< 25 % dünnflüssige Stühle und < 25 % harte Stühle
> 25 % dünnflüssige Stühle und > 25 % harte Stühle
v. a. weiche Stühle
BSF 6–7
v. a. harte Stühle
BSF 1–2
Normale Stuhlform überwiegt, harte oder weiche Stühle eher selten
Ausgewogenes Verhältnis zwischen harten und weichen Stühlen, aber selten normale Stuhlform
Patient:in äußert hauptsächlich Beschwerden beim Stuhlgang
Stuhlgang steht oft nicht im Vordergrund der Beschwerden
Schmerzen und Blähungen können zusätzlich auftreten
Oft Schmerzen oder Blähungen vordergründig

Pathophysiologie

Obwohl die somatischen Untersuchungen zum Ausschluss bzw. zur Diagnosestellung eines Reizdarmsyndroms oft ohne pathologische Befunde sind, ist belegt, dass es auf molekularer Ebene durchaus Auffälligkeiten geben kann. Diese sind bisher jedoch nur experimentell nachweisbar. Bisher konnte noch nicht die einzelne zugrunde liegende Ursache für die Entstehung des Reizdarmsyndroms verantwortlich gemacht werden. Es handelt sich vielmehr um eine multifaktorielle Erkrankung. Zur Klärung der Ursachen, auch im Patientengespräch, dient das biopsychosoziale Erklärungsmodell (Tab. 2).
Tab. 2
Biopsychosoziale Einflussfaktoren des Reizdarmsyndroms
Bio
Psycho
Sozial
Störung der bidirektionalen Darm-Hirn-Achse
Belastende Lebensereignisse
Umfeld
Veränderte Darmsekretion und Motilität
Chronischer Stress
Lebensstil
Störung der Darmbarriere (Leaky Gut), z. B. durch Dysbiose oder veränderte Schleimproduktion
Traumatisierungen: erlebter körperlicher oder sexueller Missbrauch
Krankheitsverhalten
Störungen auf neuronaler, endokriner (Serotonin, Histamin) oder immunologischer (Zytokine, T-Zellen) Ebene
Persönlichkeit
Copingstrategien
Neuronale Veränderungen
Psychische Komorbiditäten
 
Genetische und epigenetische Faktoren
  
Viszerale Hyper-/Hyposensitivität
  
Vorausgegangene Infektionen
  
Ernährung
  

Epidemiologie, Alter, Gender

Die Häufigkeit des Reizdarmsyndroms wird mit 4 % beschrieben (Sperber et al. 2021), es sind ca.1,5-mal so viele Frauen wie Männer betroffen. Bei der Inanspruchnahme der Behandlung ist das Verhältnis Frauen zu Männer sogar bei 3:1. Auch wenn es kein klares Auftretensalter der Erkrankung gibt, ist ein (moderater) Häufigkeitsgipfel zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr zu beobachten.

Klinik

Die Symptome des Reizdarmsyndroms sind vielfältig und werden von Patient:in und Behandler:in auf den Bauchraum unterhalb des Bauchnabels bezogen. Typische Symptome sind Diarrhö, Obstipation, Schmerzen, Krämpfe, Blähungen oder Völlegefühl. Manchmal gelingt keine Abgrenzung vom Reizmagensyndrom (bzw. es liegen beide Erkrankungen vor).
Um Patient:innen mit einem Reizdarmsyndrom von solchen mit anderen organischen Erkrankungen zu unterscheiden, gibt es Warn- bzw. Alarmsymptome:
  • signifikanter Gewichtsverlust,
  • rektaler Blutabgang,
  • positive Familienanamnese für (Kolon-)karzinome,
  • stark ansteigende Beschwerden innerhalb kurzer Zeit oder eine Veränderung der Beschwerden,
  • nächtlich auftretende Beschwerden.
Bei Vorliegen dieser Symptome ist unverzüglich eine weiterführende Diagnostik einzuleiten. Allerdings kommen Symptome wie Gewichtsverlust auch bei schweren Verlaufsformen des Reizdarmsyndroms vor und schließen ein solches nicht per se aus.
Mit zunehmender Schwere und Chronifizierung des Reizdarmsyndroms liegen häufig psychische Komorbiditäten vor, dabei spielen v. a. depressive Erkrankungen sowie die Angststörungen eine Rolle. Weiterhin findet sich nicht selten auch eine Überlappung mit Fibromyalgie, Schmerzstörungen oder anderen somatoformen Erkrankungen. Dies sollte sowohl in der Diagnostik als auch in der Therapie berücksichtigt werden.

Diagnostik

Die frühe Diagnosestellung des Reizdarmsyndroms ist anzustreben, damit die Behandlung eingeleitet werden kann. Die Diagnostik sollte gemäß Leitlinie simultan biperspektivisch unter Einbezug somatischer und psychosozialer Faktoren erfolgen (Abb. 2).
Im Folgenden soll auf einzelne Punkte der Abb. 2 näher eingegangen werden.
Extraintestinale Symptome wie Müdigkeit, Schwindel oder Kopfschmerzen sind häufig. Viele Medikamente haben gastrointestinale Nebenwirkungen, was als Ursache der Beschwerden ausgeschlossen werden sollte. Viele Betroffene eines Reizdarmsyndroms führen ihre Beschwerden auf die Ernährung zurück, ohne dass eine genaue Zuordnung erfolgen kann. Die Ernährungstherapie ist daher ein integraler Bestandteil der Behandlung von Patient:innen mit Reizdarmsyndrom. Psychosoziale Faktoren spielen eine Rolle in Genese, Aufrechterhaltung und Verschlechterung eines Reizdarmsyndroms und sollten während der Anamnese erfragt werden (Weibert und Stengel 2019).
Die Stuhluntersuchung dient nicht der Mikrobiomanalyse sondern dem Ausschluss infektiöser Durchfallerkrankungen sowie als Screening auf eine entzündliche Darmerkrankung (Calprotektin). Ein negativer Calprotektinwert schließt jedoch die Ileitis terminalis nicht aus. Die Mikrobiomanalyse hat aktuell keinen Stellenwert bei der Diagnostik oder Therapie des Reizdarmsyndroms.
Das Basislabor beinhaltet Infektparameter (kleines Blutbild, CRP), Schilddrüsenhormone und Endomysium- und Gewebstransglutaminase-Antikörper zum Screening auf eine Zöliakie. Dabei sollte parallel der selektive IgA-Mangel als häufigster Immundefekt in der Bevölkerung ausgeschlossen werden (Felber et al. 2022). Viele Patient:innen erhalten im Rahmen der primären gastroenterologischen Abklärung sowohl eine Gastroduodenoskopie als auch eine Ileokoloskopie, was einmalig sinnvoll ist. Bei der Anamnese sollten Symptome wie Diarrhö, Meteorismus und Schmerzen zwingend erhoben werden sowie Differenzialdiagnosen wie Zöliakie und chronisch entzündliche und mikroskopische Kolitiden bedacht werden, da nur dann auch Stufenbiopsien entnommen werden, die für die Ausschlussdiagnostik dieser Erkrankungen unabdingbar sind. Geringfügige Befunde wie streifige Rötung im Magenantrum im Sinne einer (Helicobacter-negativen) Gastritis stellen keine Ausschlussdiagnose für ein Reizdarmsyndrom dar, da sie mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht die gesamte Symptomschwere erklären können. Dies sollte den Patient:innen schlüssig vermittelt werden.
Frauen sollten auf die gynäkologischen Screeningintervalle hingewiesen werden. Bei mehr als 85 % der Patient:innen mit Ovarialkarzinom traten typische Reizdarmbeschwerden als Erstsymptom auf (Layer et al. 2021).
Wasserstoffatemtests zum Ausschluss einer Laktoseintoleranz, Fruktosemalabsorption oder bakteriellen Dünndarmfehlbesiedlung gehören zwar nicht zur Basisdiagnostik, sollten aber niedrigschwellig angeboten werden, da diese Konditionen in der Bevölkerung häufig vorkommen und gut behandelbar sind (Goebel-Stengel et al. 2014). Die Bestimmung nahrungsspezifischer Immunglobuline G (IgG) hat keinen Stellenwert (Layer et al. 2021). In wenigen Fällen ist eine weitere Diagnostik indiziert, welche bildgebende Verfahren oder Darmmotilitätsmessungen einschließen kann.
Bei guter Aufarbeitung der Befunde und Durchführung aller notwendigen Untersuchungen, sollte eine Wiederholungsdiagnostik vermieden werden, da sie grundlos zu Verunsicherung der Patient:innen führt (und mit der Gefahr der somatischen Fixierung verbunden ist) und das Gesundheitssystem unnötig belastet. Studien, die Patient:innen mit RDS bis zu 5 Jahre verfolgt haben, belegten die stabile Diagnose eines Reizdarmsyndroms in 97 % der Fälle (Svendsen et al. 1985; Harvey et al. 1987; Owens et al. 1995). Die Wiederholung von Untersuchungen sollte nur im Rahmen vorgeschriebener Vorsorgeintervalle sowie bei Symptomänderung durchgeführt werden.

Differenzialdiagnostik

Die häufigsten Differenzialdiagnosen sind gemäß Leitsymptomen in Tab. 3 dargestellt.
Tab. 3
Differenzialdiagnosen des Reizdarmsyndroms
Leitsymptom Diarrhö
Leitsymptom Obstipation
Kolorektales Karzinom (paradoxe Diarrhö)
Kolitis: chronisch entzündlich, mikroskopisch
Gallensäurenverlustsyndrom
Kohlenhydratunverträglichkeit
exokrine Pankreasinsuffizienz
Medikamentennebenwirkung
Kolorektales Karzinom
Medikamentennebenwirkung
Entleerungsstörung, Motilitätsstörung
Leitsymptom Schmerzen
Leitsymptom Meteorismus, Flatulenzen
Chron. entzündliche Darmerkrankung Ulcus ventriculi/duodeni
Divertikelkrankheit
orthopädische Erkrankung
abdominelle Durchblutungsstörung
Bakt. Fehlbesiedlung des Dünndarms
Kohlenhydratunverträglichkeit
postoperative Verwachsungen
Ein Anspruch auf Vollständigkeit ergibt sich aus Tab. 3 nicht, vielmehr sind die häufigeren Differenzialdiagnosen genannt. Es sollten zunächst die potenziell lebensbedrohlichen Erkrankungen wie das kolorektale Karzinom, Ovarialkarzinom, die Zöliakie (durch Langzeitfolge Lymphom) und Kolitiden (mikroskopische, chronisch entzündliche) oder Ulzera des oberen Gastrointestinaltraktes von den weniger gefährlichen unterschieden werden. Zu den letztgenannten zählen andere gastroenterologische Erkrankungen wie Kohlenhydratmalabsorption, chologene Diarrhö, bakterielle Fehlbesiedlung des Dünndarms („small intestinal bacterial overgrowth“, SIBO), exokrine Pankreasinsuffizienz, symptomatische unkomplizierte Divertikelkrankheit (SUDD), aber auch chronische intestinale Ischämien und Motilitätsstörungen.
Die Diagnose der Kohlenhydratmalabsorption ist einfach mittels Wasserstoffatemtest nach oraler Zufuhr von Fruktose oder Laktose zu stellen (Keller et al. 2005). Mit dem gleichen Verfahren der Wasserstoffexhalation nach Glukoseingestion kann auch die Diagnose einer SIBO gestellt werden. Weiterhin sollten bei entsprechender Anamnese auch endokrinologische, gynäkologische oder orthopädische Ursachen in Betracht gezogen werden.
Hinweise auf seltene Differenzialdiagnosen wie beispielsweise neuroendokrine Tumoren, Porphyrien, ein C1-Esterase-Inhibitormangel oder M. Fabry sollten zunächst gründlich ärztlich reflektiert und nur bei passenden Symptomkonstellationen getestet werden.
Viele Medikamente verursachen gastrointestinale Nebenwirkungen wie Bauchschmerzen, Diarrhö oder Obstipation. Dazu gehören Metformin, Amlodipin, Diuretika, Antidepressiva, Neuroleptika oder Opioide. Diese Nebenwirkungen sistieren oft im Verlauf oder sind beispielsweise durch die Hinzunahme eines Laxans bei Opioiden gut beherrschbar.
Eine Depression kann sich nicht nur über die typische Symptomatik wie gedrückte Stimmung, Antriebsmangel und Freudlosigkeit äußern, sondern sich auch zusätzlich (und manchmal ausschließlich) über körperliche Symptome zeigen. Diese können z. B. Schmerzen oder auch Verstopfung sein. Insofern lohnt es sich, auch an die Differenzialdiagnose Depression zu denken.
Die Somatisierungsstörung ist eine schwerwiegende Erkrankung, welche mit hohem Leid für die Betroffenen einhergeht. Letztendlich kann jedwede körperliche Symptomatik auftreten, welche sich im Verlauf ändern und jeden Teil des Körpers betreffen kann. Diese Erkrankung gehört zu den somatoformen Störungen, es kann also keine körperliche Ursache gefunden werden, welche das Ausmaß der oftmals sehr bunten Symptomatik erklärt. Aufgrund der diffusen Symptome werden häufig eine Vielzahl von Ärzt:innen aufgesucht und viele verschiedene Untersuchungen durchgeführt. Häufig kommen diese Patient:innen auch mehrfach in die Notaufnahme. Die Diagnosestellung einer Somatisierungsstörung erfolgt oft mit sehr langer Verzögerung, im Durchschnitt erst nach über 10 Jahren.
Patienten mit einer hypochondrischen Störung haben – ähnlich wie solche mit einem Reizdarmsyndrom – Beschwerden in einem bestimmten Teil des Körpers. Im Vordergrund stehen aber beispielsweise nicht die Bauchschmerzen, sondern die Angst vor einer schwerwiegenden Erkrankung, z. B. Darmkrebs.

Therapie

Initial sollte die Diagnosestellung sowie die Einordnung in einen biopsychosozialen Kontext im Sinne einer Psychoedukation erfolgen, alle diese Bausteine sind bereits auch Teil der Therapie. Die Psychoedukation umfasst u. a. (Goebel-Stengel und Stengel 2022):
  • Benennen der Diagnose Reizdarmsyndrom.
  • Aufklärung über gutartigen, aber variablen und teilweise unvorhersehbaren chronischen Erkrankungsverlauf mit normaler Lebenserwartung.
  • Zügiges Einleiten einer Therapie und Aufklärung über das multimodale Behandlungskonzept mit Trial-und-Error-Verfahren. Jede Therapie hat probatorischen und zeitlich begrenzten Charakter.
  • Frühzeitiges Klären der Erwartungshaltung der Patient:innen an die behandelnden Ärzt:innen: Eine kurzfristige Heilung bei jahrelang bestehender Symptomatik ist nicht realistisch.
  • Partizipative Entscheidungsfindung: Einbeziehen der Patient:innen in therapeutische Entscheidungen.
  • Thematisieren von psychosozialen Belastungen, ggf. Sensibilisierung für eine Psychotherapie.
Die Kombinationen medikamentöser und nichtmedikamentöser Behandlungen wird empfohlen (Layer et al. 2021). Diese Optionen sollen nun näher erörtert werden.

Ernährung

Viele Patient:innen mit einem Reizdarmsyndrom machen die Ernährung für die Symptomentstehung, -aufrechterhaltung und -zunahme verantwortlich. Auch wenn dies nicht immer objektivierbar ist, so spielen ernährungsmedizinische Aspekte eine Rolle in der Therapie des Reizdarmsyndroms. Lösliche Ballaststoffe haben einen großen Stellenwert in der Behandlung (Zuckerman 2006). Auch spezielle Diäten wurden für das Reizdarmsyndrom beschrieben. So kann bei Patient:innen mit Reizdarmsyndrom und vorwiegend Schmerzen, Blähungen und Diarrhö die sog. Low-FODMAP-Diät eingesetzt werden (Rao et al. 2015). FODMAPs sind kurzkettige Kohlenhydrate, die im Dünndarm schlecht absorbiert und damit osmotisch aktiv werden und später im Dickdarm von Bakterien zersetzt werden, was mit Gasbildung und Diarrhö einhergeht. Bei der Low-FODMAP-Diät werden fermentierbare Oligo-, Di- und Monosaccharide und Polyole in der Nahrung vermieden (Eliminationsphase). Wenn sich die Symptome in der Eliminationsphase verbessern, können schrittweise Nahrungsmittel mit höherem FODMAP-Gehalt wieder eingeführt werden (Phase der Toleranzfindung). Lebensmittel, die symptomfrei gegessen werden konnten, werden abschließend in den Langzeiternährungsplan einbezogen (Phase der Langzeiternährung) (Goebel-Stengel und Groeneveld 2022).

Lebensstil

Es gibt Studien, die auf einen günstigen Effekt von körperlicher Bewegung auf die Reizdarmsymptomatik hinweisen (Johannesson et al. 2011, 2015). Dennoch ist die Datenlage, v. a. bezüglich qualitativ hochwertiger Studien, gering, dies gilt auch für andere Lebensstilveränderungen (z. B. Nikotinkarenz, wenig Alkohol, bewusst Essen, genug Schlafen, Stressreduktion). Dennoch werden diese Maßnahmen empfohlen.

Symptomorientierte Medikation

Die medikamentöse Therapie des Reizdarmsyndroms ist immer symptombezogen und nicht kausal. Somit ist es legitim, sich am vorherrschenden Symptom zu orientieren, um ein geeignetes Medikament zu finden (Tab. 4).
Tab. 4
Symptomorientierte medikamentöse Therapieoptionen
Leitsymptom Diarrhö
Leitsymptom Obstipation
Lösliche Ballaststoffe
Flohsamenschalen
Probiotika
Loperamid
Cholestyramin bei chologener Diarrhö oder Colesevelam „off-label“
Ondansetron „off-label“
Rifaximin „off-label“
Lösliche Ballaststoffe
Flohsamenschalen
Laxanzien (eher Macrogol als Laktulose, das Blähungen verursacht)
Prucaloprid
Linaclotid
Leitsymptom Schmerzen
Leitsymptom Meteorismus, Flatulenzen
Spasmolytika
Probiotika
Phytotherapeutika
Butylscopolamin
Ondansetron „off-label“
Linaclotid
Probiotika
Phytotherapeutika
Laxanzien
Prucaloprid
Linaclotid
Rifaximin „off-label“
Als Phytotherapeutika sind mittlerweile einige Produkte auf dem Markt: Pfefferminz- und/oder Kümmelöl sowie die Pflanzenmixtur STW-5 (Iberis Amara, Angelikawurzel, Kamillenblüten, Kümmelfrüchte, Mariendistelfrüchte, Melissenblätter, Pfefferminzblätter, Schöllkraut und Süßholzwurzel). Nicht empfohlen hingegen werden klassische Schmerzmittel wie nicht-steroidale Antirheumatika, Opioidanalgetika, Pankreasenzyme oder Mesalazin (Layer et al. 2021).
Bei vorrangigen Blähungen kann die Off-label-Behandlung mit dem lokal im Darm wirksamen Antibiotikum Rifaximin erwogen werden, für die wiederholte Anwendung gibt es jedoch keine günstige Evidenz.

Probiotika

Obschon oft von Patient:innen nachgefragt und mit hoher Akzeptanz versehen, ist die Datenlage hinsichtlich dem Einsatz von Probiotika beim Reizdarmsyndrom heterogen, was sich in der Spannbreite der Studienqualität sowie der Unterschiedlichkeit der Zusammensetzung und Dosierung der Probiotika begründet. Einzelne Stämme wie Bifidobakterien oder Laktobazillen konnten jedoch Reizdarmsyndrom-typische Symptome wie Schmerzen, Blähungen sowie Veränderungen der Stuhlfrequenz und -konsistenz verbessern. Somit empfiehlt die aktuelle Leitlinie den probatorischen Einsatz von Probiotika (sowie das Wiederabsetzen bei fehlender Besserung) (Layer et al. 2021).

Psychopharmaka

Bei Reizdarmsyndrom mit vorrangig Schmerzen und Diarrhö kann das Trizyklikum Amitriptylin „off-label“ zum Einsatz kommen (sowie mit regulärer Indikation bei dem komorbiden Vorliegen einer depressiven oder Angststörung) (Hetterich et al. 2019). Selektive Serotoninwiederaufnahmehemmer (SSRI), wie z. B. Citalopram, verkürzen die orozökale Transitzeit, sodass diese bei RDS-O „off-label“ zum Einsatz kommen können. Der Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRI) Duloxetin kann bei Erwachsenen mit komorbider Angst- und depressiver Störung eingesetzt werden (Ford et al. 2019).

Psychotherapie

Neben der oben erwähnten Psychoedukation (welche bereits psychotherapeutische Elemente nutzt) kommen Strategien zum verbesserten Umgang mit Stress und/oder Krankheitsbewältigung (Coping) zum Einsatz, ebenso die angeleitete Selbsthilfe (Hetterich und Stengel 2020). Hierbei wurden auch onlinebasierte Angebote (eHealth-Interventionen) als hilfreich erlebt (Beatty und Lambert 2013).
Weiterhin gibt es gute Evidenz sowohl für verhaltenstherapeutisch orientierte als auch psychodynamisch orientierte Psychotherapie, wobei die Studienlage traditionell für die Verhaltenstherapie breiter ist, obgleich auch für die psychodynamischen Verfahren ein klar positiver Effekt gezeigt werden konnte (Black et al. 2020). Im Gegensatz dazu ist die Studienlage für achtsamkeitsbasierte Therapieformen derzeit noch nicht ausreichend. Als organspezifisches psychotherapeutisches Verfahren im Rahmen der Behandlung des Reizdarmsyndroms ist die Bauch-gerichtete Hypnotherapie zu nennen, für die ebenso positive Effekte gezeigt werden konnten (Krouwel et al. 2021).
Entspannungsverfahren (z. B. progressive Muskelentspannung nach Jacobson, autogenes Training) können Einsatz finden, allerdings gibt es keine Daten für den Einsatz als Monotherapie, sondern immer in Kombination mit Medikation, körperlicher Bewegung oder Psychotherapie (Hetterich und Stengel 2020), im Sinn einer multimodalen Therapie.

Verlauf und Prognose

Der Umgang mit Patient:innen mit chronischen abdominellen Beschwerden wird von Primärversorgenden oft als Herausforderung beschrieben. Als Gründe werden eine ausgeprägte Anspruchshaltung der Patient:innen genannt und die Sorge seitens der Ärzt:innen, relevante Erkrankungen übersehen zu haben. Dies führt dazu, dass viele Untersuchungen mehrfach durchgeführt werden, trotz gleichbleibender Beschwerden und Befunde (Schneider et al. 2021). Die erneute Verordnung einer weiteren (unnötigen) Untersuchung verschafft dem Behandelnden etwas Zeit und befriedigt (kurzfristig) das Bedürfnis der Patient:innen nach weiterer Abklärung. Aussagen wie „Meine Beschwerden müssen doch eine Ursache haben!“ oder „Ich bilde mir das doch nicht ein.“ sind häufig und triggern weitere Untersuchungen. Nicht selten wechseln Patient:innen die Behandelnden, wenn ihnen die nächste Untersuchung verwehrt wird. Unnötige Wiederholungsuntersuchungen sind aber doppelt gefährlich für die Patient:innen: sie sind womöglich ganz unmittelbar mit einer Gefährdung verbunden und fördern die somatische Fixierung, erschweren damit die weitere Therapie und verschlechtern die Prognose. Hier ist eine frühzeitige biperspektivische Simultandiagnostik hilfreich, welche sowohl somatische wie psychosoziale Aspekte in die Anamnese und Therapie miteinbezieht. Die dann folgende (Verdachts)Diagnosestellung Reizdarmsyndrom und die Einordnung in einen biopsychosozialen Kontext, verbunden mit dem Angebot von evidenzbasierten Therapiebausteinen, sind eine gute Grundlage nicht nur für eine gelingende Arzt:in-Patient:innen-Beziehung sondern für eine erfolgreiche Therapie. Denn auch wenn das Reizdarmsyndrom nicht heilbar ist, so ist es doch gut behandelbar. Bei 2/3 der Patient:innen ist eine deutliche Symptomverbesserung zu erreichen, bei 1/3 jedoch sind immer wieder Behandlungen nötig, oder es kommt sogar zu einer weiteren Progredienz und Chronifizierung, dies sind oft Patient:innen mit Komorbiditäten.
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