Die Ärztliche Begutachtung
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Verfasst von:
Peter Wolfgang Gaidzik
Publiziert am: 20.07.2022

Begutachtung bei Behandlungs- und Aufklärungsfehlern nach Inkrafttreten des Patientenrechtegesetzes

Die Begutachtung im Arzthaftungsrecht ist sicherlich die „Königsdisziplin“ des medizinischen Sachverständigenwesens. Den Beratern der Entscheidungsträger fällt hier nicht nur die Aufgabe zu, den gesundheitlichen Zustand eines Probanden (Aus Gründen der besseren Lesbarkeit des nachfolgenden Textes findet das generische Maskulinum Verwendung.) festzustellen („final“), die resultierenden Funktionsstörungen in Bezug auf Beruf, Haushaltsführung etc. zu beschreiben und diese Störungen mit einem Behandlungsgeschehen oder einem Behandlungsfehler in eine Ursache-Wirkungs-Beziehung zu setzen („kausal“). Vielmehr ist zunächst herauszuarbeiten, welche Anforderungen an das Verhalten in Diagnostik/Therapie in einer bestimmten Situation hätten gestellt werden müssen, womit auch die Verhaltensnorm von medizinischer Seite geliefert werden muss, an deren Verletzung dann die haftungsrechtlichen Konsequenzen anknüpfen. Dies erfordert von Seiten des Begutachtenden Erfahrungen auf ärztlichem wie gutachterlich-methodischem Gebiet, gilt es doch, sehr spezielle Prüfungsschritte vorzunehmen, die ausschließlich im Arzthaftungsrecht anzutreffen sind. Der Grundsatz, wonach die klinische Kompetenz des Verfassers eine notwendige, aber noch keine hinreichende Bedingung für die Begutachtung bildet, besitzt hier eine besondere Bedeutung.

Einleitung

Das Arzthaftungsrecht unterliegt als Teilgebiet des allgemeinen Haftpflichtrechts grundsätzlich allen dort geltenden Normen und Regeln etwa zur Annahme eines Kausalzusammenhangs zwischen Pflichtwidrigkeit und Gesundheitsschaden, zum Beweismaß oder zur Beweislast. Andererseits wurden und werden die Grundsätze der Arzthaftung wie kaum in einem anderen Rechtsgebiet durch die Spruchpraxis der Gerichte konkretisiert und fortentwickelt. Das Bundesverfassungsgericht hat diese sehr weitgehende richterliche Rechtsfortbildung mit ihren „arztrechtstypischen“ Beweisregeln ausdrücklich gebilligt, um die angesichts der Hochrangigkeit der betroffenen Rechtsgüter „Leben und Gesundheit“ von Verfassung wegen gebotene „Waffengleichheit“ im Arzthaftpflichtprozess herzustellen.1Aufgrund der rechts- wie gesellschaftspolitischen Bedeutung der Gesundheitsversorgung hat sich der Gesetzgeber veranlasst gesehen, durch das „Gesetz zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten“ vom 20.02.20132 u. a. den Behandlungsvertrag mit den richterrechtlich entwickelten Strukturen in die §§ 630a – 630h BGB zu implementieren. Die Ausgestaltung der deliktischen Haftung als zweiter Säule des Schadensersatzrechts bleibt weiterhin den Gerichten überlassen.
Inhaltlich befasst sich das Arzthaftungsrecht mit der Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen Ärzte (oder sonstige „Behandler“), das nachgeordnete Personal oder der Klinik- bzw. Einrichtungsträger sich schadensersatzpflichtig machen bzw. Patienten Schadensersatzansprüche für erlittene Gesundheitsschäden gegenüber den Genannten mit Erfolg geltend machen können.

Medizinische Behandlungsstandards

Nach § 630a BGB muss die Behandlung dem zu diesem Zeitpunkt bestehenden „allgemein anerkannten fachlichen Standard“ genügen. Dessen einzelfallbezogene Konkretisierung ist Sache des medizinischen Sachverständigen, der damit im Arzthaftungsrecht noch stärker als in anderen Gutachtenbereichen in die Rolle des „iudex facti“ rückt.

Sorgfaltspflichtverstoß

Der Vorwurf eines Sorgfaltspflichtverstoßes kann jeden Abschnitt des Behandlungsverlaufs betreffen, also u. a. Anamnese, Diagnose (Nichterheben gebotener oder Fehlinterpretation erhobener Befunde), Prophylaxe, Therapie, Nachsorge oder Rehabilitation. Darüber hinaus können Übergabe/Übernahme der Behandlung trotz fehlender fachlicher Kompetenz („Delegationsverschulden“) im Einzelfall sowie generelle organisatorische, personelle oder apparative Defizite („Organisationsverschulden“) ein haftungsbegründendes Fehlverhalten darstellen. Ebenso müssen sich behandlungsbezogene Informationen nach § 630c Abs. 2 BGB, die dazu dienen sollen, den therapeutischen Erfolg zu sichern oder Komplikationen vorzubeugen, daher früher therapeutische oder Sicherungsaufklärung genannt, an diesem fachlich gebotenen Standard orientieren.
Da die Verantwortlichen im Rahmen der Behandlung Schadensabwendungspflichten treffen („Garantenstellung“), ist es in aller Regel unerheblich, ob sich ein fehlerhaftes Verhalten in einem aktiven Tun oder in einem pflichtwidrigen Unterlassen geäußert hat. Die Rechtsprechung lässt sich in der Beurteilung des Verhaltens nicht ausschließlich von den anerkannten Regeln der Schulmedizin leiten. Entscheidend ist vielmehr, ob in der Behandlung unter Einsatz der objektiv zu fordernden medizinischen Kenntnisse und Erfahrungen vertretbare Entscheidungen über die diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen getroffen und diese Maßnahmen sorgfältig durchgeführt worden sind.3
Entscheidend ist somit nicht, wie der vom Gericht befragte medizinische Sachverständige selbst in der jeweiligen Behandlungssituation vorgegangen wäre. Vielmehr hat er im Hinblick auf den Grundsatz der Methodenfreiheit ausschließlich die „Vertretbarkeit“ des konkreten Vorgehens des Behandlers aus der objektiven Perspektive seines Fachs zu beurteilen.

Facharztstandard

Der Standard orientiert sich in erster Linie an – zum Behandlungszeitpunkt! – aktuellen Fachschrifttum und der allgemeinen klinischen Erfahrung. Evidenzbasierte Erkenntnis ist wünschenswert und in der Bewertung vorrangig; andererseits kann aber auch eine (noch) nicht durch prospektive kontrollierte klinische Studien abgesicherte „gute klinische Praxis“ standardbildend wirken. Umgekehrt reicht die bloße „Üblichkeit“ eines Vorgehens nicht aus, den haftungsrechtlich gebotenen Standard zu bestimmen, da es sich auch um im Alltag eingerissene Missstände oder bloßem „Schlendrian“ handeln kann.4
Der Einfluss von Leitlinien der Fachgesellschaften auf den haftungsrechtlich zu fordernden Standard wird seit Jahren kontrovers diskutiert („Handlungsnormen“, „Entscheidungskorridore“ oder bloße „Handlungsempfehlungen“), ohne dass bislang ein endgültiger Konsens feststellbar wäre.
Die Rechtsprechung neigt trotz anders lautender Stimmen im Schrifttum bislang eher dazu, den Leitlinien eine unmittelbare Verbindlichkeit abzusprechen und den Behandlern im Hinblick auf seine Therapiefreiheit grundsätzlich die Möglichkeit zu belassen, hiervon abzuweichen.5
Strittig bleibt, ob es hierfür einer besonderen Begründung anhand konkret nachgewiesener Besonderheiten des Einzelfalls bedarf und wer hierfür das Beweisrisiko trägt. Eine flexible Handhabung scheint schon deshalb geboten, weil Leitlinien auch ihrerseits qualitative Unterschiede aufweisen und von unterschiedlichen Fachgesellschaften zuweilen sogar in sich widersprüchliche Empfehlungen existieren.
Der Gutachter sollte daher stets prüfen,
  • ob für den zu beurteilenden Sachverhalt eine einschlägige Leitlinie existiert, ggf welchen Evidenzgrads,
  • ob sie im Behandlungszeitpunkt den Stand der medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnis (noch) zutreffend wiedergab,
  • ob der beschuldigte Arzt diese Leitlinie befolgt hat oder hiervon abgewichen ist, und
  • ob es für die Abweichung sachliche Gründe gibt, die der Arzt ggf. auch ins Feld geführt bzw. dokumentiert hat, die das Abweichen aus fachlicher Sicht vertretbar erscheinen lässt.
Es wäre also verfehlt, aus der Verletzung einer Leitlinie automatisch eine Standardverletzung abzuleiten. Andererseits existiert auch dort, wo (noch) keine Leitlinie das diagnostische bzw. therapeutische Vorgehen beeinflusst, (natürlich) ein haftungsrechtlich zu beachtender Standard entsprechend dem Verhalten eines „gewissenhaften Facharztes in der konkreten Behandlungssituation“.
Wie im allgemeinen Haftpflichtrecht ist es auch in der Arzthaftpflicht unerheblich, ob der konkret Beschuldigte um diesen Standard wusste oder aufgrund seines Kenntnisstands wissen konnte; entscheidend ist allein der „auf die allgemeinen Verkehrsbedürfnisse ausgerichtete objektive Sorgfaltsmaßstab“6, also das „Verhalten eines gewissenhaften Arztes in dem jeweiligen Fachgebiet“ (daher auch „Facharztstandard“). Der Anspruch des Patienten auf solch eine standardgerechte Versorgung erfordert zwar nicht stets die formelle Facharztqualifikation der handelnden Personen; der materielle Facharztstandard ist jedoch in jedem Fall zumindest durch geeignete organisatorische Maßnahmen bzw Kontrollen sicherzustellen.
Ein unbedingt zu vermeidender Gutachtenfehler resultiert aus der Wandelbarkeit medizinischer Erkenntnis sowie dem Umstand, dass bis zur prozessualen Auseinandersetzung bzw. Gutachtenerstellung meist schon mehrere Jahre vergangen sind. Die Darstellung des gebotenen (fach-)ärztlichen Standards hat aber ausnahmslos aus der Perspektive ex ante zu erfolgen, dh ausschlaggebend ist grundsätzlich der Kenntnis- und Wissensstand zum Zeitpunkt der zu beurteilenden Behandlung. Nachträglich erlangte Befunde des Patienten oder gar spätere Änderungen im fachwissenschaftlichen Meinungsbild bleiben daher in aller Regel außer Betracht. Indessen kann ein Verhalten, welches zum Behandlungszeitpunkt der seinerzeit vertretenen Lehrmeinung (noch) widersprach, sich im weiteren Verlauf aufgrund neuerer Erkenntnisse tatsächlich aber als sachgerecht erwiesen hat, nicht Anknüpfungspunkt einer Haftung sein, da es keinen vorwerfbaren Pflichtverstoß darstellt.

Organisationsverschulden/Delegation

Ein weiteres Problem in diesem Zusammenhang ist die zunehmende Arbeitsteilung in der Medizin. Der Gutachter muss die unterschiedlichen Verantwortungsbereiche aufzeigen und voneinander abgrenzen, wenn der von ihm aufgezeigte Sorgfaltspflichtverstoß seine eigentliche Ursache in Versäumnissen des vor- oder nachgeordneten Personals (vertikale Arbeitsteilung) oder der vor-, mit- oder nachbehandelnden Kollegen anderer Fachgebiet (horizontale Arbeitsteilung) hatte.
So kann schon die Übertragung einer Aufgabe an eine hierzu nicht ausreichend qualifizierte Person einen „Delegationsfehler“ als Unterfall des Organisationsverschuldens darstellen, wie etwa die Anordnung der selbstständigen Eingriffsdurchführung durch einen unerfahrenen Assistenzarzt ohne fachärztliche Aufsicht.7 Den so Überforderten trifft der Vorwurf des „Übernahmeverschuldens“, sofern er trotz der Anordnung hätte Bedenken haben und eine Gefährdung der Patienten hätte voraussehen müssen8 bzw sich ihm diese Bedenken „hätten aufdrängen müssen“.9 Andererseits kann sich ein in der Ausbildung befindlicher Assistenzarzt auf die Indikationsstellung des Chef- oder Oberarztes zu einer Behandlungsmaßnahme10 genauso verlassen, wie auf eine vom Oberarzt gebilligte Diagnose oder ein sonst mit ihm abgestimmtes oder gar angeordnetes Vorgehen.11
In gleicher Weise ist die Delegation an sich „ärztlicher“ Behandlungsaufgaben an nicht ärztliches Personal zu beurteilen, zumindest sofern dies ohne konkrete Anweisung, Anleitung und unmittelbare Aufsicht geschieht. Dabei hat sich die erforderliche Kontrolldichte wiederum an dem Gefährdungspotenzial für den Patienten auszurichten. Ein Kernbereich ärztlicher Kompetenzfelder, etwa die Durchführung von Operationen, bleibt einer Delegation jedoch grundsätzlich verschlossen. Grenzfragen sind nach wie vor strittig. Die Vornahme von subkutanen, intravenösen wie auch intramuskulären Injektionen einschließlich solcher in bereits liegende intravasale Zugänge und – erst recht – die Blutentnahme zur Gewinnung von Kapillar- und Venenblut durch examiniertes Pflegepersonal wird man mittlerweile wohl als generell zulässig erachten müssen, solange nicht im Einzelfall besondere Schwierigkeiten oder Komplikationen zu erwarten sind.
In der – horizontalen – Arbeitsteilung zwischen den medizinischen Fachgebieten hat die Rechtsprechung den Vertrauensgrundsatz bestätigt, wonach man auf die sorgfaltsgerechte Aufgabenerfüllung des konsiliarisch hinzugezogenen oder im Rahmen einer Behandlungskette tätig gewordenen Kollegen vertrauen darf, falls keine offensichtlichen Qualifikationsmängel bekannt sind bzw. Fehlleistungen des Kollegen tatsächlich erkannt wurden oder ohne weiteres erkennbar gewesen wären.12
Es bestehen deshalb im Zusammenwirken der Disziplinen keine generellen proaktiven Überprüfungspflichten, jedoch immer eine Verpflichtung zu klärenden Rückfragen bei Bedenken oder Zweifeln.13 Innerhalb desselben Fachgebiets werden die Kontrollpflichten jedoch enger ausgelegt. So muss z. B. der Operateur in seiner Verantwortung für den Eingriff die übersandten/mitgebrachten Röntgenaufnahmen nochmals eigenständig zu befunden und die Diagnose und Therapieindikation des fachgleichen Vorbehandlers selbst überprüfen.14 Hingegen darf der niedergelassene Arzt bei einer vorangegangenen stationären Behandlung grundsätzlich auf die Richtigkeit der dort erhobenen diagnostischen Befunde und übermittelten Empfehlungen angesichts der „Überlegenheit“ der personellen und apparativen Ausstattung der Klinik vertrauen und muss daher nicht von sich aus eventuelle diagnostische Lücken schließen oder ohne besondere Anhaltspunkte weitere oder andere differenzialdiagnostische Überlegungen anstellen.15
Sind mehreren Beteiligten schadensverursachende Sorgfaltspflichtverstöße anzulasten, besteht gegenüber dem Patienten eine sog. gesamtschuldnerische Haftung (§ 421 BGB), dh der Patient kann jeden voll in Anspruch nehmen, erhält aber insgesamt seinen Schaden nur einmal ersetzt. Zwischen den Schädigern wird dann in Abhängigkeit von den Ursachenanteilen und dem Verschuldensgrad eine Schadensteilung nach Quoten erfolgen. Im Rahmen einer Behandlungskette hat der mitverantwortliche Erstbehandler grundsätzlich auch für – selbst grobe – Fehler des Nachbehandlers einzustehen. Der Zurechnungszusammenhang entfällt erst dort, wo der Fehler mit der erstbehandelten Krankheit nichts zu tun hatte oder man in der nachfolgenden Behandlungskette in ganz außergewöhnlicher Weise die gebotene Sorgfalt außer Acht ließ.16
Der Einfluss von Leitlinien der Fachgesellschaften auf den haftungsrechtlich zu fordernden Standard wird seit Jahren kontrovers diskutiert („Handlungsnormen“, „Entscheidungskorridore“ oder bloße „Handlungsempfehlungen“), ohne dass bislang ein endgültiger Konsens feststellbar wäre.
Die Rechtsprechung neigt trotz anders lautender Stimmen im Schrifttum bislang eher dazu, den Leitlinien eine unmittelbare Verbindlichkeit abzusprechen und den Behandlern im Hinblick auf seine Therapiefreiheit grundsätzlich die Möglichkeit zu belassen, hiervon abzuweichen.17
Strittig bleibt, ob es hierfür einer besonderen Begründung anhand konkret nachgewiesener Besonderheiten des Einzelfalls bedarf und wer hierfür das Beweisrisiko trägt. Eine flexible Handhabung scheint schon deshalb geboten, weil Leitlinien auch ihrerseits qualitative Unterschiede aufweisen und von unterschiedlichen Fachgesellschaften zuweilen sogar in sich widersprüchliche Empfehlungen existieren.
Der Gutachter sollte daher stets prüfen,
  • ob für den zu beurteilenden Sachverhalt eine einschlägige Leitlinie existiert, ggf welchen Evidenzgrads,
  • ob sie im Behandlungszeitpunkt den Stand der medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnis (noch) zutreffend wiedergab,
  • ob der beschuldigte Arzt diese Leitlinie befolgt hat oder hiervon abgewichen ist, und
  • ob es für die Abweichung sachliche Gründe gibt, die der Arzt ggf. auch ins Feld geführt bzw. dokumentiert hat, die das Abweichen aus fachlicher Sicht vertretbar erscheinen lässt.
Es wäre also verfehlt, aus der Verletzung einer Leitlinie automatisch eine Standardverletzung abzuleiten. Andererseits existiert auch dort, wo (noch) keine Leitlinie das diagnostische bzw. therapeutische Vorgehen beeinflusst, (natürlich) ein haftungsrechtlich zu beachtender Standard entsprechend dem Verhalten eines „gewissenhaften Facharztes in der konkreten Behandlungssituation“.

Beweismaßstäbe und Beweislast

Auch im Arzthaftungsrecht gelten im Grundsatz die Regeln des allgemeinen Haftpflichtrechts, wonach der Geschädigte (Anspruchsteller) den Haftungsgrund einschließlich des verursachten Primärschadens nach den Maßstäben des Vollbeweises (§ 286 ZPO) zu beweisen hat.
Hieraus folgt die grundsätzliche Beweislast des Patienten für den schuldhaften Behandlungsfehler und den so verursachten – primären – Gesundheitsschaden jenseits begründeter Zweifel des Gerichts.
Das Fortschreiten der Primärschädigung (Folgeschäden) und die hieraus resultierenden Funktionsstörungen stehen zwar ebenfalls zur Beweislast des Patienten, unterliegen jedoch im Beweismaß der Privilegierung des § 287 ZPO. Hier genügt nach ständiger Rechtsprechung bereits die überwiegende Wahrscheinlichkeit. Es bedarf also nicht des „Vollbeweises“, und zwar weder in Bezug auf die Tatsachen noch den Kausalzusammenhang. Andererseits reicht die bloße Möglichkeit eines behaupteten Umstands ebenso wenig aus wie ein „non liquet“, vielmehr muss im Ergebnis mehr dafür als dagegen sprechen.
Eine nur scheinbare Ausnahme von diesem Prinzip bildet die Beweislastverteilung im Bereich der Aufklärungsrüge. Seit reichgerichtlichen Zeiten stellt sich der Heileingriff als tatbestandliche Körperverletzung dar, deren Rechtswidrigkeit bei sorgfaltsgerechter Durchführung mit der Einwilligung des Patienten entfällt. Die Rechtswirksamkeit der Einwilligung hängt wiederum von der ordnungsgemäßen Aufklärung ab. Rechtfertigungsgründe stehen aber nach allgemeinen Prinzipien stets zur Beweislast des „Schädigers“, weshalb die Behandlerseite die vollständige und rechtzeitige Aufklärung des Patienten nachzuweisen hat. Dies hat der Gesetzgeber jetzt in § 630h Abs. 2 S. 1 BGB nochmals ausdrücklich klargestellt.

Beweiserleichterungen

Angesichts der Beweisnöte des regelmäßig fachunkundigen Patienten wurde auch im Behandlungsfehlerbereich von der Rechtsprechung im Laufe der Zeit ein spezifisches und sehr differenziert ausgestaltetes System möglicher Beweiserleichterungen zugunsten des Patienten entwickelt, die sämtlich auch in das Patientenrechtegesetz Eingang fanden. Der Sachverständige sollte dieses System in seinen Grundzügen kennen, da er sich vor die Aufgabe gestellt sieht, die faktischen Voraussetzungen solcher Beweiserleichterungen prüfen zu müssen.
Wesentlich von seiner Expertise beeinflusst werden folgende für das Beweismaß und/oder die Verteilung der Beweislast bedeutsame Rechtsfiguren:
  • Dokumentationsmängel
  • Voll beherrschbare Risikosphäre
  • Grober Behandlungsfehler/fundamentaler Diagnosefehler
  • Verstoß gegen die Befunderhebungs- und Befundsicherungspflichten
  • Fehlende Befähigung des Behandlers

Dokumentationsmängel

Wichtigste Grundlage jedes Arzthaftungsprozesses ist die Behandlungsdokumentation, die Aufschluss über den Zustand des Patienten zum Behandlungszeitpunkt, die vorgenommenen Maßnahmen sowie den weiteren Symptomverlauf geben sollte. Die Dokumentation bildet auch den wesentlichen Bezugspunkt für die Wertungen im Gutachten. Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass der Vortrag der Parteien vom Sachverständigen unbeachtet bleiben darf. Vielmehr müssen eventuelle Abweichungen der schriftsätzlichen Schilderungen des Behandlungsverlaufs zur Kenntnis genommen werden und – ggf alternativ – in die Beurteilung einfließen. Es ist dann eine Frage der weiteren Beweisaufnahme und der abschließenden Beweiswürdigung durch das Gericht, welcher Sachverhalt als erwiesen zugrunde gelegt wird.
Etwaige Lücken oder Widersprüche in der Dokumentation erschweren der Patientenseite die grundsätzlich ihr obliegende Beweisführung. Neben diesem rein forensischen Aspekt dient die Dokumentation aber in erster Linie der Sicherheit des Patienten im zeitlichen Längsschnitt einer Behandlung und erst recht bei einem horizontal oder vertikal arbeitsteiligen Behandlungsgeschehen, ist also keine „bloße Gedächtnisstütze“ des Behandlers.
Folgerichtig wurde nach anfänglichem Zögern der Gerichte schon in den 60er- und 70er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts eine Rechtspflicht des Arztes zur ordnungsgemäßen Dokumentation angenommen. Zunächst als bloße Nebenpflicht aus dem geschlossenen Behandlungsvertrag abgeleitet, seit längerem zudem als ärztliche Berufspflicht (§ 10 MBO-Ä) statuiert und mit Inkrafttreten des Patientenrechtegesetzes nunmehr auch ausdrücklich in § 630 f. BGB verankert, einschließlich der bisher nur berufsrechtlich normierten Aufbewahrungspflicht von 10 Jahren (vorbehaltlich anderweitiger Regelungen, z. B. in § 85 Strahlenschutzgesetz).
Die Rechtsprechung hat diesen Gedanken der Patientensicherheit in den Vordergrund gerückt und nur solchen Bestandteilen der Krankenakte prozessuale bzw beweisrechtliche Relevanz zugesprochen, deren Dokumentation aus medizinischen, und nicht nur aus rechtlichen Gründen geboten war.18 Es ist also unerheblich, ob ein Vermerk in der rechtlichen Auseinandersetzung die Klärung des Behandlungsablaufs erleichtert hätte. Maßgeblich ist allein, ob es guter klinischer Übung entsprochen hätte und für die weitere Behandlung wenigstens potenziell wichtig gewesen wäre, einen bestimmten Befund oder Vorgang zu dokumentieren.19
Diese Erwägungung spiegelt sich in § 630f Abs. 2 BGB wider, wonach in der Patientenakte „sämtliche aus fachlicher Sicht für die derzeitige und künftige Behandlung wesentlichen Maßnahmen und deren Ergebnisse aufzuzeichnen“ sind, „insbesondere die Anamnese, Diagnosen, Untersuchungen, Untersuchungsergebnisse, Befunde, Therapien und ihre Wirkungen, Eingriffe und ihre Wirkungen, Einwilligungen und Aufklärungen“ und auch „Arztbriefe sind in die Patientenakte aufzunehmen“.
Dokumentationspflichtig sind somit alle wichtigen diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen und Verlaufsdaten, soweit sie für das weitere Behandlungsgeschehen bedeutsam sind bzw werden können.20 Hieraus folgt, dass z. B. unauffällige Kontrollbefunde21 oder Routinemaßnahmen nicht oder nur eingeschränkt schriftlich festzuhalten sind, etwa in Gestalt genereller Dienstanweisungen zu bestimmten Behandlungs- oder Pflegeroutinen. Andererseits können Ärzte in besonderen Gefährdungssituationen (z. B. Einsatz von Berufsanfängern) verschärften Dokumentationspflichten unterliegen.22
Liegt eine relevante, dh aus medizinisch-gutachtlicher Perspektive zu beanstandende Dokumentationslücke vor, wird zugunsten des beweisbelasteten Patienten vermutet, dass eine nicht schriftlich festgehaltene Maßnahme tatsächlich unterblieben ist (§ 630h Abs. 3 BGB) bzw sich ein Geschehensablauf so vollzogen hat, wie er dokumentiert wurde. Es ist dann Sache der Anspruchsgegners, diese Beweisvermutung z. B. durch Zeugen zu widerlegen.
Ein Dokumentationsversäumnis löst demzufolge allein noch keine unmittelbare Haftung der Behandlerseite aus, sie gewährt dem Patienten lediglich Erleichterungen in der Beweisführung in Form – widerlegbarer – Beweisvermutungen. Anderes gilt allerdings dann, falls die fehlerhafte Dokumentation selbst für nachfolgende Schäden verantwortlich zu machen ist (z. B. falsche oder fehlende Informationen im Arztbrief führen zu Fehlern in der Nachbehandlung).

Voll beherrschbare Risikosphäre

Von dem Gedanken ausgehend, dass die aus der „Eigenart des lebenden Organismus resultierenden Unwägbarkeiten“ beweisrechtlich nicht zu Lasten der Behandlerseite gehen dürfen, hat die Rechtsprechung im Kernbereich ärztlichen Handelns eine im Schrifttum zuweilen geforderte generelle Beweislastumkehr abgelehnt. Anders dort, wo sich ein Risiko verwirklicht hat, welches aus einer von der Behandlerseite „voll beherrschbaren Sphäre“ resultiert.
Folgende Fallgruppen lassen sich differenzieren:
  • Fehlfunktionen eines medizinischen Gerätes23
  • Mängel in der Organisation oder Koordination des Behandlungsgeschehens, einschließlich der hierfür benötigten Materialien24
  • Sturzschäden während des Transportes oder einer Pflegemaßnahme25
  • Schäden nach Anfängereingriffen26
Die „Lagerungsschäden“ sind zuletzt wieder verstärkt in die Diskussion geraten, da offenbar selbst bei technisch einwandfreier Lagerung auf dem Operationstisch Schäden peripherer Nerven auftreten können.28
Grundvoraussetzung dieses von der Rechtsprechung geschaffenen Instituts ist jedoch, dass eine durch korrektes Handeln generell vermeidbare Ursache außerhalb der „Risikosphäre“ des Patienten schon durch den Schadenseintritt allein unterstellt oder im Einzelfall gutachtlich eindeutig gesichert werden kann. Dann – aber auch nur dann – muss sich die Behandlerseite sowohl hinsichtlich der Einhaltung der gebotenen Sorgfalt (z. B. Gerät wurde ordnungsgemäß gewartet und die Fehlfunktion war vor dem Schadensereignis nicht erkennbar) wie auch der Schadenskausalität (z. B. Körperschaden ist unabhängig vom Gerätedefekt entstanden) exkulpieren, dh es kommt zu einer sehr weitgehenden Beweislastumkehr zugunsten des Anspruchstellers.
Das beweisrechtliche Instrument der „voll beherrschbaren Risikosphäre“ weist gewisse Parallelen zum „Anscheinsbeweis“ (= Beweis „prima facie“) auf, wobei die Judikatur zuweilen beide Begriffe bemüht und eine scharfe Trennung vermissen lässt.
In beiden Fällen wird aus einem Schadenseintritt „aufgrund allgemeiner Lebenserfahrung bzw. typischer Geschehensabläufe“ auf eine bestimmte – haftungsauslösende – Ursache geschlossen. Während aber die Beweisvermutung „prima facie“ bereits dann „erschüttert“ ist, wenn die „reale Möglichkeit eines atypischen Geschehensablaufs“ dargelegt werden kann, muss die Behandlerseite den – vollen – Gegenbeweis gemäß § 286 ZPO führen, wenn der Schaden aus einer sogenannten „voll beherrschbaren Risikosphäre“ herrührt. Dies entspricht auch der Rechtslage nach Inkraftreten des Patientenrechtegesetzes, da gem. § 630e Abs. 1 BGB „ein Fehler des Behandelnden vermutet wird, wenn sich ein allgemeines Behandlungsrisiko verwirklicht hat, das für den Behandelnden voll beherrschbar war und das zur Verletzung des Lebens, des Körpers oder der Gesundheit des Patienten geführt hat“.

Grober Behandlungsfehler/fundamentaler Diagnosefehler

Die Rechtsprechung empfand es ferner als unbillig, dem Patienten auch dann noch die Beweislast für die Schadensursächlichkeit aufzubürden, wenn gerade der gravierende Fehler eines Arztes die Aufklärung der Kausalzusammenhänge durch „Verschiebung des Ursachenspektrums“ erschwerte. Um hier zu Beweiserleichterungen zu gelangen, schuf der BGH die Rechtsfigur des „groben Sorgfaltspflichtverstoß“ mit folgender Definition in ständiger Spruchpraxis:
Es handelt sich um ein Fehlverhalten, welches aus objektiver Sicht eindeutig gegen bewährte ärztliche Behandlungsregeln bzw gesicherte grundlegende Erkenntnisse der Medizin verstößt und aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich erscheint, weil ein solcher Fehler einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen darf.29
Zwar handelt es sich beim groben Sorgfaltspflichtverstoß erkennbar um einen – unbestimmten – Rechtsbegriff, der keiner rein medizinischen Beurteilung zugänglich ist, jedoch hat der BGH in den vergangenen Jahren wiederholt betont, dass die juristische Wertung nicht gegen die fachlichen Ausführungen des Sachverständigen erfolgen dürfe, vielmehr in dessen Darlegungen seine hinreichende Grundlage finden müsse.30 Es bedarf einer detaillierten Begründung, dass und warum ein Fehlverhalten objektiv nicht nur elementare Regeln der Diagnostik/Therapie verletzt, sondern darüber hinaus einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen darf. Auf eine subjektiv gesteigerte Vorwerfbarkeit kommt es hingegen nicht an!31 der ärztliche Gutachter sollte den (Rechts-)Begriff vermeiden, sondern sich auf die Darstellung der bewährten Diagnose- und Behandlungsregeln unter Bezug auf den Einzelfall beschränken und darstellen, ob es Umstände gibt, die das Verhalten verständlich oder gänzlich bzw. schlechterdings unverständlich erscheinen lässt.
Ein solch grobes Fehlverhalten kann jeden Behandlungsabschnitt betreffen. Er ist nicht auf das ärztliche Personal32 beschränkt und umfasst auch grobe Organisations- oder Beratungsfehler.33 Hingegen gibt es keinen groben Fehler im Bereich der Eingriffsaufklärung.34 Bei Diagnosemängeln finden sich in der Rechtsprechung differenzierte Wertungen, da letztlich jeder Diagnose in gewissem Umfang Unsicherheiten anhaften (müssen). Es wird tendenziell eher das Nichterheben von Befunden (z. B. Unterlassen einer phlebografischen Abklärung nach einer Fußverletzung mit aufgetretenen Wadenschmerzen)35 als grob „fundamental“ fehlerhaft eingestuft, als deren Fehlinterpretation (z. B. Übersehen einer eindeutig erkennbaren Fraktur im Röntgenbild)36. Hier ist die Grenze erst dann überschritten, wenn ein eindeutiges Krankheitsbild verkannt oder unkritisch an einer zunächst gestellten Verdachtsdiagnose festgehalten wurde, obschon sich Zweifel an deren Richtigkeit geradezu aufdrängen mussten.37
Bei Behandlungs- wie Diagnosefehlern kommt es stets auf die Beurteilung des Gesamtgeschehens an, sodass mehrere Einzelfehler, die für sich genommen (noch) nicht sonderlich schwer wiegen, in der Addition einen groben Sorgfaltspflichtverstoß indizieren können.38 Andererseits können Besonderheiten des Einzelfalls – z. B. erschwerte Behandlungsbedingungen, mangelnde Compliance des Patienten trotz adäquater ärztlicher Bemühungen etc – den eigentlich gravierenden Fehler in einem anderen Licht erscheinen lassen.
Hat der Patient einen „groben Behandlungsfehler“ oder „fundamentalen Diagnosefehler“ bewiesen, kehrt sich die Beweislast bereits dann um, wenn der Fehler abstrakt geeignet war, die tatsächlich eingetretene Schädigung herbeizuführen, ein wenigstens wahrscheinlicher Zusammenhang ist nicht erforderlich.39 Der nunmehr nachweisbelastete Behandler hat dann nach den Maßstäben des § 286 ZPO den vollen (Gegen-)Beweis zu führen, dass auch bei sachgerechtem Vorgehen derselbe Gesundheitsschaden zu erwarten gewesen wäre oder der Kausalzusammenhang zwischen Fehler und Schaden „ganz unwahrscheinlich“ bzw „rein theoretisch“ erscheint.40
Die Beweislastumkehr beschränkt sich allerdings grundsätzlich auf den haftungsbegründenden Kausalzusammenhang zwischen Fehler und – primärer – Körper- bzw Gesundheitsschädigung. Für die Weiterentwicklung des Schadensbildes, die geklagten Funktionsstörungen und die daraus resultierenden finanziellen Einbußen bleibt der Patient weiterhin in der Beweispflicht, jedoch mit den vorteilhaften Erleichterungen der überwiegenden Wahrscheinlichkeit des § 287 ZPO im Beweismaß.
Auch diese beweisrechtlichen Grundsätze haben Eingang in das Patientenrechtegesetz gefunden. Ohne den „groben Behandlungsfehler“ inhaltlich näher zu definieren, hat sich der Gesetzgeber allerdings auf die Anordnung der Beweisvermutung bei grundsätzlicher Eignung des – groben – Fehlers für den eingetretenen Gesundheitsschaden beschränkt (§ 630f Abs. 4 S. 1 BGB), womit die bisherigen, von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze fortgelten.

Fehler bei der Befunderhebung bzw. Befundsicherung

Ein vergleichsweise junges, ebenfalls durch die Gerichte entwickeltes beweisrechtliches Instrument im Arzthaftungsprozess ist der Verstoß gegen Pflichten in der (Kontroll-)Befunderhebung und -sicherung. In Anlehnung an die Überlegungen zum groben Sorgfaltspflichtverstoß soll es sich nicht zulasten des Patienten auswirken, wenn durch eine pflichtwidrig geschaffene Befundlücke Unsicherheiten in die Kausalitätsbeurteilung hineingetragen werden.
Jedoch knüpft die Rechtsprechung hier nicht an das Ausmaß der Pflichtwidrigkeit an, sondern gibt eine besondere Prüfungsreihenfolge vor:41
1.
War die Erhebung eines bestimmten (Kontroll-) Befundes objektiv geboten?
 
2.
Hätte sich bei Durchführung entsprechender Untersuchungen mit „hinreichender“ Wahrscheinlichkeit ein reaktionspflichtiger Befund dargestellt?
 
3.
Wäre die Nichtreaktion hierauf ein gravierendes ärztliches Fehlverhalten im Sinne eines groben Behandlungs- oder Diagnosefehlers?
 
4.
In gleicher Weise ist zu verfahren, wenn der Kontrollbefund zwar ursprünglich erhoben, jedoch der Befundträger (z. B. Röntgenaufnahme etc) aufgrund eines Verstoßes gegen die Verwahrungspflichten nicht mehr auffindbar ist und auch nicht auf sonstige Weise, z. B. durch aktenkundige Befundberichte, rekonstruiert werden kann.42
 
In gleicher Weise ist zu verfahren, wenn der Kontrollbefund zwar ursprünglich erhoben, jedoch der Befundträger (z. B. Röntgenaufnahme) aufgrund eines Verstoßes gegen die Verwahrungspflichten nicht mehr auffindbar ist und auch nicht auf sonstige Weise, z. B. durch aktenkundige Befundberichte, rekonstruiert werden kann.43
Sind alle vier Fragen zu bejahen, wird das für sich genommen (noch) nicht grob fehlerhafte Verhalten in den beweisrechtlichen Konsequenzen der groben Pflichtverletzung gleichgestellt, dh zugunsten des Patienten tritt für den haftungsbegründenden Kausalzusammenhang eine Beweislastumkehr ein; der Behandlerseite verbleibt nur noch die Möglichkeit des Gegenbeweises mangelnder oder höchst unwahrscheinlicher Schadensverursachung. Nach Auffassung einiger Oberlandesgerichte setzt die geforderte „hinreichende Wahrscheinlichkeit“ voraus, dass ein reaktionspflichtiger Befund im betreffenden Zeitpunkt mindestens wahrscheinlich (über 50 %) gewesen wäre.44 Ein höchstrichterliches Urteil hierzu steht bislang aber noch aus. Auch hier hat der Gesetzgeber auf weitergehende Konkretisierungen verzichtet und in § 630h Abs. 4 S 2 BGB nur die vorstehend beschriebene Prüfabfolge mit der Beweislastumkehr als Konsequenz verankert.
Die sich in diesem Zusammenhang stellenden praktischen Umsetzungsprobleme sind nicht zu unterschätzen: Neben der Aufgabe, retrospektiv einen Krankheitsverlauf zu rekonstruieren und hieraus die Wahrscheinlichkeit eines reaktionspflichtigen Befundes abzuleiten, ist im nächsten Schritt das hypothetische Verhalten in Gestalt einer pflichtwidrigen Nichtreaktion auf diesen gleichfalls hypothetischen Befund zu bewerten. Dies wird bei qualitativen Befunden sicherlich eher möglich sein als bei quantitativen Befunden, wie z. B. Laborparametern. Noch schwieriger dürfte diese Rekonstruktion gelingen, wenn sie allein anhand von Literaturdaten vorgenommen werden muss, wie z. B. bei Tumorverdopplungszeiten. Zuweilen mag es auch nur an der subjektiven Perspektive liegen, ob man das Verkennen einer Fraktur im Röntgenbild als – einfachen – Diagnosefehler, das Unterlassen einer näheren Betrachtung mittels Lupe hingegen als „Verstoß gegen die Befunderhebungspflichten“ deuten möchte, wie dies der BGH anklingen ließ.45 Die Abgrenzung zu Diagnosefehlern erfolgt nach mittlerweile gefestigter Rechtsprechung nach dem „Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit“,46 was die Trennschärfe allerdings kaum erhöht. Vor dem Hintergrund, dass die Anspruchstellerseite so bereits unterhalb der Schwelle des groben Sorgfaltspflichtverstoßes der Beweisführungspflicht im Bereich des haftungsbegründenden Kausalzusammenhangs enthoben ist, nimmt der Verstoß gegen die Befunderhebungspflichten mittlerweile eine zentrale Bedeutung in der Begutachtung von Arzthaftungsfällen ein und wird die Rechtsprechung und Begutachtende weiter beschäftigen.

Fehlende Befähigung

Der Aspekt einer (noch) nicht ausreichenden Qualifikation des individuellen Behandlers wurde von der Rechtsprechung bislang eher unter dem Aspekt gesteigerter Dokumentationspflichten diskutiert, im Einzelfall auch im Zusammenhang mit einer „voll beherrschbaren Risikosphäre“ oder einem evtl sogar – groben – Organisationsmangel. In § 630h Abs. 4 BGB findet sich hierfür jetzt eine eigene Beweisregel, denn war ein Behandelnder für die von ihm vorgenommene Behandlung nicht befähigt, wird vermutet, dass die mangelnde Befähigung für den Eintritt der Verletzung des Lebens, des Körpers oder der Gesundheit ursächlich war“. Man darf allerdings annehmen, dass wie bisher auch zukünftig die mangelnde individuelle Erfahrung durch eine entsprechend gesteigerte Überwachung im Behandlungsteam kompensiert werden kann, so etwa die Eingriffsdurchführung eines in der Weiterbildung befindlichen Assistenzarztes durch die begleitende/überwachende Assistenz eines fachärztlichen Kollegen.

Aufklärung

Schließlich kommt eine Haftung wegen fehlender Einwilligung oder unzulänglicher (Selbstbestimmungs-) Aufklärung des Patienten in Betracht, die auch der ansonsten lege artis vorgenommene Eingriff seit jeher zu einer haftungsbegründenden Körperverletzung werden lässt, für deren Folgen die Behandlerseite zivilrechtlich einzustehen hat. Auch diese ursprünglich richterrechtliche Konstruktion hat der Gesetzgeber mit § 630d BGB (Einwilligungserfordernis) und § 630e BGB (mündliche, rechtzeitige und verständliche Aufklärung) übernommen und über den Eingriff hinaus auf in ihrer Intensität vergleichbare – konservative – Maßnahmen erstreckt. Dabei bleibt das Aufgabenfeld des ärztlichen Sachverständigen eher begrenzt, da Inhalt und Reichweite der Aufklärungspflicht im Einzelfall juristisch zu konkretisieren sind.
Neben der Beschreibung bekannter, der Maßnahme typischerweise anhaftenden Risiken, über die die Patienten zumindest „im Großen und Ganzen“ aufzuklären sind, hat er in erster Linie die Frage zu beantworten, ob es neben der tatsächlich durchgeführten Maßnahme Alternativen gab, die bei ähnlichen Erfolgsaussichten ein qualitativ oder quantitativ anderes Risikospektrum aufgewiesen hätten. Solche Alternativen kommen „ernsthaft in Betracht“ und müssen daher ebenfalls zum Gegenstand des Aufklärungsgesprächs gemacht werden.
Fußnoten
1
BVerfG 25.07.1979 – 2 BvR 878/74 –, NJW 1979, 1925 sowie 15.03.2004 – 1 BvR 1591/03 –, NJW 2004, 2079.
 
2
BGBl. I 2013, 277 ff.
 
3
BGH 10.03.1987 – VI ZR 88/86 –, VersR 1987, 770.
 
4
OLG Frankfurt 20.10.2020 – 14 U 103/11, GesR 2021, 495.
 
5
BGH 15. April 2014 - VI ZR 382/12, VersR 2014, 879; OLG Hamm 11.01.1999 – 3 U 131/98 –, VersR 2000, 1373: Leitlinien können den Erkenntnisstand der medizinischen Wissenschaft nur deklaratorisch wiedergeben und ihn ggf ergänzen, nicht aber konstitutiv begründen.
 
6
Z. B. BGH 29.01.1991 – VI ZR 206/90 –, VersR 1991, 469.
 
7
BGH 27.09.1983 – VI ZR 230/81 –, NJW 1984, 655 und 10.03.1992 – VI ZR 64/91 –, NJW 1992, 1560.
 
8
BGH 27.09.1983 – VI ZR 230/81 –, NJW 1984, 655.
 
9
OLG Düsseldorf 13.02.2003 – 8 U 41/02 –, VersR 2005, 230.
 
10
OLG Düsseldorf 21.03.1991 – 8 U 55/89 –, VersR 1991, 1412 und 13.02.2003 – 8 U 41/02 –, VersR 2005, 230.
 
11
OLG Köln 14.07.1993 – 27 U 13/93 –, VersR 1993, 1157; OLG Hamm 20.11.1996 – 3 U 31/96 –, VersR 1998, 104.
 
12
Vgl BGH 28.05.2002 – VI ZR 42/01, MedR 2003, 169.
 
13
BGH 14.07.1992 – VI ZR 214/91 –, NJW 1992, 2926.
 
14
Vgl KG 13.11.2003 – 20 U 111/02 -, GesR 2004, 136.
 
15
Vgl OLG Hamm 16.12.1996 – 3 U 62/96 –, VersR 1998, 323.
 
16
OLG Köln 28.04.1993 – 27 U 144/92 -, VersR 1994, 987.
 
17
BGH 15. April 2014 - VI ZR 382/12, VersR 2014, 879; OLG Hamm 11.01.1999 – 3 U 131/98 –, VersR 2000, 1373: Leitlinien können den Erkenntnisstand der medizinischen Wissenschaft nur deklaratorisch wiedergeben und ihn ggf ergänzen, nicht aber konstitutiv begründen.
 
18
BGH 06.07.1999 - VI ZR 290/98, NJW 1999, 3408.
 
19
OLG Zweibrücken 15.12.1998 -5 U 10/96, NJW-RR 2000, 235.
 
20
vgl z. B. OLG Düsseldorf 21.04.1994 – 8 U 23/92, MedR 1996, 79.
 
21
BGH 23.03.1993 – VI ZR 26/92, NJW 1993, 2375; OLG Köln 25.10.1998 – 5 U 144/97, NJW 1999, 1790; andererseits OLG Stuttgart 29.07.1997 – 14 U 20/96, VersR 1998, 1550: unauffälliger Lokalbefund dokumentationspflichtig, wenn nur so Komplikationsverdacht auszuräumen ist.
 
22
BGH 07.05.1985 – VI ZR 224/83, NJW 1985, 2193.
 
23
OLG Hamm 27.01.1999 – 3 U 127/97, VersR 1999, 1111.
 
24
BGH 03.11.1981 – VI ZR 119/80, VersR 1982, 161.
 
25
BGH 18.12.1990 – VI ZR 169/90, VersR 1991, 310; 25.06.1991 – VI ZR 320/90, VersR 1991, 1058.
 
26
BGH 27.09.1983 – VI ZR 230/81, VersR 1984, 60.
 
27
BGH 24.01.1984 – VI ZR 203/82, VersR 1984, 386.
 
28
BGH 24.01.1995 – VI ZR 60/94, VersR 1995, 539; OLG Oldenburg 02.08.1994 – 5 U 64/94, VersR 1995, 1194.
 
29
Z. B. BGH 04.10.1994 – VI ZR 205/93, VersR 1995, 46.
 
30
BGH 29.05.2001 – VI ZR 120/00, VersR 2001, 1030; 19.06.2001 – VI ZR 286/00, VersR 2001, 1115.
 
31
BGH 14.07.1992 – VI ZR 214,91, MedR 1992, 214.
 
32
Z. B. OLG Oldenburg 09.04.1996 – 5 U 158/95, VersR 1997, 749.
 
33
Z. B. OLG Hamm 19.06.1992 – 3 U 283/91, VersR 1994, 729.
 
34
BGH 10.03.1987 – VI ZR 88/86, VersR 1987, 770.
 
35
OLG Köln 04.12.1991 – 27 U 23/90, VersR 1993, 190.
 
36
OLG Celle 21.10.1996 – 1 U 59/95, VersR 1998, 54.
 
37
Vgl OLG Düsseldorf 31.07.1986 – 8 U 52/58, VersR 1987, 994; OLG Köln 04.07.1988 – 7 U 10/85, VersR 1988, 1299.
 
38
OLG Stuttgart 04.04.1996 – 14 U 42/95, VersR 1997, 700.
 
39
BGH 16.05.2000 – VI ZR 321/98, VersR 2000, 1146.
 
40
BGH 13.01.1998 – VI ZR 242/96, VersR 1998, 457.
 
41
Grundlegend: BGH 13.02.1996 – VI ZR 402/94, VersR 1996, 633.
 
42
So schon BGH a a O.
 
43
So schon BGH aaO.
 
44
OLG Köln 28.05.2003 – 5 U 77/01, VersR 2004, 247; OLG Dresden 06.06.2002 – 4 U 3112/01, VersR 2004, 648; OLG Koblenz 05.07.2004 – 12 U 572/97, NJW 2005, 1200.
 
45
BGH 12.02.2008 – VI ZR 221/06, VersR 2008, 644.
 
46
BGH. 26.05.2020 – VI ZR 213/19, VersR 2020, 1052.