Definition, Epidemiologie und Ätiopathogenese
Das chronische
Cor pulmonale ist definiert als
kardiale Dysfunktion bei pulmonaler Hypertonie. Eine
pulmonale Hypertonie liegt nach der Definition der European Society of Cardiology vor, wenn ein pulmonaler Mitteldruck in Ruhe von 25 mmHg oder bei Belastung von 30 mmHg überschritten wird (Galié et al.
2004). Ätiologie und Pathophysiologie sind heterogen: Bei Vorliegen von Erkrankungen der Lunge oder des Thorax sowie von Störungen der pulmonalen Ventilation oder des Lungenkreislaufs entwickeln sich sekundär morphologische (Vergrößerung, Hypertrophie) und funktionelle Veränderungen (u. U. eingeschränkte Wandbewegungen) des rechten Ventrikels. Primäre Linksherzerkrankung und Herzklappenfehler sind definitionsgemäß ausgeschlossen.
Die
pulmonal-arterielle Hypertonie (PAH) ist eine Erkrankung der kleinen Pulmonalarterien, die durch vaskuläre Proliferation und Remodeling charakterisiert ist (Humpert et al.
2004). Die Progression der
pulmonalen Hypertonie ist assoziiert mit einer gesteigerten Proliferation und
Migration pulmonal-vaskulärer Gefäßmuskelzellen. Platelet-derived Growth Factor stellt ein potentes Mitogen dar, das in diesen Prozess involviert ist (Schermuly et al.
2005). Weitere (seltenere) Ursachen des chronischen
Cor pulmonale sind eine pulmonale Vasokonstriktion, bedingt durch alveoläre
Hypoxie oder Blutazidose, ferner eine allmähliche anatomische Reduktion des Lungengefäßbettes durch Emphysem oder rezidivierende
Lungenembolien etc. mit konsekutivem Lungenhochdruck (Wiedemann und Matthay
1989,
1990).
In Deutschland leiden offiziell 500.000 Menschen an
pulmonaler Hypertonie; die Zahl dürfte jedoch aufgrund der schwierigen Diagnosestellung höher liegen: Unerkannt könnte es sich um ca. 2–4 Mio. Menschen handeln, die an dieser Erkrankung leiden.
In viel geringerer Häufigkeit tritt eine pulmonal-arterielle
Hypertonie auf; sie beinhaltet u. a. die idiopathische Krankheitsform, die mit einer Inzidenz von 1/500.000 Einwohner am seltensten diagnostiziert wird. Weiterhin können
Kollagenosen, angeborene Herzfehler, portale Hypertonie bei
Leberzirrhose, eine
HIV-Infektion sowie die Einnahme von
Amphetaminen oder Appetitzüglern mit einer pulmonal-arteriellen Hypertonie assoziiert sein. An der pulmonal-arteriellen Hypertonie sind in Deutschland ca. 2000–3000 sowie in Europa und in den USA ca. 100.000 Menschen erkrankt. Der Erkrankungsgipfel liegt zwischen dem 20. und dem 40. Lebensjahr; Frauen sind dreimal häufiger betroffen als Männer. Patienten mit Shuntvitien (z. B.
Vorhofseptumdefekt), Patienten mit portaler Hypertonie bei Leberzirrhose und Patienten mit
Sklerodermie (ca. 23 %) weisen häufig eine
pulmonale Hypertonie auf. Bei 20 % der Patienten mit Sklerodermie wurde eine Vergrößerung des rechten Ventrikels beobachtet (Pope et al.
2005).
Aufgrund der unterschiedlichen Ätiologien wurde seit der WHO-Konferenz 1973 eine Unterscheidung zwischen primärer und sekundärer
pulmonaler Hypertonie vorgenommen. Die Evian-Klassifikation
aus dem Jahre 1998 unterschied 5 Krankheitsgruppen: Die Gruppe „pulmonal-arterielle Hypertonie“ wurde der „pulmonalen
Hypertonie bei Linksherzerkrankung“, den „Erkrankungen der Lungen/Hypoxie“ und der „chronisch thromboembolischen Hypertonie“ gegenübergestellt. In der 5. Gruppe wurden seltene Krankheiten mit direktem Befall der Lungengefäße zusammengefasst. Die in der Venedig-Konferenz im Jahre 2003 beschlossenen Änderungen im Vergleich zur Evian-Klassifikation zeigt Tab.
1. Die primäre
pulmonale Hypertonie (PPH) wurde in „idiopathische bzw. familiäre PAH“ umbenannt; weiterhin wurden die „pulmonal-venookklusive Erkrankung“ und die „pulmonal-kapilläre Hämangiomatose“ in das PAH-Kollektiv übergeführt. Auch einige hämatologische, endokrinologische und hereditäre Krankheiten wurden der pulmonal-arteriellen Hypertonie zugerechnet (Simonneau et al.
2004).
Tab. 1
Alte und revidierte klinische Klassifikation der pulmonalen Hypertonie (Venedig 2003; aktualisiert Dana Point 2008). (Modifiziert nach Simonneau et al.
2004,
2009)
Bisher: Primäre pulmonale Hypertonie | 1. Pulmonal-arterielle Hypertonie (PAH) a) Idiopathische pulmonal-arterielle Hypertonie (IPAH) b) Familiäre pulmonal-arterielle Hypertonie (FPAH) • BMPR2 • Unbekannt |
Bisher: Sekundäre pulmonale Hypertonie | c) Arzneimittel- und Toxin-induziert d) Assoziierte pulmonal-arterielle Hypertonie (APAH); bei: • Kollagenosen • HIV-Infektion • Portaler Hypertonie • angeborenen systemisch-pulmonalen Shunts (u. a. Herzfehler) • Bilharziose • Chronischer hämolytischer Anämiee) Persistierende pulmonal-arterielle Hypertonie des Neugeborenen (PPHN) 1. Pulmonale venookklusive Erkrankung („pulmonary veno-occlusive disease“, PVOD) und/oder pulmonal-kapilläre Hämangiomatose (PCH) |
Bisher: Sekundäre pulmonale Hypertonie | 2. Pulmonale Hypertonie bei Erkrankungen des linken Herzens a) Systolische Dysfunktion b) Diastolische Dysfunktion c) Herzklappenerkrankungen (Mitral- oder Aortenklappenfehler) |
3. Pulmonale Hypertonie bei Lungenerkrankung und/oder Hypoxieb) Interstitielle Lungenerkrankung c) Andere restriktiv und obstruktiv gemischte pulmonale Erkrankungen d) Schlafapnoesyndrom e) Alveoläre Hypoventilation f) Chronische Höhenkrankheit g) Anlagebedingte Fehlbildungen |
|
5. Pulmonale Hypertonie mit unklaren multifaktoriellen Mechanismen a) Hämatologische Erkrankungen: Myeloproliferative Erkrankungen, Splenektomie d) Andere: Obstruktion durch Tumoren, fibrosierende Mediastinitis, chronischer Nierenausfall mit Dialyse |
Die häufigste Ursache eines chronischen
Cor pulmonale ist die in Tab.
1 unter 3a) aufgeführte chronisch
obstruktive Lungenerkrankung (
COPD), hervorgerufen durch chronische Bronchitis oder Emphysem (MacNee
1994; Salvaterra und Rubin
1993). Bei Patienten mit chronisch obstruktiver Lungenerkrankung
korreliert die erhöhte Inzidenz der rechtsventrikulären Beteiligung mit dem zunehmenden Schweregrad der Lungenfunktionsstörung. So ist z. B. bei 40 % der Patienten mit einem FEV
1 <0,6 l eine rechtsventrikuläre Hypertrophie vorhanden (MacNee
1994). Allerdings stellen auch das Vorhandensein einer
Hypoxämie, einer Hyperkapnie und einer
Polyzythämie unabhängige Prädiktoren der Entwicklung einer rechtsventrikulären Hypertrophie bei chronisch obstruktiver Lungenerkrankung dar, obwohl die Korrelation nicht so eng ist wie diejenige bei gestörter Lungenfunktion.
Als
idiopathische bzw.
familiäre pulmonal-arterielle Hypertonie werden seltene Erkrankungen zusammengefasst (Inzidenz 1–3 Fälle pro 1 Mio. Einwohner und Jahr). Die Vererbung ist bei Erwachsenen autosomal-dominant mit unvollständiger
Penetranz.
In den letzten Jahren sind Mutationen bei 2 Rezeptoren der Transforming-Growth-Factor-(TGF-)β-Familie entdeckt worden, die bei der Mehrzahl der Patienten mit familiärer pulmonal-arterieller
Hypertonie vorhanden sind. Mutationen im Bone-Morphogenetic-Protein-Rezeptor-Typ 2 (BMPR-2) auf
Chromosom 2q33 (Deng et al.
2000; Lane et al.
2000) führen bei ca. 20 % der Betroffenen zu einer pulmonal-arteriellen Hypertonie. Exon-Mutationen im BMPR-2 werden bei ca. 50 % der Patienten mit familiärer pulmonal-arterieller Hypertonie gefunden (Newman et al.
2004). – Auch Defekte im Activin-like-Kinase-Typ-1-(ALK-1-)Gen können – neben der hereditären Teleangiektasie (Morbus Osler-Rendu-Weber) – eine
pulmonale Hypertonie verursachen, die klinisch einer idiopathischen bzw. familiären pulmonal-arteriellen Hypertonie ähnelt.
Kernsymptome
Die klinische Symptomatik des chronischen
Cor pulmonale wird von der zugrunde liegenden Erkrankung bestimmt. Die Frühsymptome bei Vorliegen einer pulmonalen Drucksteigerung sind relativ unspezifisch und nur schwer von denen anderer Herz- oder Lungenerkrankungen abzugrenzen. Vor allem wegen der häufig noch guten Belastbarkeit wird selten an die Frühmanifestation des chronischen Cor pulmonale gedacht. Das klinische Bild ist durch Dyspnoe und in den frühen Stadien durch noch unauffällige Röntgenthoraxaufnahmen gekennzeichnet.
In späteren Stadien, wenn sich bei pulmonaler Drucksteigerung Rechtsherzinsuffizienz eingestellt hat, sind Belastungsdyspnoe, rasche Ermüdbarkeit, körperliche Schwäche, Lethargie, linksthorakale
Schmerzen und Belastungssynkopen zu beobachten. Müdigkeit, Lethargie und Belastungssynkopen spiegeln einen fehlenden Anstieg des Herzzeitvolumens unter Belastung wider, verursacht durch eine Zunahme des Lungengefäßwiderstands. Wegen der in den Frühstadien oft noch subtilen, unspezifischen Symptomatik erfolgt die klärende Diagnose meist erst in den zunehmend symptomatischen, prognostisch ungünstigen Spätstadien NYHA III und IV. Beim chronischen
Cor pulmonale besteht häufig auch eine ausgeprägte Zyanose, die auf einen gestörten Gasaustausch (O
2) und Rechtsherzinsuffizienz zurückzuführen ist.
Auch bei Fehlen einer hämodynamisch relevanten koronaren Herzkrankheit kann bei Patienten mit allen Formen der pulmonal-arteriellen
Hypertonie eine typische Belastungs-Angina-pectoris auftreten, die wahrscheinlich Folge einer durch
Hypoxämie und gesteigerte transmurale Wandspannung induzierten subendokardialen rechtsventrikulären Myokardischämie ist (Morrison et al.
1991). Die Belastungsangina
kann allerdings auch durch dynamische Kompression des Hauptstamms der linken Koronararterie aufgrund einer vergrößerten Pulmonalarterie bedingt sein; dieses Risiko ist bei Patienten mit einem Durchmesser des Pulmonalarterienstamms von ≥40 mm am größten (Mesquita et al.
2004).
Weniger oft beobachtete Symptome sind
Husten und
Hämoptysen. Heiserkeit kann durch Kompression des linken Nervus recurrens aufgrund eines dilatierten Pulmonalarterienstammes entstehen. Ein schweres Rechtsherzversagen mit konsekutiver Leberstauung kann zu Beschwerden im rechten Oberbauch und sogar zu Anorexie führen.
Prognose des chronischen Cor pulmonale
Das chronische
Cor pulmonale bei
pulmonaler Hypertonie hat oft bedeutende prognostische Implikationen. Im Falle der chronisch
obstruktiven Lungenerkrankung z. B. ist das Auftreten einer
pulmonalen Hypertonie und peripherer
Ödeme ein Zeichen einer schlechten Prognose. Patienten mit neu aufgetretenen peripheren Ödemen haben eine 5-Jahres-Überlebensrate von nur 30 %; Patienten mit einem Lungengefäßwiderstand >550 dyn × s × cm
−5 überleben selten länger als 3 Jahre (MacNee
1994; Salvatera et al. 1993).
Allerdings scheint die Entstehung eines chronischen
Cor pulmonale bei chronisch
obstruktiver Lungenerkrankung eher den Schweregrad der zugrunde liegenden obstruktiven Erkrankung und deren Effekt auf die Mortalität widerzuspiegeln. Bei der pulmonal-arteriellen
Hypertonie beträgt die mittlere Überlebenszeit nicht spezifisch behandelter (selektive pulmonale Vasodilatation) Patienten lediglich 2,8 Jahre (D’Alonzo et al.
1991).
Gutachterliche Bewertung
Die ernste Prognose nach Auftreten einer Rechtsherzdekompensation (Sterblichkeit nach 2 Jahren 70 %!) und das Leistungsvermögen des Patienten mit chronischem
Cor pulmonale werden von der
Lungengrunderkrankung, aber auch von dem Schweregrad des sich entwickelnden
Cor pulmonale bestimmt.
Beim kompensierten chronischen Cor pulmonale kommt der kardialen Begutachtung nur eine geringe Bedeutung zu, da Symptomatik, Leistungsvermögen und Prognose nahezu ausschließlich von der zugrunde liegenden Störung der Lungenfunktion bestimmt werden (Barmeyer und Machroui
2001).
Bei nur
gering ausgeprägter pulmonaler Hypertonie ist unter Berücksichtigung der Grunderkrankung eine überwiegend geistige Tätigkeit möglich, wobei allerdings die Wegefähigkeit berücksichtigt werden muss. Patienten mit den
Klassen I und II der
pulmonalen Hypertonie sollten auf jeden Fall isometrische Belastungen vermeiden.
In der Regel ist bei mittelschwerer und schwerer pulmonaler Hypertonie (Klassen III und IV) bei allen körperlich arbeitenden Personen von einer aufgehobenen Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben auszugehen.
Im Stadium der Rechtsherzdekompensation bei chronischem
Cor pulmonale ergibt sich aus kardiologischer Sicht Berufs- und Erwerbsunfähigkeit. Da die Rechtsherzkatheteruntersuchung
nicht duldungspflichtig ist, muss ganz überwiegend die (zweidimensionale) Echokardiografie mit der Dopplersonografie eingesetzt werden, um die erforderlichen Informationen zur Beurteilung der Berufsunfähigkeit bzw. Erwerbsminderung zu gewinnen. Schwere körperliche Anstrengungen, insbesondere bei isometrischer Belastung, sind in der Regel nicht möglich.
Beim chronischen
Cor pulmonale muss jedoch die Einschränkung der Leistungsfähigkeit durch die bronchopulmonale Grunderkrankung gesondert berücksichtigt werden (Barmeyer und Machroui
2001).
Im
echokardiografischen Stadium I (normale Größe und Wanddicke des rechten Ventrikels) wird die Einschränkung der Berufs- und Erwerbsfähigkeit allein durch das Ausmaß der bronchopulmonalen Erkrankung bestimmt. Im
Stadium II (hypertrophierter, aber noch nicht dilatierter rechter Ventrikel) besteht nur noch für Berufe mit leichter körperlicher Belastung eine Berufsfähigkeit. In den echokardiografischen
Stadien III und IV des chronischen
Cor pulmonale, die mit einer ungünstigen Prognose belastet sind (Machraoui et al.
1990), ist von voller bzw. teilweiser Erwerbsminderung auszugehen.
Wird die pulmonale Druckerhöhung nicht durch Veränderungen des Lungenparenchyms, sondern durch „
Remodeling“ der Lungengefäßwand mit konsekutiver Lumeneinengung hervorgerufen (
Cor pulmonale vasculare), werden Symptomatik, Belastbarkeit und Prognose im Wesentlichen durch Morphologie (Hypertrophie) und Funktion des rechten Ventrikels determiniert. In diesem Falle sollte bei einem Gutachtenauftrag eine invasive Rechtsherzkatheteruntersuchung durchgeführt werden, um die rechtsventrikuläre Funktion (Füllungsdruck und regionale Wandbewegung) abzuklären, da die Herzgröße beim chronischen Cor pulmonale nicht denselben hämodynamischen Aussagewert besitzt wie bei linksventrikulären Erkrankungen (Barmeyer und Machroui
2001).
Beim hämodynamischen Stadium I (gestörte rechtsventrikuläre Funktion) liegt nur für Berufe, bei denen nur leichte körperliche Belastung gefordert wird, Berufsfähigkeit vor, die Erwerbsfähigkeit ist grds. gegeben. In den hämodynamischen Stadien II–IV besteht eine Berufsunfähigkeit für alle Berufe mit körperlicher Arbeit, ab Stadium III auch Erwerbsunfähigkeit, d. h. volle Erwerbsminderung.
Liegt eine chronische pulmonale Druckerhöhung bei nicht körperlich tätigen Personen vor, so muss bei der sozialmedizinischen Begutachtung beachtet werden, dass mit der O
2-Langzeittherapie und den jetzt vorhandenen neuen Möglichkeiten der medikamentösen Therapie der
pulmonalen Hypertonie (
Kalziumantagonisten, intravenöse und inhalative
Prostanoide, Endothelinantagonisten und Phosphodiesterase-5-Inhibitoren) neue Therapieoptionen vorhanden sind, die im Einzelfall sehr effektiv sein können. Gerade bei diesen Patienten muss der Erfolg der medikamentösen, vasodilatierenden Therapie invasiv überprüft werden, um Entscheidungen über den Umfang der Erwerbsfähigkeit treffen zu können.
Wenn ein gesicherter zeitlicher Zusammenhang zwischen einer unfallbedingten/ereignisbedingten Thrombose (meist tiefe Venenthrombose der unteren Extremität) und nachfolgenden wiederholten
Lungenembolien besteht, muss in der gesetzlichen Unfallversicherung bzw. im sozialen Entschädigungsrecht (SER) ein
chronisches Cor pulmonale als Folgeschaden der Thrombose anerkannt werden, was entschädigungsrechtlich zu einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) in der Unfallversicherung oder einem Grad der Schädigungsfolge (GdS) im SER führen kann.