Die Ärztliche Begutachtung
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Verfasst von:
Harald Klein, Stephan Schlösser, Ekkehard Schifferdecker, Helmut Schatz und Marianne Ehren
Publiziert am: 14.09.2022

Diabetes mellitus – Begutachtung

Bei etwa 8 % der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland besteht ein Diabetes mellitus, und somit ist es wenig erstaunlich, dass diese Erkrankung und ihre Folgeerkrankungen in der medizinischen Begutachtung eine wichtige Rolle spielt.
Gutachtlich relevant bei Fragen der Kausalität ist, ob Faktoren zu einer früheren Manifestation oder gar Entstehung eines Diabetes beigetragen haben. Besteht ein Diabetes, betreffen gutachtliche Fragestellungen u. a. die Bewertung des Grads der Behinderung, der Fahreignung und möglicher beruflicher Einschränkungen. Bei Unfällen oder Straftaten muss ggf. die Rolle (möglicher) Hypoglykämien geklärt werden. Bei Unfallereignissen und z. B. diabetischem Fußsyndrom kann eine Abwägung der Unfall- und nicht Unfall-bedingten Ursachen für den resultierenden Gesundheitsschaden erforderlich sein.

Definition

Der Diabetes mellitus ist eine chronische Erkrankung, die durch eine Erhöhung der Glukosekonzentration im Blut (Hyperglykämie) definiert wird. Die Krankheit beruht auf einem absoluten oder relativen Mangel an biologisch wirksamem Insulin, der zu einer Störung des Kohlenhydrat-, Eiweiß- und Fettstoffwechsels führt.

Einteilung, Ätiopathogenese

Der Leitbefund des Diabetes mellitus ist die chronische Hyperglykämie, der heterogene Störungen des Stoffwechsels zugrunde liegen. Es liegen Störungen der Insulinsekretion und/oder der Wirksamkeit des Insulins vor.
Wesentliche Formen sind der
  • Typ-1-Diabetes, bei dem eine meist immunologisch vermittelte β-Zell-Zerstörung zu einem absoluten Insulinmangel führt. Zur Klassifikation dienen der typische Verlauf und der Nachweis von Autoantikörpern. Für den Typ 1-Diabetes ist der Nachweis eines oder mehrerer dieser Autoantikörper charakteristisch: Insulinautoantikörper (IAA, im Kindes- und Adoleszentenalter, nicht bei Erwachsenen); Autoantikörper gegen Glutamat-Decarboxylase der ß-Zelle (GAD65A), Autoantikörper gegen Tyrosinphosphatase (IA-2) sowie Autoantikörper gegen den Zink Transporter 8 der ß-Zelle (ZnT8). Die Definition des Typ-1-Diabetes schließt auch Patienten ein, die zunächst klinisch häufig als Typ-2-Diabetes diagnostiziert werden und dann entweder bei Diagnosestellung oder erst viele Jahre später auf Grund eines positiven Insel-Autoantikörpers die Diagnose „LADA“ (Latent Autoimmune Diabetes in Adults) erhalten. Auch der im Rahmen von Tumortherapien auftretende Checkpoint-Inhibitor-induzierte Diabetes wird als Typ 1-Diabetes klassifiziert (Schleicher et al. 2021; Haak et al. 2018; Holt et al. 2021)
  • Typ-2-Diabetes, bei dem es sich um eine multifaktorielle Erkrankung mit ausgeprägter polygenetischer Komponente handelt (Agostini et al. 2021; Schleicher et al. 2021). Verwandte 1. Grades von Patienten mit Typ 2-Diabetes haben ein deutlich erhöhtes Risiko, ebenfalls an Typ 2-Diabetes zu erkranken, viszerale Adipositas, körperliche Inaktivität, obstruktives Schlaf-Apnoe Syndrom und diabetogene Medikamente sind weitere Risikofaktoren und können eine frühere Manifestation begünstigen. Eine Manifestation wird auch durch Infekte, Sepsis, schwere Verbrennungen mit anhaltendem bzw. hohem Fieber, große Operationen und Verletzungen begünstigt. Trotz der starken familiären Komponente bei der Pathogenese des Typ 2-Diabetes ist die Genetik sehr komplex, da offenbar sehr viele Gene mit jeweils nur sehr geringer Penetranz und epigentische Faktoren eine Rolle spielen (Fuchsberger et al. 2016). Bei mindestens 80 % der Patienten besteht eine Adipositas, die zu der für den Typ-2-Diabetes charakteristischen Insulinresistenz beiträgt. In letzter Zeit wird versucht, den Typ 2-Diabetes basierend auf klinisch-laborchemischen Variablen in verschiedene Gruppierungen („Cluster“) zu unterteilen (Ahlqvist et al. 2018). Dabei ergeben sich zwei Gruppen mit schwereren Verläufen (severe insulin deficient diabetes, SIDD, der mit einem hohen Retino- und Neuropathierisiko einhergeht, und severe insulin resistant diabetes, SIRD, der mit einem hohen Risiko für diabetische Nephropathie und schneller Progression zur terminalen Niereninsuffizienz einhergeht) und zwei Gruppen mit leichteren Verläufen (mild obesity-related diabetes, MOD, und mild age-related diabetes, MARD).
Seltener sind Diabetesformen mit bekannten genetischen Ursachen mit Störung der ß-Zellfunktion (z. B. MODY und neonatale Formen) oder der Insulinwirkung (Schleicher et al. 2021).
Darüber hinaus gibt es sekundäre Diabetesformen, ausgelöst z. B. durch eine Insulinsekretionsstörung bei Pankreatitis, zystischer Fibrose, Hämochromatose, Pankreaskarzinom oder nach Pankreaschirurgie. Auch Endokrinopathien (z. B. Cushing-Syndrom, Akromegalie, Phäochromozytom) oder Medikamente (z. B. Glukokortikoide, Neuroleptika, Alpha-Interferon, Pentamidin) können die Manifestation eines Diabetes auslösen.
Einen erstmals während der Schwangerschaft aufgetretenen oder diagnostizierten Diabetes bezeichnet man als Gestationsdiabetes.

Begutachtung des Zusammenhangs zwischen Trauma und Diabetes mellitus

Grundsätzlich können exogene Ursachen zur Entstehung, vorzeitigen Manifestation oder Verschlimmerung eines Diabetes mellitus führen, immer besteht allerdings auch die Möglichkeit einer zufälligen Koinzidenz von Trauma und Diabetes.

Unfall-Trauma als Ursache des Diabetes

Totale Pankreatektomie und die Totalnekrose bei Unterbrechung der arteriellen Versorgung führen zum Diabetes mellitus und zur exokrinen Pankreasinsuffizienz. Allerdings ist die direkte traumatische Pankreasschädigung sehr selten alleinige Ursache für einen Diabetes, da mit wenig Pankreasgewebe die Inselzellfunktionen aufrechterhalten kann und bei der geschützten Lage des Pankreas schwere Verletzungen anderer Organe der Umgebung häufig mit dem Leben nicht vereinbar sind. Stich, Schuss, Prellung, Quetschung, Einklemmung bei Verkehrs- und Arbeitsunfällen kommen als Trauma in Frage. In einer Serie von 300 durch explorative Laparotomie nachgewiesenen Fällen überwiegend penetrierender Pankreastraumata entwickelte sich lediglich bei 3 der 241 überlebenden Patienten (1,2 %) ein Diabetes mellitus, bei allen nach Resektion von mehr als 80 % des Organs (Jones 1978). Es gibt wenige Publikationen zu diesem Thema, aber auch eine neuere Studie mit längerer Nachbeobachtung bestätigte eine geringe Inzidenz von Störungen der endokrinen Pankreasfunktion nach Pankreastraumen (Morita et al. 2017). Die diagnostische Beurteilung des Ausmaßes einer Pankreasschädigung erfolgt durch Computertomographie (CT) oder Kernspintomographie und/oder ggf. Endosonographie. Eine Abgrenzung gegen vorher bestehende Pankreasschäden wie Pankreatitis, Pankreasfibrose, -nekrose, -zysten, Hämochromatose, Amyloidose, Tumoren und Metastasen ist zwingend erforderlich. Befunde nach nicht Trauma-bedingten Pankreasoperationen können Anhaltspunkte für einen ß-Zellverlust liefern, der für eine Entstehung eines Diabetes notwendig ist (Meier et al. 2012).

Unfall-Trauma als Auslöser einer vorzeitigen Manifestation oder Verschlimmerung eines bestehenden Diabetes

Obwohl Pankreastraumen als alleinige Ursache selten sind (s. o.), kann eine Reduktion der vorhandenen ß-Zellmasse zu einer vorzeitigen Manifestation oder Verschlechterung der Stoffwechsellage bei vorbestehendem Diabetes führen (Menge et al. 2009). Auch andere Unfall-Traumata, insbesondere Schädel-Hirn-Traumata, können durch Auslösung einer Stressreaktion über verschiedene Mechanismen zu vorzeitiger Manifestation oder vorübergehender Verschlechterung der Stoffwechsellage bei vorbestehendem Diabetes führen (McCowen et al. 2001)

Post-traumatic stress disorder (PTSD) und Diabetes:

Die Frage, ob psychische Traumata (z. B. durch Vergewaltigung oder Militäreinsatz) die Manifestation eines Typ 2-Diabetes begünstigen, ist umstritten. Es gibt zwar Hinweise, dass die Inzidenz des Typ 2-Diabetes in diesen Fällen erhöht ist, dies könnte aber auch auf eine stärkere Gewichtszunahme als Nebenwirkung von Antidepressiva zurückzuführen sein (Roberts et al. 2015)

Folgeerkrankungen des Diabetes/diabetisches Fußsyndrom

Gutachterlich von Bedeutung ist auch die Erfassung der Folgeerkrankungen des Diabetes. Hierzu gehören das erhöhte kardiovaskuläre Risiko (koronare Herzkrankheit, Herzinsuffizienz, periphere arterielle Verschlusskrankheit, Schlaganfall), sowie die diabetische Retino- und Nephro- und Neuropathie (siehe hierzu auch den Beitrag „Endokrine und Stoffwechseldiagnostik“).
Speziell das diabetische Fußsyndrom ist häufig Anlass für gutachtliche Stellungnahmen. Ulcera und Nekrosen entwickeln sich meist als Folge von repetitiver Traumatisierung bei eingeschränktem Druck- und Schmerzempfinden im Rahmen einer diabetischen Polyneuropathie (z. B. als hohe Druck- und Scherkraftbelastung, insbesondere bei Fuß- und Zehendeformitäten). In Deutschland liegt zudem bei mehr als 50 % der Fälle eine relevante periphere arterielle Verschlusskrankheit vor, deren Symptomatik durch die Polyneuropathie verdeckt ist. Die Wahrscheinlichkeit eines diabetischen Fußsyndroms für die gesamte Lebensdauer eines Menschen mit Diabetes beträgt 19–34 % und 65–70 % aller Amputationen werden auch heute noch bei Patienten mit Diabetes mellitus durchgeführt (Morbach et al. 2021).
Eine Besonderheit ist die diabetische Neuro-Osteo-Arthropathie (DNOAP), der sog. „Charcot-Fuß“. Bei diesem kommt es im akuten Stadium klinisch zu Rötung, Schwellung und Überwärmung des Fußes, im Fußskelett zu Demineralisation, Osteolysen und ossärer Fragmentation. Unter Alltagsbelastung können Frakturen und Luxationen mit zunehmender Ausbildung einer Fußdeformität entstehen. Diagnostisch wegweisend ist hier eine MRT-Untersuchung.
Gutachtliche Fragestellungen betreffen z. B. die Bewertung eines diabetischen Vorschadens bei Unfallschäden. Hier kommt es dann auf die „Wertigkeit“ der Ursachen an, was im Einzelfall sehr schwierig zu beurteilen sein kann (siehe hierzu Kap. 6).

Grad der Schädigungsfolgen (GdS)/Grad der Behinderung (GdB)

Tab. 1 zeigt die Kriterien zur Bemessung des GdS bei Diabetes mellitus in Anlehnung an die Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV), Stand Mai 2020 (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2020)
Tab. 1
zeigt die Kriterien zur Bemessung des GdS bei Diabetes mellitus, Stand Mai 2020
Die an Diabetes erkrankten Menschen, deren Therapie regelhaft keine Hypoglykämie auslösen kann und die somit in der Lebensführung kaum beeinträchtigt sind, erleiden auch durch den Therapieaufwand keine Teilhabebeeinträchtigung, die die Feststellung eines GdS rechtfertigt.
Der GdS beträgt 0
Die an Diabetes erkrankten Menschen, deren Therapie eine Hypoglykämie auslösen kann und die durch Einschnitte in der Lebensführung beeinträchtigt sind, erleiden durch den Therapieaufwand eine signifikante Teilhabebeeinträchtigung.
Der GdS beträgt 20
Die an Diabetes erkrankten Menschen, deren Therapie eine Hypoglykämie auslösen kann, die mindestens einmal täglich eine dokumentierte Überprüfung des Blutzuckers selbst durchführen müssen und durch weitere Einschnitte in der Lebensführung beeinträchtigt sind, erleiden je nach Ausmaß des Therapieaufwands und der Güte der Stoffwechseleinstellung eine stärkere Teilhabebeeinträchtigung.
Der GdS beträgt 30 bis 40
Die an Diabetes erkrankten Menschen, die eine Insulintherapie mit täglich mindestens vier Insulininjektionen durchführen, wobei die Insulindosis in Abhängigkeit vom aktuellen Blutzucker, der folgenden Mahlzeit und der körperlichen Belastung selbständig variiert werden muss, und durch erhebliche Einschnitte gravierend in der Lebensführung beeinträchtigt sind, erleiden auf Grund dieses Therapieaufwands eine ausgeprägte Teilhabebeeinträchtigung. Die Blutzuckerselbstmessungen und Insulindosen (beziehungsweise Insulingaben über die Insulinpumpe) müssen dokumentiert sein.
Der GdS beträgt 50
Außergewöhnlich schwer regulierbare Stoffwechsellagen können jeweils höhere GdS-Werte bedingen.
 
Der mit dem Diabetes mellitus einhergehende Therapieaufwand allein begründet keine Zuerkennung eines GdS/GdB. Es müssen „Einschnitte in der Lebensführung“ hinzutreten, die die Teilhabe in der Gesellschaft beeinträchtigen. In der Begründung der Neufassung der VersMedV (BR-Drucksache 285/10) heißt es: „Der Beirat stellte ausdrücklich fest, dass eine gesunde Lebensführung – auch wenn sie zeitaufwändig realisiert wird – zu keiner Beeinträchtigung der Teilhabe in der Gesellschaft führt. … Einschnitte in der Lebensführung zeigen sich zum Beispiel bei der Planung des Tagesablaufs, der Gestaltung der Freizeit, der Zubereitung der Mahlzeiten, der Berufsausübung und der Mobilität.“
Die maßgeblichen Kriterien für die Einschätzung, ob ein GdS von 30 oder 40 vorliegt, sind „Ausmaß“ des Therapieaufwandes und „Güte“ der Stoffwechseleinstellung, wofür der HbA1c-Wert heranzuziehen ist.
Für einen GdS-Grad von 50 müssen neben täglich mindestens vier Insulininjektionen Einschnitte vorliegen, die erheblich sind und die gravierend die Lebensführung beeinträchtigen. Die Anzahl von Insulininjektionen spielt ansonsten keine Rolle. Das Bundessozialgericht hat in seiner Entscheidung vom 24. April 2008 B 9/9a SB 10/06 R betont, dass sich allein aus der Zahl der täglichen Insulininjektionen nicht mit hinreichender Sicherheit und Genauigkeit auf das Ausmaß der durch einen Diabetes mellitus bedingten Teilhabebeeinträchtigung schließen lässt.
Eine GdS-Erhöhung durch schwer regulierbare Stoffwechsellagen ist nur dann gerechtfertigt, wenn diese „außergewöhnlich“ schwer regulierbar sind; zum Beispiel dann, wenn nur durch wiederholte stationäre Behandlungen eine zufriedenstellende Zuckereinstellung gelingt.
Die Neigung zu schweren Hypoglykämien kann in Analogie zu der Einteilung der epileptischen Anfälle gewürdigt werden. Kommt es unter einer adäquaten Diabetestherapie – wie sehr häufig festzustellen – zu schweren Hypoglykämien (was oft auch auf die Unfähigkeit zurückzuführen ist, die Hypoglykämie rechtzeitig zu erkennen), können GdS/GdB bis zu 100 betragen.
Diabetes-assoziierte Gesundheitsstörungen (z. B. Polyneuropathie, diabetischer Fuß) sind als eigene Funktionsbeeinträchtigung der in der VersMedV geordneten Organsysteme zu beurteilen und haben keinen Einfluss auf die GdS/GdB-Bewertung der Zuckerkrankheit gemäß den Versorgungsmedzinischen Grundsätzen (Ziff. 15.1) als Anlage zur VersMedV.

Versicherungsrechtliche Begutachtungskriterien

Der medizinisch klar definierte Zusammenhang zwischen Krankheitsursache und Krankheitsentstehung wird versicherungsrechtlich unterschiedlich beurteilt.
Im Sozialversicherungsrecht (Gesetzliche Unfallversicherung, Versorgungsrecht) gilt die Kausaltheorie der „wesentlichen Bedingung“. Sie besagt, dass als Ursache einer Krankheit nur die Schädigung (schädigender Vorgang) anerkannt werden kann, die mit ausreichender (hinreichender) Wahrscheinlichkeit eine wesentliche Bedingung für die Krankheitsentstehung darstellt.
Das Zivilrecht urteilt nach der Adäquanztheorie. Danach ist ein ursächlicher Zusammenhang zwischen Schädigung und Krankheit mit ausreichender Wahrscheinlichkeit gegeben, wenn die Schädigung eine notwendige Bedingung für die Krankheit ist. Dies setzt voraus, dass die Krankheit der Schädigung adäquat ist, d. h. die Schädigung geeignet war, die Krankheit herbeizuführen, und wenn durch die Schädigung zugleich eine erhöhte Erkrankungsgefahr gegeben war.
Übereinstimmung in der Bewertung besteht in beiden Rechtsbereichen nur beim echten traumatischen Diabetes, wie auch in o. g. Leitlinien zur Begutachtung eines Zusammenhanges zwischen Trauma und Diabetes mellitus dargestellt:
  • Ist der Diabetes ausschließlich durch ein Trauma verursacht worden, gilt dieses Trauma als alleinige und voll entschädigungspflichtige Krankheitsursache für die Dauer und Folgen der Krankheit, beim Diabetiker also lebenslang. Vor der Entschädigung erfasst werden dann auch alle weiteren im Verlauf der Krankheit auftretenden Komplikationen als mittelbare Ursache bzw. Folgeschäden.
  • Hat das Trauma zu einer vorzeitigen Manifestation des Diabetes geführt, wird im Zivilrecht (Schadensersatzrecht) gem. der Adäquanztheorie das Trauma entweder als „wesentliche Mitursache“ anerkannt oder als „unwesentliche Teilursache“ abgelehnt.
  • Im Sozialversicherungsrecht wird die vorzeitige Manifestation unter dem Begriff der „Verschlimmerung“ eingeordnet. Die Verschlimmerung kann vorübergehend, einmalig abgegrenzt oder richtunggebend sein. Ist das Trauma nach medizinischen Kriterien als „wesentliche Teilursache“ (Jahnke und Oberdisse 1961) für eine einmalige abgegrenzte Verschlimmerung anzusehen, muss ein Anteil an der (Gesamt-) MdE/GdS/GdB anerkannt und entschädigt werden, in der Regel ohne zeitliche Begrenzung, aber auch ohne die Möglichkeit einer Erhöhung durch später auftretende Krankheitskomplikationen.
  • Bei einer richtunggebenden Verschlimmerung wird die (gesamte) MdE bzw. der GdS sowie jede später eintretende Verschlimmerung der Krankheit als Schädigungs- bzw. Unfallfolge anerkannt. Eine solche Verschlimmerung liegt jedoch nur in den seltenen Fällen vor, bei denen nach der Diabetesmanifestation keine Stoffwechselkompensation zu erreichen ist und der weitere Krankheitsverlauf eine ungünstige, der allgemeinen Erfahrung nicht entsprechende Richtung nimmt.
  • Hat ein Trauma nach medizinischer Einschätzung zu einer Verschlimmerung eines bestehenden Diabetes geführt, muss nach der Adäquanztheorie zwischen einer einmaligen abgegrenzten und einer richtunggebenden Verschlimmerung unterschieden werden. Bei einer einmaligen abgegrenzten Verschlimmerung wird der Diabetes nur im Umfang der Verschlimmerung, bei richtunggebender Verschlimmerung vom Zeitpunkt der Verschlimmerung an in vollem Umfang anerkannt. Im Sozialversicherungsrecht entspricht die Beurteilung der Diabetesverschlimmerung wie bereits ausgeführt einer vorzeitigen Diabetesmanifestation.

Begutachtung von Hypoglykämien und deren psychopathologischen Symptomen

Unter einer Therapie mit Sulfonylharnstoffen, Gliniden und Insulin (auch bei endogenem Hyperinsulinismus, z. B. Insulinomen) können Hypoglykämien auftreten, in deren Verlauf psychopathologische Symptome beobachtet werden können. Durch ausgeprägte Störungen des Antriebs und der Affektivität kann es bei zunehmendem Kritikverlust zur ungehemmten Realisierung von Triebimpulsen kommen. Für in diesem Zustand verübte Straftaten, kann später eine nicht selten eine Amnesie eintreten (zahlreiche Kasuistiken, Übersichten bei Marks 2015a, 2015b).
Der Gutachter muss entscheiden, ob zum Zeitpunkt der Straftat eine Hypoglykämie vorgelegen haben kann, und ob der Proband (Angeklagte) für das Auftreten der Hypoglykämie verantwortlich war. Eine sorgfältige Anamnese, Stabilität der Stoffwechseleinstellung, Kooperabilität und die Persönlichkeit des Patienten können Hinweise geben. Eventuell gibt eine iatrogene Hypoglykämie unter psychiatrischer Beobachtung Hinweise auf eine Neigung zu psychopathologischen Symptomen.
Wichtig für die Begutachtung ist, dass Alkohol, aber auch einige Medikamente (Ben Salem et al. 2011) sowie Begleiterkrankungen die Neigung zu Hypoglykämien unter Sulfonylharnstoffen, Gliniden und Insulin verstärken können.

Begutachtung der Fahreignung von Menschen mit Diabetes mellitus

Zahlreiche Untersuchungen belegen, dass Menschen mit Diabetes mellitus kein statistisch signifikant erhöhtes Risiko für Verkehrsunfälle haben (Hostiuc et al. 2016). Grundsätzlich kann aber die Therapie mit Insulin, Sulfonylharnstoffen und Gliniden zu Hypoglykämien führen, welche die Fahreignung einschränken.
Maßgebend für die Begutachtung der Fahreignung sind die „Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung“ der Bundesanstalt für Straßenwesen (Bundesanstalt für Straßenwesen 2019), welche auch die europäische Führerscheinrichtlinie umsetzt. Für die weitere Bearbeitung und Ausgestaltung werden unter Federführung der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) und Beteiligung der relevanten Fachgesellschaften Expertengruppen einberufen, die die Leitlinien kapitelweise bearbeiten. Die überarbeitete Version wird nach Zustimmung des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur online veröffentlicht und tritt damit in Kraft.
Für die Zwecke der Begutachtungsleitlinien werden die Fahrerlaubnisklassen entsprechend des jeweils gültigen Anhangs III der EU-Führerscheinrichtlinie und der Anlage 4 der Fahrerlaubnisverordnung (FeV) in zwei Gruppen unterteilt:
Gruppe 1: Führer von Fahrzeugen der Klassen A, A1, A2, B, BE, AM, L und T
Gruppe 2: Führer von Fahrzeugen der Klassen C, C1,CE, C1E, D, D1, DE, D1E und die Fahrerlaubnis zur Fahrgastbeförderung (FzF)
Für beide Gruppen gelten folgende Leitsätze (Bundesanstalt für Straßenwesen 2019):
  • Gut eingestellte und geschulte Menschen mit Diabetes können Fahrzeuge beider Gruppen sicher führen.
  • Therapieregime und Fahrzeugnutzung sind bei der Begutachtung zu berücksichtigen.
  • Die Gefährdung der Verkehrssicherheit geht beim Diabetes mellitus in erster Linie vom Auftreten einer Hypoglykämie mit Kontrollverlust, Verhaltensstörungen oder Bewußtseinsbeeinträchtigungen aus.
  • Eine ungestörte Hypoglykämiewahrnehmung ist Voraussetzung für die Fahreignung.
  • Wer nach einer Stoffwechseldekompensation erstmals oder wer neu eingestellt wird, darf kein Fahrzeug führen, bis die Einstellphase nach ärztlicher Einschätzung durch Erreichen einer ausgeglichenen Stoffwechsellage (insbesondere bezüglich der Normalisierung des Sehvermögens sowie der Wahrnehmung von Hypoglykämien) abgeschlossen ist (Tab. 2).
Zusammenfassend erfüllt die Mehrzahl der Menschen mit Diabetes mellitus die Anforderung an das sichere Führen von Kraftfahrzeugen beider Gruppen. Eine Einschränkung der Fahreignung kann jedoch dann vorliegen, wenn durch eine unzureichende Behandlung, durch Nebenwirkungen der Behandlung oder durch Komplikationen der Erkrankung verkehrsgefährdende Gesundheitsstörungen bestehen oder zu erwarten sind. In diesem Falle ist eine individuelle Beurteilung erforderlich. Von Seiten der Betroffenen sind die Kompetenz im Umgang mit der Erkrankung sowie ihr Verantwortungsbewusstsein wesentliche Grundlagen der Fahreignung. Deshalb kommt der Schulung eine besondere Bedeutung zu.
Tab. 2
Fahreignung Gruppe 1 und 2 (angelehnt an Bundesanstalt für Straßenwesen 2019)
Diagnose
Therapie
Gruppe 1 Auflagen
Gruppe 2 Auflagen
Diabetes mellitus Typ 1 oder Typ 2
Ausgeglichene Stoffwechsellage, keine Folgekomplikationen, keine Hypoglykämie-Wahrnehmungsstörung
Diätetisch, Lifestyle
Keine Einschränkung
Nach Einstellung (stabile Stoffwechselführung über 3 Monate)
 
Medikamentöse Therapie mit niedrigem Hypoglykämierisiko
Keine Einschränkung
Nach Einstellung (stabile Stoffwechselführung über 3 Monate) und Schulung i. d. R. keine Einschränkung
Regelmäßige ärztliche Kontrollen
Medikamentöse Therapie mit hohem Hypoglykämierisiko (Sulfonylharnstoffe, Glinide, Insuline)
Nach Einstellung und Schulung keine Einschränkung bei ungestörter Hypoglykämie-Wahrnehmung. Stoffwechselselbstkontrollen empfohlen. Nachzuweisen ist (beispielsweise durch ein Attest des behandelnden Arztes), dass das Risiko einer Hypoglykämie verstanden wird und die Erkrankung angemessen unter Kontrolle ist. Bei Zweifel an der Fahreignung kann die Beibringung eines fachärztlichen Gutachtens sowie regelmäßige ärztliche Kontrollen angeordnet werden.
Nach Einstellung (stabile Stoffwechselführung über 3 Monate) und Schulung i. d. R. keine Einschränkung bei ungestörter Hypoglykämie-wahrnehmung.
Fachärztliche Begutachtung alle 3 Jahre
Regelmäßige ärztliche Kontrollen
Stoffwechselselbstkon-trollen sind ggf. zu fordern
Nach erstmaliger Stoffwechselentgleisung oder bei neuer Einstellung
Nach Einstellung (stabile Stoffwechselführung)
Nach Einstellung (stabile Stoffwechselführung über 3 Monate)
Gestörte Hypoglykämiewahrnehmung
Nicht geeignet, bis Hypoglykämiewahrnehmung wiederhergestellt
Nicht geeignet, bis Hypoglykämiewahrnehmung wiederhergestellt
Mehr als eine fremdhilfebedürftige Hypoglykämie im Wachzustand in den letzten 12 Monaten
In der Regel für die Dauer von 3 Monaten nicht geeignet, bis die Stoffwechsellage stabil und Hypoglykämiewahrnehmung sichergestellt ist. Ein fachärztliches Gutachten und regelmäßige ärztliche Kontrollen sind notwendig.
In den letzten 12 Monaten darf keine wiederholte schwere Hypoglykämie aufgetreten sein. Abhängig von der ärztlichen Begutachtung im jeweiligen Einzelfall kann jedoch unter günstigen Umständen auch eine kürzere Frist ausreichend sein; der Zeitraum bis zur Wiedererlangung der Fahreignung beträgt aber dann mindestens 3 Monate. Regelmäßige ärztliche Kontrollen.
Anhaltende Hyperglykämie
Nicht geeignet, wenn Konzentration, Reaktion und Aufmerksamkeit erheblich beeinträchtigt sind (ggf. fachärztliche Einzelfallbeurteilung)
Nicht geeignet, wenn Konzentration, Reaktion und Aufmerksamkeit erheblich beeinträchtigt sind (ggf. fachärztliche Einzelfallbeurteilung)
Spätkomplikationen, Folgeerkrankungen
Siehe entsprechende Kapitel der Begutachtungsleitlinien
Siehe entsprechende Kapitel der Begutachtungsleitlinien
Zur Beurteilung der Fahreignung sind auch weitere individuelle Faktoren heranzuziehen. So ist beispielsweise sowohl in Gruppe 1 als auch in Gruppe 2 die Fahrzeugnutzung zu berücksichtigen, da sowohl bei beruflichen Fahrzeugführern der Gruppe 1, z. B. Kurierdienste, und auch innerhalb der Gruppe 2 die Anforderungen an die Fahrzeugführer (Termindruck, Ladearbeiten, etc.) als auch das Gefährdungspotential durch die Fahrzeugnutzung (Nutzung im öffentlichen Verkehrsraum versus nur auf dem Betriebsgelände, unterschiedliche Fahrleistung, Personenbeförderung, Gefahrguttransport, etc.) sehr unterschiedlich sein können.

Begutachtung und Beratung zur Eignung von Menschen mit Diabetes für bestimmte Berufe

Allgemeine Kriterien der Arbeitsfähigkeit

Der Diabetes mellitus ist einer der häufigsten chronischen Erkrankungen in Deutschland mit steigender Inzidenz und Prävalenz. Es ist deshalb volks- und betriebswirtschaftlich geboten, bei möglichst vielen Menschen mit Diabetes die Arbeitsfähigkeit zu erhalten bzw. sie wieder in die betrieblichen Abläufe einzugliedern.
Bei der Beurteilung beruflicher Möglichkeiten werden auch heutzutage oft noch veraltete Regeln angewandt, die nicht mehr den gesetzlichen Anforderungen entsprechen. Bei einer zunehmenden Vielfalt an Berufen und raschen Änderungen von Tätigkeiten innerhalb einzelner Berufsfelder ist heute in jedem Einzelfall eine differenzierte Beurteilung der vorhandenen persönlichen Fähigkeiten und den konkreten beruflichen Erfordernissen notwendig. Hierzu bedarf es einer frühzeitigen Kommunikation zwischen den behandelnden Ärzten und Betriebs-/Arbeitsmedizinern.
Der Ausschuss „Soziales“ der Deutschen Diabetes-Gesellschaft hat zuletzt 2006 Empfehlungen zur „Beratung bei Berufswahl und Berufsausübung von Diabetikern“ zusammenfassend formuliert (Rinnert 2006); in weiten Teilen darauf basierend hat die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV) einen Leitfaden für Betriebsärzte zum Thema „Diabetes und Beruf“ erstellt (Rinnert und Neubauer 2012), dessen wesentliche Inhalte nachfolgend dargestellt werden.
Für die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit von Menschen mit Diabetes sind verschiedene Faktoren zu berücksichtigen, u. a.
  • Art des Berufes
  • Unfallgefährdung im Sinne von Eigen-und Fremdgefährdung
  • Qualität der Stoffwechseleinstellung über einen längeren Zeitraum
  • Art der Therapie
  • Hypoglykämien (Häufigkeit, Schwere, Wahrnehmung)
  • Folgeerkrankungen, insbesondere Retinopathie und Polyneuropathie
  • Umgang mit der Erkrankung (Selbstbehandlungskompetenz)
Durch neue Diabetestherapien (orale Antidiabetika ohne Hypoglykämie-Risiko, moderne kurz-und langwirkende Insuline, Insulinpumpe), regelmäßige Schulungen und Blutzuckerselbstkontrollen (kapillär, Glukosesensoren) erreichen viele Betroffene eine Verbesserung der Blutzuckereinstellung, welche mit einer Reduktion von Akut-und Spätkomplikationen einhergeht.
Bei der Einschätzung beruflicher Möglichkeiten und Risiken von Menschen mit Diabetes mellitus ist grundsätzlich eine Einzelfallbetrachtung notwendig. Eine pauschale Beurteilung aufgrund dieser Diagnose ist nicht zulässig, da die funktionellen Auswirkungen der Erkrankung ein großes Spektrum aufweisen. Diese sind u. a. von der Schwere der Erkrankung, den Komplikationen, der Therapie, den Wechselwirkungen mit anderen Erkrankungen sowie den weiteren persönlichen Voraussetzungen des Menschen mit Diabetes abhängig. Bei der Beurteilung sind neben einem Fokus auf gesundheitliche Einschränkungen auch Kompensationsmöglichkeiten im Sinne eines ressourcenorientierten Ansatzes einzubeziehen.
Jeder Einzelfall ist auf Funktionsdefizite zu prüfen. Dies beinhaltet z. B.
  • Bewusstsein und weitere zerebrale Funktionen
  • Persönlichkeit
  • Beweglichkeit und Kraft
  • Sinnesorgane
  • Allgemeine Leistungsfähigkeit
  • Akute und chronische Schmerzen
Funktionsdefizite können bei Diabetes mellitus vor allem aufgrund akuter Komplikationen (Hypoglykämie, Hyperglykämie) oder Folgeerkrankungen (diabetische Retinopathie, Polyneuropathie, Nephropathie, Mikro- und Makroangiopathie) vorliegen. Zusätzlich bestehen gehäuft Begleiterkrankungen (z. B. Adipositas, arterielle Hypertonie, Fettstoffwechselstörungen, schlafbezogene Atemstörungen, Infektionen, Depression), welche gesondert zu bewerten sind.
Das individuelle Risiko für das Auftreten von Akutkomplikationen am Arbeitsplatz, insbesondere von Hypoglykämien unterschiedlicher Schwere, wird u. a. durch folgende Faktoren beeinflusst:
  • Bedingungen des Arbeitsplatzes und der Tätigkeit
  • Art und Dauer des Diabetes mellitus
  • Bestehende Begleit- und Folgeerkrankungen
  • Therapie
  • Suffizienz der Therapie
  • Selbstbehandlungskompetenz
  • Selbstbeobachtung und Selbstkontrolle
  • Vorhandensein einer Hypoglykämiewahrnehmungsstörung
Zudem gibt es Faktoren, die sich auf die jeweilige Medikation (Insulin und insulinotrope Substanzen) auswirken und mit dieser interagieren. Hier sind insbesondere zu nennen:
  • Tabletten- und Insulinwirkung
  • Ernährung
  • Körperliche Aktivität
  • Alkoholkonsum
  • Gewichtsabnahme ohne entsprechende Therapieanpassung
  • Blutzuckerfehlmessungen
  • Zusätzliche Medikamente (z. B. Betablocker, Psychopharmaka)
Auf der anderen Seite können Kompensationsmöglichkeiten bestehen, die in der Person begründet sind:
  • Langjährige berufliche Erfahrung
  • Persönlichkeitsstruktur
  • Reflektierter Umgang mit der Erkrankung
  • Vorausschauendes Handeln unter Einbeziehung möglicher Risiken in Arbeitsabläufen
  • Coping-Strategien für spezielle Berufsanforderungen, z. B. Schichtarbeit

Berufliche Einschränkungen

Bedingungen, die die Wahl und Ausübung eines Berufes oder einer Tätigkeit bei Menschen mit Diabetes beeinflussen können, sind durch die Beurteilung der Arbeitsbedingungen (Gefährdungsbeurteilung nach § 5 Arbeitsschutzgesetz) zu analysieren und lassen sich wie folgt gliedern:
  • Krankheitsspezifische Risiken, z. B.
    • Selbst-und Fremdgefährdung durch Hypoglykämien
    • Auftreten von Folgeerkrankungen und/oder Begleiterkrankungen des Diabetes mellitus
  • Tätigkeitsspezifische Risiken, z. B.
    • Beeinträchtigung der Planbarkeit des Tagesablaufs und der Selbststeuerung des Stoffwechsels (z. B. just-in-time-Belastung)
    • Berufliche Expositionen, die das Auftreten von akuten oder chronischen Folgen des Diabetes begünstigen (z. B. Taucherarbeiten)

Hypoglykämien

Bei der Beratung von Menschen mit Diabetes muss die Hypoglykämie-Neigung besonders berücksichtigt werden, da eine Hypoglykämie die Leistungsfähigkeit – meist nur für Minuten – vermindern und in seltenen Fällen auch zu einer Beeinträchtigung des Bewusstseins führen kann. Relevante Hypoglykämien sind im beruflichen Alltag eher selten, jedoch kann es bei manchen beruflichen Tätigkeiten hierdurch zu einer Selbst-und Fremdgefährdung kommen. Das Risiko für das Auftreten schwerer Hypoglykämien kann durch eine Anpassung der Stoffwechseleinstellung und ggfs. durch ein Hypoglykämie-Wahrnehmungstraining reduziert werden. Eine zunehmende Anzahl von Menschen mit Diabetes nutzt heutzutage Glukosesensoren, die kontinuierlich den Glukosespiegel (im Interstitium) messen. Hierdurch ist der Glukoseverlauf über den gesamten Messzeitraum lückenlos erfassbar und kann als Grundlage für eine individuelle Anpassung der Insulintherapie und Verbesserung der Blutzuckerstoffwechsellage dienen. Zudem besitzen die meisten Glukosesensoren eine individuell einstellbare Alarmfunktion bei zu niedrigen und zu hohen Blutzuckerwerten. Einige Firmen bieten bereits ein sog. Hybrid-closed-loop-System. an. Hierbei besteht eine Verbindung von einer Insulinpumpe mit einem kompatiblen Sensor zur kontinuierlichen Glukosemessung und einem Algorithmus. Dieser analysiert regelmäßig die Glukosewerte, berechnet auf Basis dessen die Insulindosierung sowie – abgabe und passt den Bedarf automatisiert an. Mahlzeiten und sportliche Aktivität müssen dem System noch angekündigt werden, um die Insulinabgabe richtig zu berechnen. Verschiedene Studien haben gezeigt, dass Menschen mit Diabetes von der kontinuierlichen Anwendung eines Glukosesensors hinsichtlich ihrer Diabeteseinstellung profitieren (weniger Hypoglykämien, geringere Glukoseauslenkungen, besserer HbA1c).

Folge-/Begleiterkrankungen

Durch den Diabetes können Folgeerkrankungen an Augen, Nieren, Nerven sowie Gefäßen des Herzens, Gehirns und der Beine auftreten, die zu Funktionseinschränkungen führen. Liegen diese vor, müssen sie aufgrund der bereits bestehenden sowie der im weiteren Verlauf evtl. auftretenden Funktionseinschränkungen berücksichtigt werden.

Planbarkeit des Tagesablaufs

Bei Berufen und Tätigkeiten, deren Tagesablauf nicht ausreichend vorausplanbar ist, kann eine adäquate Behandlung erschwert sein, z. B. durch sehr unregelmäßige Essenszeiten, stark wechselnde körperliche Belastung oder durch eine erschwerte Glukoseselbstmessung.
Bei Berufen, deren Arbeitsbedingungen eine jederzeitige Nahrungsaufnahme, z. B. bei Hitzearbeiten durch die vorgeschriebene Schutzkleidung, verhindern, ist das Risiko für Hypoglykämien größer. Hierzu zählen aber auch Arbeiten unter großem Zeitdruck, z. B. bei Rettungseinsätzen oder Paketauslieferungsfahrern.
Auch Arbeiten mit Wechselschicht stellt für Menschen mit Diabetes ggfs. eine besondere Anforderung dar.
Für die genannten Berufe und Tätigkeiten gilt in besonderem Maße, dass eine gute Schulung über die Erkrankung und ihre Therapie mit regelmäßigen Blutzuckerkontrollen und daraus abgeleiteten Konsequenzen manche der einschränkenden Bedingungen abmildern oder bedeutungslos machen können.

Spezielle berufliche Exposition

Bei Berufen, die mit Exposition von besonderen Klimabedingungen (Hitze-und Kältearbeitsplatz), von Überdruck (Arbeiten im Überdruck) oder anderen besonderen Belastungen einhergehen, können gesundheitliche Bedenken bestehen, die im Einzelfall gegen die Aufnahme einer solchen Tätigkeit sprechen können oder entsprechend den Ergebnissen der Gefährdungsbeurteilung am Arbeitsplatz zusätzliche Schutzmaßnahmen bei Menschen mit Diabetes erfordern.

Diabetes Mellitus und Arbeitsunfall

Aus den Unfallstatistiken der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) geht nicht hervor, ob Menschen mit Diabetes mehr oder weniger Arbeitsunfälle erleiden als Gesunde, da keine diagnose-oder therapiebezogenen Unfallursachen dokumentiert werden. Eine Vergleichsstudie bzgl. der Unfallhäufigkeit von Menschen mit und ohne Diabetes in gewerblichen Berufen (IKK 2007; ca. 380.000 Versicherte) zeigte keine signifikanten Unterschiede. Insgesamt gibt es keine Evidenz, dass Menschen mit Diabetes häufiger verunfallen. Trotzdem kursieren in diesem Bereich weiterhin viele Fehlinformationen. Häufig wird Hypoglykämie-Risiko mit Unfallrisiko gleichgesetzt. Dabei werden viele andere, die Arbeitsfähigkeit bedingende Faktoren nicht beachtet und die Person mit Diabetes in Bezug auf seine Arbeitsfähigkeit auf rein metabolische Parameter reduziert. Die Hinweise aus den Statistiken bzw. den Studien sprechen dafür, dass die anderen Faktoren der Arbeitsfähigkeit eine Überkompensation des Hypoglykämie-assoziierten Unfallrisikos bedingen. Daher sollten bei der Beurteilung der Arbeitsfähigkeit weniger die Defizite, sondern verstärkt die Ressourcen beachtet werden.

Risikostratifizierung

Im Rahmen der beruflichen Eignungsfindung geht es um die Abgrenzung eines Arbeitsumfeldes mit akzeptablem Risiko gegenüber einem zu vermeidenden, d. h. inakzeptablem Risiko. Die Festlegung von Risikobereichen ist keine statische Größe, sondern wird in verschiedenen Gesellschaften und auch innerhalb von Betrieben und Arbeitsfeldern variabel ausgelegt. Deshalb gibt es auch eine „Grauzone“, das sog. Grenzrisiko. Als Sicherheit wird eine Sachlage bezeichnet, bei der das noch vorhandene Restrisiko nicht größer als das Grenzrisiko ist. Dabei ist unter Grenzrisiko das größte, noch vertretbare Risiko eines bestimmten technischen Vorgangs oder Zustands zu verstehen.
Maßnahmen der Arbeitssicherheit, des Gesundheitsschutzes und die o. g. Kompensationsmöglichkeiten können als Interventionen dienen, um den Menschen mit Diabetes aus dem Arbeitsfeld mit vermeidbarem Risiko in den Bereich des akzeptablen Risikos zu führen, z. B. gute Schulung, Therapie und Hypoglykämie-Wahrnehmungstraining bei entsprechender Indikation.
Sinnvoll für die verantwortbare Eignungsbeurteilung einer Person mit Diabetes in einem Beruf, bei dessen Ausübung realistisch eine Selbst- und/oder Fremdgefährdung eintreten kann, ist der Einsatz einer Checkliste, mit der relevante Parameter erfasst werden, z. B. Zusammenarbeit betreuende Ärzte, Güte der Stoffwechseleinstellung, Blutzuckermessung und -dokumentation, Therapie-Compliance, Teilnahme an Diabetes-Schulungen, Möglichkeit der Blutzuckermessung und Insulinapplikation am Arbeitsplatz, Möglichkeiten der Arbeitsunterbrechung bei Therapieanpassung, etc. (Beispiel: Rinnert und Neubauer 2012, S. 30).
Zur Risikostratifizierung hat sich auch bei Personen mit Diabetes ein Matrix-Modell etabliert, wobei das tätigkeitsbezogene Risiko in der x-Achse und das krankheitsspezifische Risiko in der y-Achse dargestellt wird. Die Matrix und ihre Aufteilung kann aus der Perspektive betrachtet werden, dass verschiedene ärztliche Fachrichtungen zusammen eine Bewertung vornehmen. Die Aufgabe der Arbeits-/Betriebsmediziner besteht in der Ermittlung von Gefährdungen am Arbeitsplatz, wobei hier auch für die Erkrankung Diabetes krankheitsbezogene Risikogruppen zu erstellen sind. Die Aufgabe des Diabetologen ist es in der Regel, das Hypoglykämierisiko zu quantifizieren und die therapeutischen Optionen zu vereinbaren. Die Bewertung erfolgt individuell in Bezug auf den Menschen mit Diabetes und seine Tätigkeit. Die Beurteilung sollte in folgenden Schritten ablaufen:
  • Die Person mit Diabetes erläutert ihren Beruf oder ihre Tätigkeit
  • Gemeinsam erfolgt die Zuordnung zu einem Wirtschaftszweig, ggf. auch im Analogieschluss zum Gefährdungspotential
  • Anschließend folgt die Benennung der konkreten Gefährdungen gemeinsam mit dem Betroffenen und bei Unklarheiten mit weiteren Fachleuten. Es können auch nur einzelne Gefährdungen vorliegen, die dann zu berücksichtigen sind.
  • Bei der abschließenden Bewertung muss man sich an der Gefährdung mit dem höchsten Risiko in Verbindung mit dem Hypoglykämiegrad richten.
Für ein strukturiertes Beratungsgespräch ist sinnvoll, sich an exemplarischen Tätigkeitsfeldern nach Wirtschaftszweigen in Anlehnung an die Aufteilung der Berufsgenossenschaften zu orientieren (Rinnert und Neubauer 2012, S. 37 ff.).
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