Die Ärztliche Begutachtung
Info
Verfasst von:
Wolfgang Reuter und Gerd-Marko Ostendorf
Publiziert am: 20.04.2023

Lebensversicherung und Berufsunfähigkeitsversicherung

Lebensversicherung und Berufsunfähigkeitsversicherung sind in Deutschland insgesamt wettbewerblicher gestaltet, als z. B. die private Krankenversicherung. Für Gutachter ist es unerlässlich, die jeweiligen individuellen Versicherungsbedingungen zu kennen und zu berücksichtigen. Die Fragestellungen an den ärztlichen Gutachter beinhalten im Wesentlichen eine Risikoeinschätzung bzw. Prognose. Berufsunfähigkeit besteht aus den drei Komponenten Gesundheit – Beruf – Zeitdauer, die gemeinsam beurteilt werden müssen. Die individuellen Versicherungsbedingungen können einen erheblichen Einfluss auf die Begutachtung haben, u. a. eine Umorganisation der beruflichen Tätigkeit oder eine Verweisung auf andere berufliche Tätigkeiten vorsehen. Bei psychischen Erkrankungen oder eventuell fehlender Motivation des Probanden sollten psychometrische Tests ergänzend zum Einsatz kommen. Die definitorische Abgrenzung zur Sozialversicherung und zur Krankentagegeldversicherung muss unbedingt beachtet werden.

Einleitung

Lebensversicherung und Berufsunfähigkeitsversicherung sind in Deutschland insgesamt wettbewerblicher und damit unterschiedlicher gestaltet ist als die private Krankenversicherung. Für Gutachter ist zwingend notwendig, die jeweiligen individuellen Versicherungsbedingungen zu kennen und zu berücksichtigen.
Das Leistungsspektrum der Lebensversicherung in Deutschland umfasst die Risiken Tod, Berufsunfähigkeit und Pflegefall, aber auch das Langlebigkeitsrisiko bei der Rentenversicherung. Seit 1991 wird die sog. Dread-DiseaseVersicherung angeboten; dort werden Leistungen bei bestimmten schweren Erkrankungen erbracht, wie z. B. Herzinfarkt, Schlaganfall, Krebs oder Lähmung. Eine Sonderform der Lebensversicherung stellt die Restkreditversicherung dar, die der Kreditabsicherung dient und in deren Rahmen auch eine Krankentagegeld- oder Arbeitsunfähigkeitsversicherung abgeschlossen werden kann. In allen Fällen handelt es sich um fest definierte Kapitalleistungen (Summenversicherung) und nicht um Kostenerstattungen wie z. B. bei der privaten Krankenversicherung (Kostenversicherung).
Ärztliche Begutachtungen können bereits im Rahmen der Antragstellung des Versicherten, aber auch später bei der Frage einer möglichen Verletzung der Anzeigepflicht sowie im Leistungsfall notwendig werden. Wurde eine private Unfall-Zusatzversicherung abgeschlossen, ist ggf. auch ärztlicherseits zu beurteilen, ob der Personenschaden unfallbedingt war.

Lebensversicherung

Im Rahmen der Antragstellung des zukünftigen Versicherten gibt der ärztliche Gutachter die nötigen Hinweise an die Risikoprüfer der Versicherungsunternehmen. Diese orientieren sich in aller Regel anhand von Einschätzungsmanualen, die auf jahrzehntelangen Beobachtungen großer Zahlen von Versicherungsnehmern beruhen.
Bei Tod des Versicherten bedarf es der Vorlage eines ärztlichen Todesfallberichtes. Ergibt sich daraus, dass das zum Tode führende Leiden beim Vertragsabschluss verschwiegen wurde, kann die Versicherung in der Regel innerhalb der ersten 3 Jahre nach Vertragsabschluss (je nach Vertragsbedingungen; maximal 5 Jahre nach dem Versicherungsvertragsgesetz) vom Vertrag zurücktreten. Liegt eine vorsätzliche oder arglistige Anzeigepflichtverletzung vor, beläuft sich die Frist auf 10 Jahre.
Bei einem Suizid während der sog. Karenzzeit (regelhaft 1–2 Jahre) besteht nur dann Leistungspflicht, wenn die Selbsttötung in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit erfolgt ist. Die entsprechende Beweispflicht liegt bei demjenigen, der die Versicherungsleistung beansprucht. Aus Statistiken der Lebensversicherungsunternehmen ergibt sich, dass nur etwa 10–20 % der Suizide, in deren Folgen Leistungen einer Lebensversicherung beansprucht werden, auf eine Geisteskrankheit in diesem Sinne zurückzuführen sind. Depressive Verstimmungen stellen in der Regel keine krankhafte Störung der Geistestätigkeit dar.

Berufsunfähigkeitsversicherung

Bei der Berufsunfähigkeitsversicherung handelt es sich in aller Regel um eine Zusatzversicherung zu einer Lebensversicherung.

Definition der Berufsunfähigkeit

Hier wurde durch das Versicherungsvertragsgesetz (VVG), in Kraft getreten am 01. 01. 2008, eine Musterregelung geschaffen. So gilt nach VVG § 172 Abs. 2:
Berufsunfähig ist, wer seinen zuletzt ausgeübten Beruf, so wie er ohne gesundheitliche Beeinträchtigung ausgestaltet war, infolge Krankheit, Körperverletzung oder mehr als altersentsprechendem Kräfteverfall ganz oder teilweise voraussichtlich auf Dauer nicht mehr ausüben kann.
Die Definition der Berufsunfähigkeit in § 172 VVG kann jedoch auch vertraglich ausgestaltet werden. Für den ärztlichen Gutachter ist es wichtig, dass er diese Definition und nicht eine andere z. B. aus dem Sozialrecht für seine Bewertung verwendet.
Bei den meisten Versicherern werden in den Bedingungen 6 Monate festgesetzt. VVG § 172 Abs. 3 lautet:
Als weitere Voraussetzung einer Leistungspflicht des Versicherers kann vereinbart werden, dass die versicherte Person auch keine andere Tätigkeit ausübt oder ausüben kann, die zu übernehmen sie auf Grund ihrer Ausbildung und Fähigkeiten in der Lage ist und die ihrer bisherigen Lebensstellung entspricht.
Dieser Begriff der Berufsunfähigkeit umfasst also 3 Komponenten:
  • die gesundheitliche Komponente (Krankheit, Körperverletzung oder Kräfteverfall, die ärztlich nachzuweisen sind),
  • die berufliche Komponente (Beruf oder eine andere Tätigkeit, die aufgrund der Ausbildung und Erfahrung ausgeübt werden kann und der bisherigen Lebensstellung entspricht),
  • die zeitliche Komponente (voraussichtlich 6 Monate ununterbrochen).
Berufsunfähigkeit liegt nach dieser Definition erst vor, wenn alle drei genannten Komponenten erfüllt sind.
Für Gutachter ist es besonders wichtig, die jeweiligen individuellen Versicherungsbedingungen zu kennen und zu berücksichtigen. In der Berufsunfähigkeitsversicherung sind insbesondere sog. Ausschlussklauseln von Bedeutung. Die somit ausgeschlossenen Erkrankungen und deren nachweisbare Folgen begründen keinen Leistungsanspruch. Sie bleiben darüber hinaus bei der Festlegung des Grades der Berufsunfähigkeit (beim Vorliegen weiterer Erkrankungen) unberücksichtigt. Der Text einer solchen Ausschlussklausel kann beispielsweise lauten: „Es gilt als vereinbart, dass Erkrankungen der Wirbelsäule sowie die damit ursächlich zusammenhängenden Folgen einen Leistungsanspruch aus der Berufsunfähigkeitsversicherung nicht bedingen.“

Beurteilung der Berufsunfähigkeit

Bei der Beurteilung der Berufsunfähigkeit ist die letzte konkrete Berufsausübung der versicherten Person zu dem Zeitpunkt, ab dem Berufsunfähigkeit behauptet wird, entscheidend. Dies gilt völlig unabhängig davon, welchen Beruf die versicherte Person zum Zeitpunkt der Antragstellung ausgeübt hat: Besteht erst einmal ein Vertrag mit einer Berufsunfähigkeitsversicherung, dann gilt diese auch bei Wechsel des Berufs unverändert weiter. Eine Berufsunfähigkeit kann somit sehr schnell auch bei einem ansonsten völlig gesunden Menschen eintreten, etwa bei einem Dachdecker, der unter gelegentlichen Schwindelanfällen leidet. Eine Beurteilung der Einschränkung der Berufstätigkeit kann somit nur dann richtig erfolgen, wenn das genaue Berufsbild des Versicherten bekannt ist.
Die entsprechenden Informationen zur Arbeitsanamnese, zum beruflichen Werdegang und vor allem zur zuletzt ausgeübten beruflichen Tätigkeit sollen dem ärztlichen Gutachter, der die Frage der Berufsunfähigkeit zu beurteilen hat, möglichst ausführlich vorgegeben werden. Der Gutachter muss sich dann differenziert mit dem Berufsbild des Versicherungsnehmers auseinandersetzen. Erörtert werden müssen ggf. die einzelnen Teiltätigkeiten. Der Sachverständige hat diese im Zusammenhang zu untersuchen und die Auswirkungen der Erkrankung darauf darzustellen. Im Ergebnis geht es darum, ob noch ein sinnvolles Arbeitsergebnis erzielt werden kann.
Zusätzlich ist aber auch eine eigene, ausführliche Arbeitsanamnese durch den Gutachter sinnvoll, um eventuelle Widersprüche zu der Darstellung des beruflichen Sachverhalts im Gutachtenauftrag beurteilen zu können. Sollten sich Widersprüche zwischen den Angaben des Versicherungsunternehmens und des Probanden selbst zur beruflichen Tätigkeit und den dabei auftretenden Belastungen ergeben, hat der Gutachter darauf hinzuweisen. Gegebenenfalls ist dann eine weitere Klärung durch den Auftraggeber erforderlich.
Die Einschränkungen im konkret ausgeübten Beruf müssen durch den Gutachter quantitativ und qualitativ so genau wie möglich definiert werden (z. B. tägliche Arbeitszeit über 6 Stunden nicht möglich, kein Heben und Tragen von Lasten über 20 kg, keine Arbeit von über einer halben Stunde im Stehen bzw. über Kopf, kein Umgang mit bestimmten Allergenen/Arbeitsstoffen). Ausgehend von der Beurteilung der kognitiven, körperlichen und sonstigen Leistungsfähigkeit des Versicherten insgesamt sollte abgeleitet werden, zu welchem Prozentsatz die entsprechenden Anforderungen des ausgeübten Berufs eingeschränkt sind. Grundlagen der prozentualen Beurteilung sind dabei sowohl – und in erster Linie – die zeitliche Einschätzung (z. B. Tätigkeit von 4–6 Stunden pro Tag möglich) als auch die Auswirkung der Erkrankung auf die für den Beruf essenziellen Fähigkeiten (etwa eine Einschränkung der Reisefähigkeit bei einem Außendienstmitarbeiter oder ein Verbot von Tätigkeiten mit Absturzgefahr bei einem Zimmermann). Falls sich die Beeinträchtigungen nur auf bestimmte Teilgebiete des Berufes erstrecken, sollte ebenfalls möglichst genau festgelegt werden, wodurch und zu wie viel Prozent diese Tätigkeiten eingeschränkt sind.
Zur Beurteilung eventueller beruflicher Umorganisationsmöglichkeiten (vor allem bei Selbstständigen) bzw. Wiedereingliederungsmaßnahmen und ggf. – je nach Vertragsbedingungen – auch ein zulässiger Verweis auf andere Tätigkeiten, muss ausführlich dargelegt werden, welche Tätigkeiten bzw. Beanspruchungen für den Versicherten möglich sind (z. B. halbschichtige Arbeitszeit, Arbeit in sitzender Körperhaltung über einen bestimmten Zeitraum), d. h. es sollte auch ein sog. positives Leistungsbild erstellt werden.
Besonders schwierig ist oftmals die Beurteilung psychischer oder psychosomatischer Beschwerden, bei denen sog. objektive Untersuchungsbefunde zur Quantifizierung nicht bzw. nur sehr bedingt zur Verfügung stehen. Hier kann nach der geltenden Rechtsprechung der ärztliche Nachweis der Erkrankung auch dadurch geführt werden, dass ein fachkundiger Arzt die Diagnose auf die nachvollziehbare und validierte Beschwerdeschilderung des Patienten stützt. Allerdings gilt auch hier, dass die Krankheitsfeststellung ohne objektive Befunde nicht auskommt; maßgeblich (für die Beurteilung der Leistungspflicht des Versicherers) ist das objektive Leistungsbild. Bei einer Einschränkung der geistigen Leistungsfähigkeit sind psychometrische Tests oft wichtige Entscheidungshilfen. Ein grundsätzliches Problem besteht aber darin, dass solche Tests Verfahren sind, deren Ergebnisse in besonderer Weise von der Kooperationsbereitschaft des Untersuchten abhängen. Das führt zum „Paradoxon der neuropsychologischen Begutachtung“: Die Probanden möchten ihre tatsächlichen, vermeintlichen oder vorgeblichen Leistungsausfälle gutachterlich anerkannt bekommen, sollen sich aber in der Untersuchung anstrengen, d. h. ihre maximale Leistungsfähigkeit zeigen. Ohne eine adäquate Beurteilung der Leistungsmotivation haben die Ergebnisse testpsychologischer Untersuchungen im Rahmen einer Begutachtung somit wenig Aussagekraft; ohne eine Prüfung der Gültigkeit (Validität) der Ergebnisse psychologischer Verfahren sind diese nicht interpretierbar. Gegenwärtig stellen sog. Beschwerdevalidierungstests eine mögliche verfügbare Methode zur Diagnostik negativ verzerrten Antwortverhaltens (worunter auch Simulation und Aggravation fallen) dar.
Falls Erkrankungen vorliegen, die durch Ärzte verschiedener Fachgebiete beurteilt werden müssen, sind in der Regel mehrere einzelne Fachgutachten nötig. In diesem Fall obliegt es dem Hauptgutachter, einen „Gesamtberufsunfähigkeitsgrad“ festzulegen. Dieser sollte gut und nachvollziehbar begründet werden, wobei eventuell vorhandene Überschneidungen hinsichtlich der Auswirkungen der jeweils von den einzelnen Fachgutachtern beschriebenen Erkrankung zu berücksichtigen sind. Aufgrund möglicher Überschneidungen zwischen den zugrunde liegenden Beeinträchtigungen ist eine einfache Addition der Berufsunfähigkeitsgrade der einzelnen Fachgutachten in aller Regel nicht möglich ist.