Einleitung
Das Spektrum neurodegenerativer Systemerkrankungen umfasst eine Vielzahl von Krankheiten mit unterschiedlichen motorischen und kognitiven Symptomen in variabler Ausprägung. Die bisherige Einteilung dieser Erkrankungen folgt mit Ausnahme der genetisch determinierten Syndrome dem klinischen Phänotyp und berücksichtigt die Ergebnisse apparativer Zusatzuntersuchungen.
Bei der Begutachtung ist die Ausprägung der motorischen und kognitiven Symptome differenziert zu betrachten und zu würdigen.
In der Tab.
1 findet sich eine Übersicht von häufig auftretender neurodegenerativen Systemerkrankungen und extrapyramidalen Syndromen.
Tab. 1
Auswahl häufiger neurodegenerativer Systemerkrankungen/extrapyramidaler Syndrome
Extrapyramidale Systemerkrankungen | |
M. Wilson | Autosomal-rezessiv | MRT, Labor, Genetik |
| Autosomal-dominant | MRT, Genetik |
| Sporadisch, selten hereditär | FP-CIT SPECT |
| Sporadisch, selten hereditär | – |
| Sporadisch | – |
Dystonie-Syndrome | Hereditär, sporadisch | – |
| Sporadisch, selten hereditär | – |
Multisystematrophie | Sporadisch, selten hereditär | MRT, IBZM-SPECT autonome Funktionsdiagnostik |
Progressive supranukleäre Paralyse | Sporadisch, selten hereditär | MRT |
| Sporadisch, selten hereditär | MRT |
Spinozerebelläre Heredoataxien | | |
| Autosomal-rezessiv oder -dominant; | MRT, Genetik |
| Autosomal-rezessiv | NLG, Genetik |
Motoneurondegeneration | | |
| Sporadisch, selten hereditär | |
| Hereditär | |
| | MRT zerebrale Magnetresonanztomographie, NLG Nervenleitgeschwindigkeiten, EMG Elektromyographie. |
Idiopathisches Parkinson-Syndrom
Das idiopathische Parkinson-Syndrom
ist – abgesehen von der
Alzheimer-Demenz – die häufigste neurodegenerative Erkrankung.
Aktuelle epidemiologische Daten zeigen eine Inzidenz von 11 bis 19/100.000 Einwohner und Jahr (Campenhausen et al.
2005). Die Inzidenz steigt altersabhängig in höherem Alter an, Männer sind im Verhältnis 1,5fach häufiger betroffen als Frauen. Durch die Veränderung der Altersverteilung in den industrialisierten Ländern wird es nach Schätzungen von Dorsey (Dorsey et al.
2007) bis zum Jahr 2030 zu einer Verdopplung der Erkrankungen weltweit kommen.
Das
Parkinson Syndrom ist eine Systemerkrankung mit der Beteiligung einer Vielzahl von
Neurotransmittern. Die motorischen Symptome werden durch einen progredienten Untergang dopaminerger Neurone in der Substantia nigra pars compacta hervorgerufen. Der resultierende Dopaminmangel im Striatum führt zu den klinischen Kardinalsymptomen
-
Bradykinesie,
-
muskulärer Rigor,
-
Tremor (4–6, selten bis 9 Hz; Auftreten in Ruhe, Abnahme bei Bewegung) und
-
posturalen Störungen (mangelnde Stabilität der aufrechten Körperhaltung) über eine Störung der cholinergen Innervation.
Im Krankheitsverlauf tritt komplizierend eine Vielzahl nicht-motorischer Symptome auf.
Unspezifische nicht-motorische Frühsymptome
umfassen
affektive Störungen, Riechstörungen, REM-Schlafverhaltensstörungen und Schmerzsymptome.
Die Bedeutung nicht motorischer Symptome darf nicht unterschätzt werden. Etwa 13 % der Patienten leiden unter einer
Demenz, 22 % unter einer Depression, bei 22 % der Patienten treten Funktionsstörungen der Blase auf.
Weiterhin finden sich Parkinson-Syndrome im Rahmen anderer neurodegenerativer Erkrankungen (als sogenannte atypische
Parkinson Syndrome):
Zudem kann das Parkinson-Syndrom auch medikamenten- bzw. toxininduziert, tumorbedingt, bzw. entzündlich metabolisch sein oder in seltenen Fällen auch posttraumatisch auftreten.
Amyotrophe Lateralsklerose
Die
amyotrophe Lateralsklerose (ALS) ist die häufigste degenerative Erkrankung des motorischen Systems. Das Alter bei Erstmanifestation liegt bei der sporadisch auftretenden ALS zwischen 60 und 65 Jahren. Die Erkrankung kann aber auch schon im frühen Erwachsenenalter oder erst im hohen Lebensalter auftreten. Männer sind etwas häufiger betroffen als Frauen. Die Überlebensdauer liegt durchschnittlich bei 3–5 Jahren, einige Subformen weisen deutlich langsamere Krankheitsverläufe auf. Die Inzidenz liegt in Deutschland bei ca. 3/100.000 (Rosenbohm et al.
2017).
Gekennzeichnet ist die Erkrankung durch Zelluntergänge der Pyramidenzellen (Betzsche Riesenzellen) im motorischen Kortex (sog. 1. Motoneuron) sowie der α-Motoneurone im unteren Hirnstamm und im Vorderhorn des Rückenmarks (sog. 2. Motoneuron).
Daher wird das klinische Bild der ALS geprägt durch einer Kombination aus atrophischen Paresen mit Faszikulationen und gesteigerten Muskeldehnungsreflexen. Die Krankheit kann einseitig beginnen und zunächst Symptome des 2. Motoneurons (atrophische Paresen, Faszikulationen) oder des 1. Motoneurons (Spastik) oder auch der motorischen bulbären Hirnnervenkerne (Bulbärparalyse) aufweisen.
Nach wie vor handelt es sich bei der ALS um eine klinische Diagnose, die maßgeblich von der Expertise und Erfahrung des Untersuchers abhängt. Unter anderem deshalb werden valide Biomarker zur Unterstützung der Diagnose, Vorhersage des Krankheitsverlaufs und Evaluation eines Therapieansprechens gesucht (siehe zusatzdiagnostische Verfahren).
Die ALS tritt meist sporadisch auf (95 % der Fälle), selten wird sie vererbt (5 %). Bei der Begutachtung sind besonders die motorischen Defizite und Restfunktionen im Kontext der progredienten Symptomatik und schlechten Prognose zu würdigen.
Störungen der Atemmuskulatur begleiten die motorischen Symptome insbesondere in fortgeschrittenen Stadien, können jedoch in Ausnahmefällen schon zu Beginn die Leistungsfähigkeit beeinträchtigen.