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Die Ärztliche Begutachtung
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Publiziert am: 16.06.2022

Neurologische Diagnostik in der Begutachtung

Verfasst von: Martin Tegenthoff
Grundlage jeder Funktionsprüfung des Nervensystems ist eine klinische Untersuchung und Anamnese. Apparativ technische Zusatzuntersuchungen werden grundlegend aus dem Bereich der klinischen Neurophysiologie der Dopplersonografie und der psychologischen Testdiagnostik dargestellt. Technische Befunde müssen unter einer gutachtlichen Fragestellung immer kritisch im Kontext der klinischen Befunde und niemals isoliert interpretiert werden.
Grundlage jeder Funktionsprüfung des Nervensystems ist eine subtile klinische Untersuchung und fokussierte Anamneseerhebung. Insbesondere unter einer gutachtlichen Fragestellung darf eine Bewertung apparativ-zusatzdiagnostischer Befunde nur in Zusammenschau mit der klinischen Symptomatik erfolgen. Grundsätzlich können isolierte pathologische apparative Zusatzbefunde ohne ein entsprechendes klinisches Korrelat keine Grundlage für eine gutachtliche Bewertung sein.
Unter Berücksichtigung der neuroanatomischen Grundlagen kommt den bekannten peripheren oder radikulären Sensibilitätsschemata (Abb. 1) und den segmental zuordnungsfähigen Reflexprüfungen (Tab. 1) eine große lokalisatorische Bedeutung zu.
Tab. 1
Reflexprüfungen
Segmenthöhe der wichtigsten spinalen Eigen- und Fremdreflexe
Bizepsreflex
C5–C6
Brachioradialisreflex
C5–C7
Trizepsreflex
C7–C8
Pronationsreflex
C7–Th1
Fingerbeugereflex (Trömner)
C7–Th1
Bauchhautreflex
Th8–Th12
Kremasterreflex
L1–L2
Quadrizepsreflex
L2–L4
Adduktorenreflex
L2–L4
Tibialis-posterior-Reflex
L5
Triceps-surae-Reflex
S1–S2
Zehenplantarflexorenreflex
L5–S2
Fußsohlenreflex
S1–S2
Bulbokavernosusreflex
S2–S3
Analreflex
S3–S5
Segmenthöhe vegetativer Reflexe
Blasenentleerung
Sympathikus
Th12–L2
Parasympathikus
S2–S4
Defäkation
Sympathikus
Th12–L3
Parasympathikus
S3–S5
Erektion
Parasympathikus
S3–S5
Ejakulation
Sympathikus
L1–L2
Parasympathikus
S2–S3
Piloarrektion
Sympathikus
Th3–L2
Schweißsekretion
Sympathikus
Th3–L2
Aussagefähig im Rahmen gutachtlicher Fragen sind weiterhin folgende apparative Zusatzuntersuchungen:

Elektroenzephalografie (EEG)

Das EEG spiegelt Funktionsveränderungen des Gehirns wider. EEG-Veränderungen sind artdiagnostisch unspezifisch und lokalisatorisch nicht mit neuroradiologisch nachweisbaren strukturellen Hirnveränderungen gleichzusetzen. Ein pathologisches EEG objektiviert keine subjektive Symptomatik, kann jedoch als diagnostischer Hinweis auf eine hirnorganische Grundlage einer klinischen Symptomatik angesehen werden. Eine EEG-Ableitung ist unbelastend und nebenwirkungsfrei.
EEG-Befunde
  • Herdbefunde deuten auf fokale Hirnfunktionsstörungen und sollten Anlass zu weitergehender neuroradiologischer Diagnostik (CCT, MRT) sein.
  • Allgemeinveränderungen, zumeist in Form von Verlangsamungen der Grundfrequenz der Hirnaktivität, weisen auf eine diffuse Hirnfunktionsstörung wie z. B. bei Stoffwechselstörungen, diffusen hypoxischen, traumatischen oder entzündlichen Hirnläsionen, Somnolenz und Koma hin. Ursache kann auch eine Störung der Vigilanz im physiologischen Sinne in Form von Ermüdung sein.
  • Hypersynchrone Aktivität umfasst generalisiert oder fokal auftretende steile Graphoelemente mit zumeist hoher Amplitude („spikes“, „sharp-waves“, Spike-wave-Komplexe). Diese Graphoelemente deuten auf eine erhöhte zerebrale Erregbarkeit als mögliche Grundlage epileptischer Reaktionen hin. Hypersynchrone Aktivität im EEG allein ist nicht mit der Diagnose Epilepsie gleichzusetzen.
  • Elektrische Stille/Nulllinien-EEG. Ein nach den Kriterien der Deutschen Gesellschaft für klinische Neurophysiologie über mindestens 30 min abgeleitetes Nulllinien-EEG sichert bei Vorliegen der zwingend erforderlichen klinischen Kriterien die Diagnose des Hirntods und erlaubt den Verzicht auf eine längere Beobachtungszeit.

Indikationen des EEG im Rahmen der Begutachtung

Anfallsleiden
Die Diagnostik von Epilepsien ist die Domäne des EEG. Bei anfallsartigen Zuständen in der Vorgeschichte ist ein EEG unter gutachtlichen Aspekten z. B. für die Beurteilung der Fahr- und Flugtauglichkeit erforderlich. Gleiches gilt für die gutachtliche Beurteilung der Arbeits- bzw. Berufsfähigkeit bei bestimmten Verrichtungen wie der Arbeit in großen Höhen, der Arbeit an schnell laufenden Maschinen oder bestimmten Aufsichtstätigkeiten. Im Intervall zwischen den Anfällen zeigt das EEG häufig keine epilepsietypischen Graphoelemente. Dann sind Kontrollableitungen bzw. der Einsatz von Provokationsmaßnahmen (Hyperventilation, Photostimulation, Schlafentzug) indiziert.
Das Ausmaß der hypersynchronen Aktivität im EEG erlaubt keinen Rückschluss auf den Schweregrad der Anfälle bzw. die resultierende Leistungsbeeinträchtigung. Hier ist allein die klinische Symptomatik maßgeblich. Monomorphe, generalisiert auftretende epilepsietypische Graphoelemente sprechen ätiologisch eher für eine genuine Verursachung, während herdförmige Veränderungen eher auf eine symptomatische Verursachung deuten.
  • Narkolepsien (Schlafanfälle) zeigen im EEG ein Schlafmuster zumeist in Form eines REM-Schlafstadiums. Durch einen multiplen Schlaflatenztest (MSLT) mit einer 20-minütigen EEG-Ableitung alle 2 h lassen sich Hinweise auf eine Narkolepsie gewinnen. Im Intervall ist das EEG in aller Regel normal.
  • Psychogene Anfälle sind häufig schwierig abzugrenzen. Neben der klinischen Beobachtung deutet ein im Anfall abgeleitetes, unauffälliges EEG auf eine psychogene Verursachung hin. Nicht selten findet sich ein Nebeneinander von epileptischen und psychogenen Anfällen beim gleichen Patienten. Hier ist eine klare diagnostische Differenzierung oft nur unter Einschluss simultaner Videoaufzeichnungen möglich.
Schädel-Hirn-Trauma
Grundsätzlich gibt es keine charakteristischen EEG-Veränderungen nach traumatischen Hirnschädigungen. In der Frühphase nach einem Hirntrauma dominieren Allgemeinveränderungen mit oder ohne herdförmige Betonung, welche mit zunehmender Verbesserung der klinischen Symptomatik eine Normalisierungstendenz zeigen. Ein im Verlauf bereits wieder normalisiertes EEG in Verbindung mit einem noch persistierenden schweren hirnorganischen Psychosyndrom ist als prognostisch ungünstig im Hinblick auf die weitere klinische Verbesserung einzustufen.
Ein unauffälliges EEG schließt ein Schädel-Hirn-Trauma nicht aus.
Herdförmige EEG-Veränderungen können umgekehrt – insbesondere wenn sie eine posttraumatische Dynamik erkennen lassen – auch ohne den neuroradiologischen Nachweis einer strukturellen Hirnläsion eine substanzielle Hirnschädigung belegen.
Das Ausmaß posttraumatischer EEG-Veränderungen lässt keinen Rückschluss auf den Umfang der Hirnsubstanzschädigung oder gar den Schweregrad der klinischen Symptomatik zu.
Andere zerebrale Krankheitsbilder
  • Nach entzündlichen Hirnerkrankungen (Meningoenzephalitiden) können pathologische EEG-Befunde trotz Liquorsanierung mit postinfektiösen pseudoneurasthenischen Syndromen korrelieren.
  • Im Rahmen degenerativer Hirnerkrankungen finden sich häufig unspezifische Frequenzverlangsamungen, die jedoch der klinischen, insbesondere neuropsychiatrischen Diagnostik unterzuordnen sind.
  • Wird das Hirnstrombild von schnellen, zum Teil frequenzlabilen Potenzialgruppen aus dem Betaband (>12/s) dominiert, kann dies auf die akute oder chronische Einnahme zentral wirksamer Pharmaka (z. B. Benzodiazepine, Barbiturate) hindeuten.
  • Bei Intoxikationen mit einer zerebralen Beteiligung sind neben pseudoneurasthenischen Syndromen häufig Allgemeinveränderungen im EEG zu beobachten. Hier kann durch eine Verlaufsbeobachtung, die nach Entzug der Noxe eine EEG-Normalisierung erkennen lässt, der Nachweis des Schädigungsmechanismus gestützt werden.
  • Im Rahmen forensischer Fragestellungen muss deutlich gemacht werden, dass ein EEG-Befund, auch wenn er als „pathologisch“ oder gar „abnorm“ klassifiziert wird, keinen Rückschluss auf Verhalten, Charakter, Intelligenz und Glaubwürdigkeit gestattet.

Polygrafie und Polysomnografie

Zur Schlafdiagnostik dienen Polygrafie (Stufe 3 im Sinne der Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses für gesetzlich Krankenversicherte) und Polysomnografie (Stufe 4). Bei der Polygrafie werden ambulant Atmung, Sauerstoffgehalt des Blutes, Herz- bzw. Pulsfrequenz und Körperlage registriert („kardiorespiratorische Polygrafie“).
Die Polysomnografie erfolgt im Schlaflabor, wo neben den Parametern der Polygrafie EEG, EMG und Elektrookulografie(EOG) abgeleitet werden. Indikation ist insbesondere die Frage eines Schlafapnoesyndroms. Das Schlafapnoesyndrom ist mit Tagesmüdigkeit und entsprechend erhöhtem Unfallrisiko assoziiert, was u. a. die Fahrtauglichkeit einschränken kann.

Elektromyografie (EMG)

Die Elektromyografie erfasst neuromuskuläre Störungen im Bereich des zweiten motorischen Neurons, des neuromuskulären Übergangs und der Muskulatur. Eine Nadelmyografie als letztlich invasive Untersuchung ist in aller Regel zumutbar, bedarf jedoch der Einwilligung des Probanden. Aufgrund der potenziellen Infektionsgefahr (z. B. Hepatitis, HIV) muss die Verwendung von Einmalnadeln oder eine adäquate Nadelsterilisation gewährleistet sein. Da neben der entspannten Muskulatur auch die Muskelaktivität bei Willkürinnervation beurteilt wird, ist die Mitarbeit des Probanden erforderlich. Fehlt sie oder ist sie z. B. aufgrund der Schmerzhaftigkeit der Nadelableitung beeinträchtigt, ergibt sich eine nur sehr eingeschränkte Aussagefähigkeit der EMG-Untersuchung.
Im entspannten Muskel auftretende Spontanaktivität in Form von Fibrillationspotenzialen oder positiven scharfen Wellen belegt in der Regel eine Denervierung im Bereich des peripheren Motoneurons. Selten kann diese Spontanaktivität auch bei Myopathien beobachtet werden. Demgegenüber belegen Faszikulationspotenziale als Spontanentladungen einzelner motorischer Einheiten keine neurogene Schädigung, da sie auch spontan und ohne jeden Krankheitswert im Sinne eines benignen Faszikulierens auftreten können.
Eine eindeutige Differenzierung zwischen neuropathischem bzw. myopathischem Schädigungsmuster ist allein anhand der EMG-Veränderungen nicht mit Sicherheit möglich.
Kritisch zu bewerten ist die Beurteilung des EMG-Musters bei Maximalinnervation. Eine Lichtung des Interferenzmusters bei Willkürinnervation kann sowohl bei peripheren wie bei zentralen Paresen, insbesondere aber auch bei mangelnder Kooperation des Probanden und daraus resultierender unvollständiger Willkürinnervation auftreten. Insofern sind Veränderungen der Maximalinnervation nur im Zusammenhang mit anderen EMG-Veränderungen verwertbar.

Elektroneurografie (ENG)

Die ENG kann Leitungsstörungen peripherer sensibler und/oder motorischer Nerven erfassen. Durch fraktionierte Bestimmung der Nervenleitgeschwindigkeiten ist in gewissen Grenzen die topografische Lokalisation einer Nervenschädigung möglich (siehe auch 8. Nervensonografie). Die ENG kann zumeist nichtinvasiv mittels Oberflächenelektroden durchgeführt werden. Sie ist nicht an eine direkte Mitarbeit des Patienten gebunden. Kritisch bei der Verwertung neurografischer Befunde ist die Temperatur der abgeleiteten Extremitäten, die einen wesentlichen Einfluss auf die erhaltenen Messwerte hat.
Indikationen im Rahmen der Begutachtung: 
Wesentliche Bedeutung hat die EMG – weniger die ENG – bei der Objektivierung einer lokalisierten bzw. generalisierten Schädigung des zweiten Motoneurons und damit bei der Abgrenzung psychogener Lähmungen. Durch die sensible Neurografie können entsprechend Läsionen peripher sensibler Nerven objektiviert werden (Müller-Vahl und Tegenthoff 2021). Sie unterstützen die Differenzialdiagnose neurogener bzw. myogener Läsionen, myasthener bzw. myotoner Syndrome und neuromuskulärer Übertragungsstörungen. Nach peripheren Nervenverletzungen erlaubt die EMG frühzeitig die Erfassung von Reinnervationszeichen, welche als prognostischer Parameter Bedeutung haben. Die ENG ermöglicht die Lokalisationsdiagnostik peripherer Nervenverletzungen bzw. neurogener Engpass-Syndrome.
Elektromyografische und -neurografische Veränderungen sind ätiologisch unspezifisch. Das Ausmaß der EMG-Veränderungen korreliert nicht zwingend mit dem Schweregrad der klinischen Funktionsstörung.

Evozierte Potenziale (EP)

Evozierte Potenziale sind zeitlich fixierte Antworten auf unterschiedliche afferente Reize, die nach Aufsummierung einer bestimmten Anzahl von Reizen und Mittelwertbildung über dem Kortex, dem Rückenmark oder den peripheren Nerven abgeleitet werden können.
Die Ableitung erfolgt nichtinvasiv mittels Oberflächenelektroden oder über monopolare intrakutane Nadelelektroden. Folgende Untersuchungsmodalitäten sind bedeutsam:

Visuell evozierte Potenziale (VEP)

Bei der VEP-Untersuchung wird die Funktion der Sehbahn vom Auge bis zum Hinterhauptlappen erfasst. Die Reizung erfolgt durch einen Schachbrettmusterumkehrreiz über einen Monitor oder – bei wenig kooperativen bzw. bewusstseinsgestörten Patienten – über eine Blitzbrille. Für die VEP-Ableitung mittels Schachbrettumkehrreiz ist die Kooperation des Patienten erforderlich. VEP-Befunde nach Monitorreizung können durch eine inkonstante Blickfixierung oder eine schwankende Vigilanz während der Untersuchung artifiziell verändert werden.
Durch VEP-Veränderungen lassen sich Schädigungen des N. opticus sowie Läsionen im Bereich der Sehstrahlung und der Sehrinde nachweisen. Funktionell relevante Optikusschäden gehen zumeist mit pathologischen VEP-Befunden einher.
Ein normales VEP schließt eine schwerwiegende kortikale Sehstörung nicht aus.

Frühe akustisch evozierte Potenziale (FAEP; „brainstem auditory evoked potential“, BAEP)

Bei der FAEP-Untersuchung wird die Funktion der Hörbahn vom Ohr bis zum Hirnstamm untersucht. Außer einer ausreichenden Entspannung ist eine Kooperation des Probanden nicht erforderlich. FAEPs können auch bei komatösen Patienten abgeleitet werden.
Die Aussagefähigkeit der FAEPs wird durch schwergradige periphere Hörstörungen mit zunehmender Ausprägung beeinträchtigt. Bei Taubheit ist eine FAEP-Untersuchung nicht möglich.
Das Muster der FAEP-Veränderungen gestattet in Grenzen eine topodiagnostische Differenzierung in eine mehr pontomedulläre bzw. eine mehr pontomesenzephale Lokalisation einer Hirnstammschädigung. Veränderungen finden sich bei unterschiedlichen Läsionen im Bereich der Hörbahn, beginnend mit dem Akustikusneurinom bis hin zu ätiologisch unterschiedlichen Hirnstammläsionen.
Insbesondere nach schwergradigen Schädel-Hirn-Verletzungen finden sich häufig Veränderungen der FAEP, die zum Teil auf eine ödembedingte indirekte Hirnstammschädigung zurückzuführen sind. Bedeutsam ist jedoch, dass auch ausgedehnte Hirnstammläsionen, die die mehr dorsal lokalisierte Hörbahn nicht tangieren, mit vollständig unauffälligen FAEPs einhergehen können.
Mit der methodisch ähnlichen Hirnstammaudiometrie kann eine objektive Beurteilung des Hörvermögens erfolgen, so ist z. B. die Abgrenzung psychogener Hörstörungen möglich.

Somatosensorisch evozierte Potenziale (SEP)

Bei SEP-Untersuchungen wird die Funktion sensibler Bahnen vom jeweils gereizten peripheren Nerven bis zur Hirnrinde untersucht. SEPs können prinzipiell nach Reizung jedes gemischten oder sensiblen peripheren Nerven, eines Hirnnerven oder eines Dermatoms generiert und über dem zugehörigen Kortexareal abgeleitet werden. Zur Lokalisation einer vermuteten Läsion kann eine simultane Etagenableitung über dem peripheren Nerv, dem Nervenplexus, der Nervenwurzeleintrittszone, dem Rückenmark oder der sensiblen Hirnrinde erfolgen. In der Praxis spielt die Reizung von N. medianus (Medianus-SEP), N. tibialis (Tibialis-SEP) und N. trigeminus (Trigeminus-SEP) die größte Rolle. Grundsätzlich erlaubt die SEP-Ableitung die Objektivierung sowie in Grenzen die topodiagnostische Zuordnung von Störungen aszendierender sensorischer Systeme. Die Untersuchung ist – mit Ausnahme der Voraussetzung einer ausreichenden Entspannung – nicht an die Kooperation des Probanden gebunden. Ausgeprägte Temperaturschwankungen, Weichteildeformierungen oder Schwellungen im Bereich des Reizortes können die Befunde verfälschen.
SEP-Veränderungen finden sich bei ätiologisch unterschiedlichen Läsionen im Bereich der untersuchten somatosensiblen Bahn. Während ausgeprägte Latenzverzögerungen eher für eine primär demyelinisierende Läsion sprechen, deuten vorherrschende Amplitudenreduktionen der Antwortpotenziale eher auf eine axonale Schädigungskomponente, wie sie z. B. bei Raumforderungen beobachtet wird. Eine weitergehende ätiologische Differenzierung ist nicht möglich.
Da die Untersuchung nebenwirkungsfrei und beliebig wiederholbar ist, eignet sie sich insbesondere auch im Rahmen gutachtlicher Fragestellungen als Screening-Verfahren. Hier liegt eine wesentliche Einsatzmöglichkeit in der Abklärung subjektiv angegebener Sensibilitätsstörungen.
Pathologische SEP-Befunde lassen eher an eine organisch determinierte Sensibilitätsstörung denken, während unauffällige SEPs diese aber im Umkehrschluss eben nicht mit letzter Sicherheit ausschließen, jedoch zusammen mit dem angegebenen Verteilungsmuster den Verdacht auf eine psychogene Sensibilitätsstörung erhärten können.

Ereigniskorrelierte Potenziale (EKP)

Die nach sensorischen Reizen mit langer Latenz auftretenden, späten endogenen kortikalen Potenziale spiegeln elementare Prozesse der zerebralen Informationsverarbeitung wider.
Dem Probanden werden z. B. bei dem Standardverfahren der akustisch evozierten P300 randomisierte Töne hoher und niedriger Frequenz dargeboten, wobei die seltener auftretenden hochfrequenten Zielreize identifiziert werden müssen. Das entscheidend von Kooperation, Motivation und Wachheit des Probanden abhängige, nach etwa 300 ms auftretende positive Potenzial (P300) ist ein Parameter für die Geschwindigkeit der zerebralen Informationsverarbeitung.
Insofern kann die EKP-Ableitung Zusatzinformationen bei der Beurteilung traumatisch oder degenerativ bedingter psychoorganischer Veränderungen mit Beeinträchtigung der geistigen Leistungsfähigkeit liefern.
Eine gutachtliche Verwertung ist nur bei kritischer Berücksichtigung aller methodischen Einflussfaktoren im Einzelfall sinnvoll.

Transkranielle Magnetstimulation (TMS)

Mittels TMS können motorisch evozierte Potenziale (MEP) ausgelöst werden. Bei der MEP-Untersuchung wird die Funktion motorischer Bahnen von der Hirnrinde zum Zielmuskel untersucht. Die Reizung erfolgt nichtinvasiv durch einen magnetoelektrischen Reiz über der motorischen Hirnrinde. Die MEPs sind über dem jeweiligen Zielmuskel mit Oberflächenelektroden abzuleiten. Die Untersuchung ist nicht schmerzhaft und wiederholbar.
Kontraindikationen bestehen bei Patienten mit Herzschrittmachern und solchen mit Metallimplantaten im Schädelbereich, wobei Zahnplomben allerdings keine Rolle spielen. Patienten mit einer erhöhten Anfallsbereitschaft sollten nur unter speziellen Fragestellungen und nach dezidierter Aufklärung untersucht werden, da die Magnetstimulation bei prädisponierten Personen eine anfallsfördernde Wirkung haben kann. Weiterhin sollte bei degenerativ oder traumatisch bedingter Instabilität der Wirbelsäule keine zervikale Wurzelreizung durchgeführt werden.
Die Kooperationsfähigkeit des Patienten, insbesondere seine Fähigkeit zu einer tonischen Vorinnervation, beeinflusst das Untersuchungsergebnis. Ebenso können zentral wirksame Pharmaka die MEPs verändern. Durch die MEP-Ableitung nach transkortikaler und spinaler Reizung bzw. die Ableitung von F-Wellen kann eine getrennte Funktionsbeurteilung zentraler und peripherer motorischer Bahnen erfolgen.
MEPs sind bedeutsam in der Differenzialdiagnose motorischer Störungen, der Objektivierung und prognostischen Beurteilung von Hirnnervenläsionen sowie insbesondere in der Abgrenzung psychogener Lähmungen.
Eine unauffällige MEP-Untersuchung schließt eine organisch begründete komplette oder hochgradige Lähmung aus.

Elektronystagmografie

Bei der Elektronystagmografie werden durch periorbitale Oberflächenelektroden Bulbusbewegungen registriert. Auf diese Weise kann ein Nystagmus objektiviert, quantifiziert und analysiert werden. Periphere und zentrale vestibuläre Störungen können differenziert werden. Neben einer topodiagnostischen Zuordnung ist zumeist eine Unterscheidung physiologischer und pathologischer Nystagmusformen möglich.
Die Aussagefähigkeit der Untersuchung kann durch mangelnde Kooperationsfähigkeit und Vigilanzstörungen des Probanden beeinträchtigt werden.
Kontraindikationen ergeben sich für die kalorische Labyrinthprüfung mit Wasser bei größeren Trommelfelldefekten. Verwendete Provokationsverfahren wie Drehstuhlprüfung, kalorische Reizung und Lage- bzw. Lagerungsproben können zu heftigen vegetativen Symptomen mit Schwindel, Übelkeit und Erbrechen führen, von denen sich die Patienten in der Regel rasch wieder erholen.

Prüfung vegetativer Funktionen

Funktionsstörungen des autonomen Nervensystems können generalisiert oder lokalisiert vorliegen. Klinisch können Störungen unterschiedlicher Organsysteme z. B. der kardiovaskulären Regulation, der Schweißsekretion, der Pupillenregulation oder der Sexual-, Blasen- und Mastdarmfunktion resultieren.
Zu den Funktionsprüfungen für die Herz-Kreislauf-Regulation gehören Schellong-Test, Valsava-Manöver, Bestimmung der Herzfrequenzvariabilität, Cold-pressure- und Handdrucktest und ggf. die Kipptischuntersuchung. Die Schweißsekretion im Bereich der Hand- und Fußflächen kann mit Hilfe des Ninhydrin-Testes nach Moberg einfach und nebenwirkungsfrei getestet werden. Der Schweißtest nach Minor ist praktisch im Bereich des gesamten Körpers anwendbar, erfordert jedoch einen weitaus größeren Aufwand.
Die einfach abzuleitenden peripher autonomen Oberflächenpotenziale (PAOP) sind aufgrund ihrer inter- und intraindividueller Variabilität für gutachtliche Fragestellungen nur sehr eingeschränkt einsetzbar. Bei der Beurteilung von Störungen der Sexual-, Blasen- und Mastdarmfunktion sind urologische bzw. gastroenterologische Funktionsuntersuchungen erforderlich.

Quantitativ sensorische Testung (QST)

Die QST erstellt mittels 13 Parametern aus 7 Subtests (Temperatur, Berührungs-, Schmerzreize verschiedener Qualität, Vibration) ein somatosensorisches Profil im Hinblick auf Störungen verschiedener Gefühlsqualitäten z. B. bei Patienten mit neuropathischen Schmerzsyndromen. Der Test ist in den letzten Jahren zunehmend evaluiert und validiert worden und wird insbesondere für die Diagnosestellung einer Small-Fiber-Neuropathie vorgeschlagen.
Ein kritischer Einsatz erscheint im Rahmen klinischer Diagnostik und von Verlaufsuntersuchungen und bei wissenschaftlichen Fragestellungen begründet.
Da es sich jedoch nicht um ein vollständig objektives, psychophysisches Untersuchungsverfahren handelt und die Kooperation des Probanden für die Untersuchung erforderlich ist, ist die QST nicht für einen allgemeinen Einsatz in der Begutachtungssituation geeignet (Walk et al. 2009).

Ultraschall-Dopplersonografie

Mit der Dopplersonografie ist die nichtinvasive Beurteilung und Analyse von Strömungsveränderungen und von arteriellen Wandstrukturen im Bereich der extra- und intrakraniellen Arterien und ihrer Kollateralkreisläufe möglich.
Die Untersuchungen sind nebenwirkungsfrei, beliebig wiederholbar und zumutbar. Die Befundqualität ist wesentlich abhängig von der Methoden-Erfahrung des Untersuchenden.
Die cw-(„continuous-wave“-)Dopplersonografie ermöglicht die Beurteilung des Blutflusses im Bereich der extrakraniellen präzerebralen Gefäße. Strömungshindernisse/Stenosen können erfasst und in Grenzen quantifiziert werden. Die Duplexsonografie gestattet die zwei- bzw. dreidimensionale Darstellung der arteriellen Gefäßstruktur, sodass auch Stenosen unter 50 % erfasst und quantifiziert sowie z. B. thrombembolisch relevante Gefäßwandveränderungen (Plaques) dargestellt und beurteilt werden können. Mittels des Duplexverfahrens können gezielte Flussmessungen in einzelnen präzerebralen Gefäßen durchgeführt werden. Einschränkungen ergeben sich durch die Größe des Schallkopfes, sodass sehr hochsitzende Gefäßveränderungen in der Karotisstrombahn mit dieser Technik nicht erfasst werden können.
Die gepulste transkranielle Dopplersonografie (TCD) und die transkranielle Farbduplexsonografie (TCCS) erlauben die Untersuchung des Blutflusses im Bereich der basalen intrakraniellen Gefäße sowie die zwei- bzw. dreidimensionale Darstellung des Hirnparenchyms und der basalen Hirnarterien.
Das Einsatzgebiet der Ultraschall-Dopplersonografie im Rahmen gutachtlicher Fragestellungen liegt in der differenzialdiagnostischen Beurteilung vaskulärer zerebraler Läsionen. Weiterhin können Dissektionen im Bereich der präzerebralen Gefäße nachgewiesen werden, wobei allein aufgrund der Dopplersonografie eine ätiologische Differenzierung zwischen spontanen und z. B. traumatisch aufgetretenen Gefäßdissektionen nicht möglich ist.

Nervensonografie

Die Nervensonografie ist ein Verfahren zur Visualisierung peripherer Nervenverläufe. Mithilfe dieser Methode kann das Auffinden und die anatomische Lokalisation von peripher-nervalen Läsionen sowie deren ätiologische Zuordnung gelingen, insbesondere in Verbindung mit weiteren lokalisatorischen Verfahren. Die Nervensonografie kann dabei nervale Engpasssyndrome und deren sekundäre Ursachen in der Diagnostik unterstützen.
In der interdisziplinären Zusammenarbeit mit den chirurgischen Fachrichtungen liegt die besondere Bedeutung des Nervenultraschalls vor allem in der frühzeitigen Detektion von irreversiblen traumatischen Nervenschädigungen i. S. kompletter Nervendurchtrennungen, die eine frühzeitige operative Versorgung erforderlich machen. Auch wird das Verfahren zur weiteren Diagnostik und Abklärung einer unklaren peripheren Neuropathie (PNP) zusammen mit der MR-Neurografie und bei bestimmten Fragestellungen auch der Nervenbiopsie eingesetzt (Kerasnoudis und Tsivgoulis 2015).

Neuropsychologische Testdiagnostik

Infolge einer Hirnschädigung können Hirnleistungsstörungen in verschiedenen Bereichen (Gedächtnis, Aufmerksamkeit, Psychomotorik, Affektivität, höhere intellektuelle Funktionen) auftreten. Weiterhin können aphasische Sprachstörungen, Apraxien oder Agnosien vorhanden sein. Zur differenzierten Erfassung dieser Hirnleistungsstörungen existieren standardisierte neuropsychologische Testverfahren, mit denen eine Quantifizierung der Störungen im Vergleich zu einer Normpopulation möglich ist. Die Auswahl und Anwendung der im Einzelfall adäquaten Testbatterie sollte durch eine(n) Neuropsychologin(en) erfolgen. Speziell die Diagnostik aphasischer Störungen fällt in den Bereich der Neurolinguistik oder Logopädie.
Die Hauptaufgabe der neuropsychologischen Funktionsdiagnostik liegt in der Erstellung einer differenzierten Zustandsbeschreibung der hirnorganischen Leistungsfähigkeit. Die zur Anwendung kommenden Testverfahren führen ohne Kooperationsbereitschaft und Motivation des Probanden nicht zu einem validen Ergebnis. Insofern muss der neuropsychologische Endbefund auch Angaben zur Kooperation und Motivation des Probanden während der Untersuchung enthalten.
Hervorzuheben ist, dass das Ergebnis einer neuropsychologischen Testdiagnostik keine ätiologische Zuordnung eventuell nachweisbarer Funktionsstörungen gestattet.
So ist eine sichere Differenzierung zwischen organisch determinierten Leistungsbeeinträchtigungen – z. B. nach Schädel-Hirn-Verletzungen – und primär psychogen verursachten Beeinträchtigungen – z. B. im Rahmen motivationaler Faktoren, oder eines pseudoneurasthenischen oder depressiven Syndroms – nicht eindeutig möglich.
Insbesondere im Hinblick auf die Abgrenzung mangelnder Leistungsbereitschaft bzw. motivationaler Faktoren (z. B. Aggravation, Simulation) wird zur Überprüfung der Authentizität der vorgebrachten Beschwerden die begleitende Durchführung von speziellen Symptomvalidierungstests empfohlen (Keppler et al. 2017).
Die Zuordnung testpsychologisch nachweisbarer Beeinträchtigungen der Hirnleistungsfähigkeit als hirnorganisch verursachtes Syndrom setzt immer den zweifelsfreien Nachweis einer adäquaten zerebral-organischen Läsion voraus.
Ein isolierter neuropsychologischer Testbefund allein kann nicht Grundlage der Anerkennung eines organischen Hirnschadens sein.
Literatur
Berlit P (Hrsg) (2020) Klinische Neurologie, 4. Aufl. Springer, Berlin
Keppler C, Plohmann AM, Pflueger M, Rabovsky K, Langewitz W, Mager R (2017) Beschwerdenvalidierung in der versicherungsmedizinischen Begutachtung [Symptom validation in independent medical evaluations]. Fortschr Neurol Psychiatr 85(1):17–33CrossRef
Kerasnoudis A, Tsivgoulis G (2015) Nerve ultrasound in peripheral neuropathies: a review. J Neuroimaging 25(4):528–538CrossRef
Müller-Vahl H, Tegenthoff M (Hrsg) (2021) Läsionen peripherer Nerven und radikuläre Syndrome, 11. Aufl. Thieme Verlag, Stuttgart/New York
Walk D, Sehgal N, Moeller-Bertram T, Edwards RR, Wasan A, Wallace M, Irving G, Argoff C, Backonja MM (2009) Quantitative sensory testing and mapping: a review of nonautomated quantitative methods for examination of the patient with neuropathic pain. Clin J Pain 25:632–640CrossRef