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Die Ärztliche Begutachtung
Info
Publiziert am: 20.07.2022

Private Unfallversicherung

Verfasst von: Wolfgang Reuter
In der privaten Unfallversicherung prüft der ärztliche Gutachter zunächst, ob überhaupt ein Unfall die Symptome des Probanden verursacht hat. Dann prüft er das Ausmaß des Dauerschadens nach der Gliedertaxe oder eines analogen Maßstabs. Abschließend sind eine Vorinvalidität und unfallfremde Wirkungen auf den Schaden oder das Heilungsergebnis zu beurteilen.

Einleitung

Die private Unfallversicherung (PUV) bietet Schutz bei einer unfallbedingten Gesundheitsschädigung, wobei es für den ärztlichen Gutachter vor allem wichtig ist, die erheblichen Unterschiede zur gesetzlichen Unfallversicherung zu beachten. Die Vertragsgrundlagen der privaten Unfallversicherung in Deutschland sind die jeweils gültigen Allgemeinen Unfallversicherungsbedingungen (AUB). Zusätzlich muss der Gutachter die besonderen Vertragsbedingungen berücksichtigen, die ihm der Versicherer mitteilt.

Versicherungsfall und Versicherungsschutz

Der Versicherungsschutz gilt weltweit für alle Unfälle des täglichen Lebens, nicht nur für Arbeits- und Wegeunfälle, wie in der gesetzlichen Unfallversicherung (GUV) (◘ Tab. 1).
Tab. 1
Merkmale der privaten und gesetzlichen Unfallversicherung
Private Unfallversicherung
Gesetzliche Unfallversicherung
Freiwillige Versicherung
Pflichtversicherung kraft Gesetzes bzw. Satzung des Unfallversicherungsträgers; Freiwillige Versicherung des Unternehmers gem. Satzung
Alle Unfallarten sind versichert,
Für Berufskrankheiten besteht kein Versicherungsschutz
bzw. keine Versicherungsmöglichkeit
Nur Arbeits-, Schul- und Wegeunfälle bzw. Berufskrankheiten
Berufskrankheiten sind versichert, soweit in der Berufskrankheitenverordnung enthalten
Versicherungsnehmer zahlt Beiträge alleine
Vertraglicher Versicherungsschutz neben dem Versicherten selbst auch für Selbstständige, Hausfrauen, Schüler und
andere Personen möglich
Unternehmer zahlt Beiträge für alle Beschäftigen seines Betriebes alleine ( zu 100 %)
Versicherungsschutz haben alle Beschäftigte, Schüler, Studenten, Kinder in der Kita, aber auch Nothelfer bei Unglücksfällen, ehrenamtlich Tätige im Gesundheitswesen, private Pflegepersonen, Rehabilitanden u. a. Personen gem. § 2 SGB VII
Rentenleistungen
• nach Versicherungssumme
• nach Invaliditätseinschätzung
• Zusatzversicherungen möglich
Rentenleistungen
– grds. nach Jahresarbeitsverdienst (JAV)
– nach Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE)
– grds. keine Zusatzversicherung möglich
Kausalitätsbeurteilung „Adäquanztheorie
Kausalitätsbeurteilung „Theorie der (rechtlich) wesentlichen Bedingung“
Rechtliche Grundlagen:
– BGB (Bürgerliches Gesetzbuch),
– AUB (Allgemeine Unfallversicherungsbedingungen)
Rechtliche Grundlagen:
– Sozialgesetzbuch SGB VII

Der Unfallbegriff der PUV

Definition
„Unfall“: Ein Unfall liegt vor, wenn der Versicherte durch ein plötzlich von außen auf seinen Körper wirkendes Ereignis (Unfallereignis) unfreiwillig eine Gesundheitsschädigung erleidet. „Das gilt in der PUV allgemein“.
Aus dieser Definition ergibt sich, dass Krankheiten (z. B. auch Berufskrankheiten) generell nicht unter den Versicherungsschutz der PUV fallen. Allerdings sind Zeckenstiche und ihre Folgen (z. B. Borreliose) versichert, da sie als Unfall und nicht als Krankheit gelten. Vorsätzlich herbeigeführte Verletzungen, wie z. B. in suizidaler Absicht oder zwecks Selbstverstümmelung, sind nicht versichert.
Sowohl die Gesundheitsschädigung selbst, d. h. die Primärverletzung, als auch der Ursachenzusammenhang zwischen dem Unfallereignis und der Gesundheitsschädigung müssen im Vollbeweis, d. h. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen werden. Verdachtsdiagnosen ohne sicheren Nachweis einer strukturellen Verletzung sind grundsätzlich nicht ausreichend, eine Versicherungsleistung zu begründen.
Durch Aufnahme des Begriffes der „erhöhten Kraftanstrengung“ in die AUB 88 bzw. „Kraftanstrengung“ in die AUB 61 wurde die Definition des Unfallbegriffes in der PUV erweitert:
Als Unfall gilt auch, wenn durch eine erhöhte Kraftanstrengung an Gliedmaßen oder Wirbelsäule
  • ein Gelenk verrenkt wird oder
  • Muskeln, Sehnen, Bänder oder Kapseln gezerrt oder zerrissen werden. (AUB 88, § 1 IV)
Unter einer erhöhten Kraftanstrengung wird eine erheblich über das normale Maß hinausgehende Belastung verstanden. Werden allerdings Schäden an der Bandscheibe oder am Meniskus auf eine erhöhte Kraftanstrengung zurückgeführt, fallen diese bedingungsgemäß nicht unter den Versicherungsschutz.
Seit den AUB 88 fallen auch unfallbedingte Bandscheibenschäden ebenso wie Blutungen aus inneren Organen und Gehirnblutungen nicht unter den Versicherungsschutz, es sei denn, das Unfallereignis wäre die überwiegende Ursache (AUB 88, § 2 III (2)). Gleiches gilt für Infektionen. Versicherungsschutz besteht jedoch, wenn die Krankheitserreger durch eine unter diesen Vertrag fallende Unfallverletzung in den Körper gelangt sind (z. B. Borreliose). Nicht als Unfallverletzungen gelten dabei Haut- oder Schleimhautverletzungen, die als solche geringfügig sind und durch die Krankheitserreger sofort oder später in den Körper gelangen; für Tollwut und Wundstarrkrampf entfällt diese Einschränkung.

Kausalitätsbeurteilung und Vorinvalidität (Vorschaden)

Die private Unfallversicherung gewährt nur für die konkrete unfallbedingte Gesundheitsschädigung eine finanzielle Leistung. Der ärztliche Gutachter muss deshalb unfallunabhängige Vorschäden, in der PUV Vorinvalidität genannt, bei der Bewertung berücksichtigen:
Da nach den AUB Leistungen nur für den rein unfallbedingten Anteil der Gesundheitsschädigung erbracht werden, muss zusätzlich und exakt geprüft werden, ob eine unfallfremde Mitwirkung von Krankheiten oder Gebrechen am Ausmaß der Gesundheitsschädigung oder deren Folgen vorliegt. In einem solchen Fall wird der Leistungsanspruch entsprechend reduziert, wenn der unfallfremde Mitwirkungsanteil mindestens 25 % beträgt (AUB 88, § 8).
Diese Beurteilung im Sinne der Adäquanzlehre unterscheidet sich erheblich von der der gesetzlichen Unfallversicherung, die den Kausalzusammenhang nach der „rechtlich wesentlichen Bedingung“ beurteilt. Bei der Berücksichtigung von Schadensanlagen kennt die gesetzliche Unfallversicherung nur das „Alles oder Nichts-Prinzip“. Wird die Wesentlichkeit bejaht, spielt die Schadensanlage keine Rolle und der Gesundheitsschaden wird komplett entschädigt bzw. bei Vorschäden der Verschlimmerungsanteil. In der PUV hingegen muss der Gutachter beim Vorliegen von unfallfremden Erkrankungen, z. B. erheblichen degenerativen Strukturveränderungen einer Sehne, hingegen genau prüfen, ob diese an der Gesundheitsschädigung selbst oder deren Folgen, d. h. an der Sehnenruptur oder am Ausheilungsergebnis, mitgewirkt haben. Diesen unfallfremden Mitwirkungsfaktor muss der Gutachter im Sinne einer Partialkausalität prozentual einschätzen.
Die private Unfallversicherung bietet verschiedene Versicherungsleistungen, die der Versicherungsnehmer unter Berücksichtigung seines persönlichen Risikos und im Hinblick auf die gewünschten Versicherungssummen individuell wählen kann. Als Beispiele seien hier nur das Krankenhaustagegeld, die Übergangsleistung, die Todesfallleistung und als wichtigste die Renten- oder Kapitalzahlung bei Dauerinvalidität, d. h. die Invaliditätsleistung, genannt. Die Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung sind hingegen durch das SGB VII vorgegeben und (mit Ausnahme der Versicherungssumme bei freiwillig versicherten Unternehmern) nicht vertraglich vereinbar. Die Rentenleistung bestimmt sich in der GUV nach der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) und dem Jahresarbeitsverdienst des Betroffenen.

Invalidität und Gliedertaxe

Invalidität bezeichnet die dauernde Beeinträchtigung der körperlichen oder geistigen Leistungsfähigkeit. Sind Gliedmaßen, Augen, Gehör, Geruch oder Geschmack betroffen, gilt die sog. Gliedertaxe (AUB 88, § 7) (Tab. 2). Diese Taxe sieht feste Invaliditätsgrade für den Verlust oder die Funktionsunfähigkeit von Gliedmaßen oder Sinnesorganen vor. Dabei orientiert sich die Gliedertaxe an einem rein abstrakten Maßstab und ermöglicht dadurch ein hohes Maß an Gleichbehandlung aller Versicherten.
Tab. 2
Gliedertaxe nach AUB 88, § 7
Als feste Invaliditätsgrade gelten – unter Ausschluss des Nachweises einer höheren oder geringeren Invalidität – bei Verlust oder Funktionsunfähigkeit
– eines Armes im Schulterbereich
70 %
– eines Armes bis oberhalb des Ellenbogengelenks
65 %
– eines Armes unterhalb des Ellenbogengelenks
60 %
– einer Hand im Handgelenk
55 %
– eines Daumens
20 %
– eines Zeigefingers
10 %
– eines anderen Fingers
5 %
– eines Beines über der Mitte des Oberschenkels
70 %
– eines Beines bis zur Mitte des Oberschenkels
60 %
– eines Beines bis unterhalb des Knies
50 %
– eines Beines bis zur Mitte des Unterschenkels
45 %
– eines Fußes im Fußgelenk
40 %
– einer großen Zehe
5 %
– einer anderen Zehe
2 %
– eines Auges
50 %
– des Gehörs auf einem Ohr
30 %
– des Geruchs
10 %
– des Geschmacks
5 %
Die durch die Gliedertaxe aufgestellten Bewertungsmaßstäbe sind unabhängig von der Berufstätigkeit oder den persönlichen Fähigkeiten des Versicherten. Verschiedene Versicherungsunternehmen bieten aber besondere Gliedertaxen für bestimmte Gruppen an, in denen erhöhte Invaliditätsgrade bei Finger- oder Handverlusten festgelegt werden (z. B. für Ärzte oder Berufsmusiker). Bei der Begutachtung nach der Gliedertaxe ist die Funktionsbeeinträchtigung zu prüfen, wobei in der privaten Unfallversicherung als Vergleichsmaßstab die unbeeinträchtigte Normalfunktion einer gesunden Gliedmaße oder eines Sinnesorgans herangezogen wird. Bei einem vollständigen Verlust oder Funktionsunfähigkeit einer Gliedmaße können die Gliedertaxwerte direkt angewendet werden, bei Teilverlusten oder Teilfunktionsstörungen muss der Gutachter eine entsprechende Wertung in Bruchteilen vornehmen (z. B. 1/10, 2/10, 3/10).
Ist die Gliedertaxe nicht anwendbar, da keine entsprechenden Werte ausgewiesen werden, muss der Gutachter prüfen und bewerten, inwieweit die normale körperliche oder geistige Leistungsfähigkeit durch das Unfallereignis beeinträchtigt ist, und zwar ausschließlich unter Berücksichtigung medizinischer Gesichtspunkte. Besondere berufliche oder außerberufliche Fähigkeiten und Faktoren (z. B. bei Spitzensportlern) bleiben hierbei unberücksichtigt.
Psychische Reaktionen auf Unfallereignisse dürfen nach den allgemein gültigen Versicherungsbedingungen bei der Einschätzung der Invalidität nicht berücksichtigt werden, gleichgültig wodurch diese verursacht sind (AUB 88, § 2 IV).
Die Invalidität in der Privaten Unfallversicherung kann nicht aus Maßstäben anderer Rechtsgebiete hergeleitet werden. Die in der gesetzlichen Unfallversicherung (MdE) oder dem Schwerbehindertenrecht (Grad der Behinderung GdB) bzw. dem sozialen Entschädigungsrecht (Grad der Schädigungsfolge GdS) geltenden Grundsätze sind nicht auf die PUV übertragbar.
Auf spezielle Zusatzversicherungen, wie die Invaliditätszusatzversicherung für Kinder und Jugendliche oder die Seniorenversicherung, kann hier nicht eingegangen werden, da je nach Versicherungsgesellschaft sehr unterschiedliche Vertragsbedingungen gelten, die dem Gutachter im Zusammenhang mit dem Gutachtenauftrag mitgeteilt werden sollten. Falls dies nicht der Fall ist, sollte der beauftragte Gutachter bei Spezialversicherungen die gültigen Vertragsbedingungen in jedem Fall anfordern.