Die Ärztliche Begutachtung
Info
Verfasst von:
Dirk Scholtysik
Publiziert am: 11.11.2022

Soziale Sicherung in Deutschland – Begutachtung

In Deutschland sichert der Staat durch gesetzlich verankerte Sozial-Versicherungen seine Bürger gegen existenzielle Risiken. Dazu gehören die Krankheit (Krankenversicherung), der Einkommensverlust im Alter (Rentenversicherung), das Gesundheitsrisiko durch einen Arbeitsunfall oder eine Berufskrankheit (gesetzliche Unfallversicherung), die Arbeitslosigkeit (Arbeitslosenversicherung) und die Pflegebedürftigkeit (Pflegeversicherung). Die Bürger brauchen sich gegen diese Risiken im Prinzip nicht zusätzlich freiwillig, z. B. durch Privatversicherungen, abzusichern. Dennoch gewinnen die privaten Versicherungen zunehmend Bedeutung, da insbesondere junge Leute häufig in jobs arbeiten, die aufgrund ihrer rechtlichen Konstruktionen eher der Selbständigkeit zuzuordnen sind und somit nicht als klassische Arbeitsverhältnisse mit Sozialversicherungsschutz gelten. Die Durchführung der gesetzlich abgesicherten Risiken überlässt der Staat mehreren öffentlich-rechtlichen Institutionen, deren Ausgestaltung im Wesentlichen von den Sozialpartnern (Vertreter der Arbeitgeber und Arbeitnehmer) bestimmt wird und denen der Staat gesetzliche Vorgaben macht, die er auch kontrolliert.
In Deutschland sichert der Staat durch gesetzlich verankerte Sozial-Versicherungen seine Bürger gegen existenzielle Risiken. Dazu gehören die Krankheit (Krankenversicherung), der Einkommensverlust im Alter (Rentenversicherung), das Gesundheitsrisiko durch einen Arbeitsunfall oder eine Berufskrankheit (gesetzliche Unfallversicherung), die Arbeitslosigkeit (Arbeitslosenversicherung) und die Pflegebedürftigkeit (Pflegeversicherung). Die Bürger brauchen sich gegen diese Risiken im Prinzip nicht zusätzlich freiwillig, z. B. durch Privatversicherungen, abzusichern. Dennoch gewinnen die privaten Versicherungen zunehmend Bedeutung, da insbesondere junge Leute häufig in jobs arbeiten, die aufgrund ihrer rechtlichen Konstruktionen eher der Selbständigkeit zuzuordnen sind und somit nicht als klassische Arbeitsverhältnisse mit Sozialversicherungsschutz gelten. Die Durchführung der gesetzlich abgesicherten Risiken überlässt der Staat mehreren öffentlich-rechtlichen Institutionen, deren Ausgestaltung im Wesentlichen von den Sozialpartnern (Vertreter der Arbeitgeber und Arbeitnehmer) bestimmt wird und denen der Staat gesetzliche Vorgaben macht, die er auch kontrolliert.

Grundzüge des gegliederten Sozialversicherungs-Systems

Das gegliederte System der sozialen Sicherung geht auf die Bismarckschen Ideen vor über 120 Jahren zurück. Dabei ist zwischen Versicherung, Versorgung und Fürsorge (Sozialhilfe) zu unterscheiden.

Versicherung

Versicherung bedeutet: Zusammenschluss gleichartig bedrohter Personen zu einer Solidargemeinschaft zum Zwecke eines Risikoausgleichs. Der bei einem individuellen Versicherten eingetretene Schaden wird durch die von der Gesamtheit der Versicherten aufzubringenden Mittel (Beiträge) gedeckt. Die Höhe der umgelegten Beiträge bzw. Prämien richten sich nach der Höhe des Risikos, mit dem die einzelnen Versicherten die Versichertengemeinschaft belasten. Leistung und Gegenleistung müssen also in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen, ein Prinzip, das sich am deutlichsten in der Privatversicherung ausdrückt, aber auch aus der Sozialversicherung nicht wegzudenken ist. Der entscheidende Unterschied zwischen privater Versicherung, also einem freiwillig abgeschlossenen Vertrag Einzelner mit einem Versicherer, und der gesetzlichen Sozialversicherung ist die Pflichtmitgliedschaft in der Sozialversicherung. Anders als die private Versicherung kennt die deutsche Sozialversicherung keine Gesundheitsprüfung bei Versicherungsbeginn. Auch da, wo es mehrere Sozialversicherungsunternehmen gibt zwischen denen der einzelne Versicherte frei auswählen kann (so z. B. in der gesetzlichen Krankenversicherung), besteht von Seiten der gesetzlichen Krankenkassen ein Kontrahierungszwang, d. h. Sie müssen dem Antrag auf Aufnahme bzw. Wechsel nachkommen, unabhängig von etwaigen Vorerkrankungen der Versicherten. Das jeweilige Kostenrisiko für die Sozialversicherungsträger wird somit vernachlässigt und durch die Solidargemeinschaft ausgeglichen, sowohl der Versicherten aber auch im Kreise der Versicherer. Die Höhe der Beiträge sind dabei im Wesentlichen gesetzlich geregelt in Form eines prozentualen Anteils am individuellen Einkommen. Mit Ausnahme der gesetzlichen Unfallversicherung (hier werden die Beiträge aufgrund des Wegfalls einer schadenersatzpflichtigen Haftung des Unternehmers allein von den Arbeitgebern getragen), tragen die Beiträge zur Sozialversicherung (Rentenversicherung, Arbeitslosenversicherung, Krankenversicherung und Pflegeversicherung) Arbeitnehmer und Arbeitgeber jeweils zur Hälfte. Eine Veränderung des gesetzlichen Regelsatzes trifft beiden Seiten somit zu gleichen Teilen. Deshalb ist die Sozialversicherung in wichtigen Entscheidungsgremien grds. auch paritätisch besetzt bzw. beiden Seiten werden vor Eingriffen des Gesetzgebers in das System intensiv eingebunden. In der Privatversicherung insbesondere der Krankenversicherung werden demgegenüber die Beiträge risikogerecht kalkuliert (Äquivalenzprinzip), also u. a. abhängig vom Alter und von bei Versicherungsbeginn bestehenden Krankheiten bzw. Vorschädigungen.

Versorgung

Bei der Versorgung ist die für das Versicherungsprinzip typische Gegenseitigkeit nicht gegeben. Hier gewährt der Staat aus Steuermitteln (nicht über Beiträge) die erforderlichen Ausgleichszahlungen in bestimmten Konstellationen, zumeist abhängig von der individuellen Bedürftigkeit aber auch als Ausgleich für dem Staat grds. dienende Handlungen oder Aufopferungen. Diese werden z. B. als Entschädigung für ein erbrachtes Opfer (für die Gemeinschaft) erbracht (sog. soziales Entschädigungsrecht) oder eine sonstige vergleichbare Benachteiligung gewährt. Es ist zwischen Allgemeinversorgung (Staatsbürgerversorgung) und Sonderversorgung (Ausgleichsversorgung) zu unterscheiden. Bei der Allgemeinversorgung hat jeder Staatsbürger durch Nachweis bestimmter Bedürfnisse allein oder final Anspruch auf die Leistungen des Staates, z. B. Kindergeld, Wohngeld u. Ä. Die Sonderversorgung ist eine Entschädigung für ein der Allgemeinheit erbrachtes oder von ihr verursachtes Opfer. Hier werden nach den Prinzipien der Kausalität Leistungen an bestimmte Personengruppen gewährt, deren Grund und Ursache in einem aktuellen Ereignis liegen kann (z. B. Terroranschlag) oder auch in der in der Vergangenheit begründet sein kann (z. B. Kriegsopferversorgung).

Sozialhilfe

Die Sozialhilfe, früher Fürsorge genannt, ist eine Hilfeleistung des Staates zur Deckung eines individuellen Bedarfs ohne Gegenleistung, somit eine besondere Form der Versorgung. Sie tritt nur ein, wenn der Bedürftige sich nicht selbst helfen, kein sonstiger vorrangiger Sozialversicherungsschutz oder Vorsorgeanspruch besteht und auch keine zivilrechtlichen (Schadens-) Ersatzansprüche bestehen, z. B. Unterhaltsansprüche gegen Familienmitglieder (zumeist Eltern oder Ehegatten) nicht durchgesetzt bzw. realisiert werden können. Die Sozialhilfe und ihre vergleichbaren Leistungen beruhen somit generell auf dem sog. Subsidiaritätsprinzip. Auch Sozialhilfeleistungen bzw. ähnliche Leistungen, wie etwa die Eingliederungshilfe (u. a. bei frühkindlich erworbenen schweren dauerhaften Behinderungen) werden aus Steuermitteln finanziert und in der Regel durch kommunale und überörtliche Leistungsträger organisiert und erbracht.

Sozialleistungen

Die zu gewährenden Sozialleistungen werden im Wesentlichen in Geld- und Sachleistungen eingeteilt.

Geldleistungen

Geldleistungen sind Sozialleistungen, die die Leistungsträger durch Zahlung eines Geldbetrages an die Leistungsberechtigten erbringen und die im Allgemeinen dazu bestimmt sind, einen Verdienstausfall auszugleichen (z. B. Krankengeld, Übergangsgeld bei Rehabilitation, Renten wegen eingeschränkter Erwerbsunfähigkeit). Zunehmende Bedeutung, insbesondere in der Rehabilitation und bei Teilhabeleistungen, nimmt das sog. persönliche Budget gemäß § 17 SGB IX ein. Hierbei wird der Bedarf pauschaliert errechnet und den Betroffenen als regelmäßiges Budget ausgezahlt, damit diese ihre Bedarfe individuell decken können.

Sachleistungen

Sachleistungen sind Sozialleistungen, die durch Zurverfügungstellen von Gegenständen oder die Übernahme der Kosten durch (medizinische) Einrichtungen erbracht werden. Sie werden „in Natur“ als „Naturalleistungen“ gewährt, z. B. Arzneien, Brillen, Körperersatzstücke, Behandlung, aber auch als Gewährung von Unterhalt und Unterkunft in einem Krankenhaus, Kurheim usw.
Ohne Bedeutung ist für die Sachleistungen, ob die Leistungsträger diese Leistungen selbst erbringen oder ihre Leistungsverpflichtungen durch zugelassene externe Leistungserbringer erfüllen lassen.
Seit 2009 ist die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-BRK) in deutsches Recht integriert. Mit diesen Menschenrechten wird die Fürsorge durch den Gedanken der Inklusion von Menschen mit Behinderungen in die Gesellschaft abgelöst. Abbau von Barrieren, Individualisierung und Vielfalt der Angebote sind nur einzelne Stichworte, die in den nächsten Jahren konkretisiert werden und die auch die Aufmerksamkeit der Gutachter erfordern. Im Fokus steht dabei immer eine möglichst selbstständige bzw. eigenverantwortliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in allen Lebensbereichen, die nunmehr auch im relativ neuen Sozialgesetzbuch IX (Bundesteilhabegesetzt) normiert bzw. reformiert wurde. Die Bundesregierung hat bereits im Juni 2011 einen Nationalen Aktionsplan für die nächsten 10 Jahre verabschiedet (http://www.einfach-teilhaben.de) der regelmäßig fortgeschrieben wird. Gleiches gilt für die einzelnen Sozialversicherungsträger, die eigene, spezifisch auf ihre Bereiche zugeschnittene Umsetzungspläne erlassen haben.

Sozialgesetzbücher

In das Leistungsgeflecht werden die ärztlichen Gutachter von den Sozialleistungsträgern und den Privatversicherern im Vorfeld ihrer Entscheidungen eingeschaltet. Dabei sind die Fragen und Probleme vielschichtig. Im Rahmen eines Gutachtenauftrags bedarf der Gutachter der Kenntnisse über Grundzüge des gegliederten sozialen Sicherungssystems ebenso wie über die Rechtsvorgaben der speziellen Sicherungszweige. Dies gilt umso mehr, als sich die Rechtsbegriffe oftmals ähneln, juritisch aber oftmals sehr unterschiedlich Bedeutung haben. Spezifische Fort- und Weiterbildungen für ärztliche Gutachter sind hier unerlässlich und werden sowohl von den staatlichen Sozialversicherungsträgern als auch von den medizinischen Fachgesellschaften bzw. Fortbildungsinstituten angeboten. Nicht zuletzt geht es bei der Begutachtung auch um die Zuständigkeitsgrenzen der einzelnen Sozialleistungsträger, die sich aus dem Sozialgesetzbuch ergeben.
Der Allgemeine Teil des Sozialgesetzbuches (SGB I) fasst ebenso wie das SGB IV und das SGB X (Verwaltungsverfahren) wesentliche Grundsätze zusammen die für alle Sozialversicherungsträger gelten. Dazu gehören die sozialrechtlichen Grundpositionen des Bürgers, seine Mitwirkungspflichten (§§ 60 f. SGB I) und die Auskunftspflicht der Ärzte (§ 100 SGB X). Daneben existieren spezielle Kodifikationen für jeden einzelnen Sozialversicherungsbereich, etwa der gesetzlichen Krankenversicherung (SGB V), der gesetzlichen Rentenversicherung (SGB VI) oder der gesetzlichen Unfallversicherung (SGB VII) und der gesetzlichen (sozialen) Pflegeversicherung (SGB XI). Im SGB IX Teil I (Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen) ist für alle Träger ergänzend das Rehabilitationsrecht und Regeln über die Teilhabe kodifiziert. Zudem regelt das SGB IX in Teil II das Recht der Eingliederungshilfe sowie in Teil III das Schwerbehindertenrecht mit zahlreichen Verordnungen. Besondere Normen für die sozialmedizinischen Begutachtung stehen finden sich in den §§ 14 ff. SGB IX, insbesondere in § 17.

Verbände der Sozialversicherungsträger

Die Sozialversicherungsträger haben sich freiwillig zu einer Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR) zusammengeschlossen. Sie hat ihren Sitz in 60.486 Frankfurt am Main, Solmsstraße 18 (http://www.bar-frankfurt.de). In dieser Bundeseinrichtung, in der es einen Ärztlichen Sachverständigenrat gibt, vollzieht sich auch eine Meinungsbildung mit den Verbänden der Menschen mit Behinderungen und der Leistungserbringer. Zahlreiche Empfehlungen, etwa zur Begutachtung, oder auch Arbeitshilfen zur Rehabilitation bieten den Gutachtern Hilfe bei der Beantwortung der Frage, was ein zu Begutachtender nach einem Unfall oder mit einer Krankheit noch leisten kann, etwa im Arbeitsleben.
Sowohl die Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation als auch die Verbände der Sozialversicherungsträger – meist über ihre medizinischen Dienste – oder auch der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft geben eigene Empfehlungen und Richtlinien zur Begutachtung heraus, die diejenigen der medizinischen Fachgesellschaften ergänzen und an denen sich auch die Leistungserbringer orientieren sollten. Diese Regeln gehören als Rechtsquellen zum Handwerkszeug der ärztlichen Gutachter ebenso wie die Leitlinien der AWMF, denn alle zusammen tragen zur gesetzeskonformen, sachgerechten Leistungsgewährung bzw. Gleichbehandlung der Leistungsberechtigten von Sozialleistungen bei.