Die Ärztliche Begutachtung
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Verfasst von:
Jan Bulla
Publiziert am: 29.05.2022

Strafrechtliche Fragestellungen der Begutachtung in der Forensischen Psychiatrie

Der Schwerpunkt des Beitrags liegt auf der Begutachtung von Fragestellungen im Schuldrecht. Nach einer kurzen Einführung in die Grundlagen des Schuldrechts werden die vier Eingangsmerkmale des § 20 StGB und die Bewertung von Störungen der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit aus Sicht des psychiatrischen Sachverständigen ausführlich dargestellt. Die Rechtsgrundlagen strafrechtlichen Unterbringungen, insbesondere gem. §§ 63 und 64 StGB und deren gutachterlichen Bewertung schließen sich an. Prognostische Fragestellungen, die Entlassung aus dem Maßregelvollzug und die forensische Nachsorge im Rahmen der Führungsaufsicht werden gestreift.

Einleitung

Aufgaben, die im Bereich des Strafrechts auf den (forensischen) Psychiater oder rechtspsychologischen Sachverständigen zukommen, befassen sich wesentlich mit
  • den Voraussetzungen für aufgehobene oder verminderte Schuldfähigkeit (§§ 20, 21 StGB);
  • der Reifebeurteilung von Jugendlichen und Heranwachsenden (§§ 3, 105 JGG);
  • der Sozial- und Kriminalprognose bei psychisch kranken Rechtsbrechern, die in einer Maßregel der Besserung und Sicherung eingewiesen oder aus ihr entlassen werden sollen (§§ 63, 64, 66, 67d StGB);
  • der Kriminalprognose bei langjährig untergebrachten Häftlingen, wenn z. B. eine Entlassung aus der Sicherungsverwahrung, aus lebenslanger Haft oder bei bestimmten Delikten aus einer mehrjährigen Haftstrafe (§§ 57, 57a, 67d StGB) erwogen wird;
  • der Behandlung psychisch kranker Rechtsbrecher.

Grundlagen der Schuldfähigkeitsbeurteilung

Der Begriff der Schuld

Das deutsche Strafrecht beruht wesentlich auf dem individuellen Schuldprinzip, welches besagt, dass niemand für eine Tat bestraft werden darf, wenn ihn keine Schuld trifft: nulla poena sine culpa. Dieses Schuldprinzip bildet die Grundlage für die Strafbegründung, das Strafmaß sowie die Schuld-Unrechts-Kongruenz. Demzufolge darf eine Strafe nur verhängt werden, wenn dem Täter seine Tat persönlich zum Vorwurf gemacht werden kann, ihn somit eine persönliche Schuld trifft. Das Schuldprinzip findet seine gesetzliche Regelung in § 46, Abs. 1, S. 1 StGB: „Die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe“. In den §§ 19 ff StGB werden Schuldunfähigkeitsgründe definiert; die verminderte Schuldfähigkeit ist in § 21 StGB beschrieben
Die Frage nach der Schuldfähigkeit hat eine Reihe von philosophischen, ethischen und juristischen Implikationen, die hier nur ansatzweise aufgezeigt werden können: Der Bundesgerichtshof hat sich in einer frühen Grundsatzentscheidung für ein relativ indeterministisches Handlungsmodell und einem an ethischen Konzepten wie Freiheit und Verantwortung orientierten Schuldbegriff ausgesprochen (BGH St 2, 194 [200]). Die Jahrtausende alte Debatte um Schuld, Freiheit und Verantwortung ist auch in den Rechtswissenschaften mit hoher Intensität, jedoch bis heute ohne abschließendes Ergebnis geführt worden. Der pragmatisch-soziale Schuldbegriff lässt die vermutlich empirisch wie normative unbeantwortbare Frage nach Determinismus und Freiheitsgraden menschlichen Verhaltens offen. Die subjektive Zurechenbarkeit normabweichenden Verhaltens wird jedoch als unverzichtbares Regulationsprinzip menschlichen Zusammenlebens betrachtet (Zusammenfassung in Rosenau 2020). Auch wenn sich Psychiatrie und in den letzten beiden Jahrzehnten die Neurowissenschaften in den Diskurs eingeschaltet und oft eine deterministische Position vertreten haben (Stompe und Schanda 2010), besitzt dieser für den psychiatrischen Sachverständigen nur begrenzte praktische Relevanz. Für diesen ist wichtig zu wissen, dass Schuldfähigkeit normativ vorausgesetzt wird, d. h. nicht begründet wird. Der Sachverständige äußert sich ausschließlich zu Symptomen und Einschränkungen, die gegebenenfalls die Schuldfähigkeit mindern oder aufheben können. Die Prüfung erfolgt stets an einzelnen, in bestimmten inneren und äußeren Situationen begangenen Handlungen.

Schuldausschließungsgründe

Es sollte dem Psychiater darüber hinaus klar sein, dass es eine ganze Reihe von Schuldausschließungsgründen gibt, beispielsweise die mangelnde Reife eines Jugendlichen (§ 3 JGG), den entschuldigende Notstand (§ 35 StGB) oder den Verbotsirrtum (§ 17 StGB). Die Schuldunfähigkeit (§ 20 StGB) ist nur einer davon.
Die Beurteilung einer möglichen Schuldunfähigkeit erfolgt zweistufig (Grundprinzip siehe Zivilrechtliche Fragestellungen bei der Begutachtung psychischer Störungen). Aufgabe des psychiatrischen Sachverständigen ist, die medizinischen und psychologischen Einbußen aufzuzeigen, welche die Schuldfähigkeit beeinflussen können. Er hat sich dabei eng an den gesetzlichen Vorgaben zu orientieren, ohne die erfahrungswissenschaftlichen Grundlagen seiner Kenntnisse zu verlassen oder gar selber rechtliche Wertungen vorzunehmen.
Eine Arbeitsgruppe beim Bundesgerichtshof bestehend aus Richtern am Bundesgerichtshof und anderen hochrangigen Strafrechtsjuristen sowie führenden forensischen Psychiatern und Psychologe hat 2005 Mindestanforderungen bei der Schuldfähigkeitsbegutachtung erarbeitet, die in verschiedenen Fachzeitschriften veröffentlicht wurden (Boetticher et al. 2005). Strafgerichte achten zunehmend darauf, dass diese Mindestanforderungen strikt eingehalten werden. Eine Folge ist, dass seitdem stetig weniger Angeklagte im Maßregelvollzug untergebracht werden, die an Persönlichkeitsstörungen und Störungen der Sexualpräferenz leiden (s. u.).

Psychopathologische Eingangsmerkmale des § 20 StGB (1. Stufe der Beurteilung der Schuldfähigkeit)

Der Gutachter muss zunächst die klinisch-psychiatrische oder psychologische Diagnose einem der vier Eingangsmerkmale des § 20 StGB zuordnen (siehe Tab. 1). Seit dem 01.01.2021 wurden endlich auch die fachlich und gesellschaftlich überholten früheren Begrifflichkeiten Schwachsinn und seelische Abartigkeit durch die medizinisch korrekten Bezeichnungen Intelligenzminderung und seelische Störung im § 20 StGB geändert.
  • Krankhafte seelische Störung
Unter dem Begriff „krankhafte seelische Störung“ werden alle Krankheiten oder Störungen zusammengefasst, bei denen nach psychiatrischer Anschauung zum Zeitpunkt der Gesetzesreform von 1975 eine organische Ursache bekannt ist oder aber eine solche Ursache vermutet wird. Hierzu gehören die körperlich begründbaren, die exogenen und die „endogenen“ Psychosen degenerative Hirnerkrankungen, Durchgangssyndrome (auch Rauschzustände), zerebrale Anfallsleiden und genetisch bedingte Erkrankungen.
Tab. 1
Hilfen bei der Subsumption psychiatrischer Diagnosen unter die Eingangsmerkmale des § 20 StGB
Juristischer Störungsbegriff
Medizinische Diagnosegruppen
Krankhafte seelische Störung
• Organische psychische Störung
• „endogene Psychosen“
Intelligenzminderung mit eindeutiger Ursache
Tiefgreifende Bewusstseinsstörung
• Affekttat
• Starke Übermüdung
Intelligenzminderung
• Intelligenzminderung ohne eindeutige organische Ursache
Schwere andere seelische Störung
• Abhängigkeitserkrankungen
• Verhaltensstörungen (Spielsucht, „Pyromanie“ etc.)
Die korrekte Anwendung dieses Tatbestandsmerkmals des § 20 StGB erfordert zudem eine quantitative Abgrenzung, um vor Gericht Bestand zu haben. Sie erfolgt mittels des Begriffes „krankhaft“. Damit wird zum einen die Analogie zur Schicksalhaftigkeit einer Krankheit, die sich der willentlichen Steuerung entzieht, nahegelegt, zum anderen soll „die weitgehende Erschütterung des Persönlichkeitsgefüges“ und die erhebliche Einschränkung des psychosozialen Funktionsniveaus (Rosenau 2020, S. 92) beschrieben werden.
  • Tiefgreifende Bewusstseinsstörung
Dieses Merkmal beschränkt sich auf Bewusstseinsveränderungen, die beim Gesunden auftreten können. Nicht mit diesem Begriff gemeint sind quantitative Bewusstseinsstörungen, wie Somnolenz, Sopor oder Koma, oder die toxisch bedingten Bewusstseinsveränderungen. Dieses Merkmal beschränkt sich auf psychische Veränderungen, die beim Gesunden in extremen emotionalen Belastungssituationen auftreten können. Sie müssen zu erheblichen Einengungen der psychischen Funktionsfähigkeit eines Menschen führen und sind in der Regel Folge von massiven Affekten wie Angst, Wut oder Verzweiflung. Eine typische Tatkonstellation ist der Angriff auf den Intimpartner nach langjähriger, konflikthaft verlaufener Beziehung. Angesichts der schwierigen Abgrenzung zu verschiedenen psychischen Störungen auf der einen, normalpsychologischen Phänomenen ohne Schuldminderung auf der anderen Seite sollte die Begutachtung forensisch erfahrenen Sachverständigen vorbehalten sein (Foerster et al. 2020).
  • Intelligenzminderung
Unter diesem Eingangsmerkmal sind alle Störungen der Intelligenz zusammengefasst, die nicht auf nachweisbaren organischen Grundlagen beruhen. Nicht darunter fallen insbesondere die demenziellen Prozesse im Alter und die genetisch bedingten Formen der Minderbegabung, sofern sie ätiologisch eindeutig zugeordnet werden können. Wenngleich eine Zuordnung zu diesem Merkmal im Regelfall erst ab einer mittelgradigen Intelligenzminderung erfolgt, hängt seine Anwendung nicht allein vom Intelligenzquotienten ab, sondern auch von der Täterpersönlichkeit, ihrer Sozialisation, vorhandenen Fähigkeiten und konkreten Einbußen und nicht zuletzt der Tatsituation. Intelligenzeinbußen führen u. U. zwar zu leichteren Verführbarkeit, verminderter Erregungskontrolle und zu unüberlegten Handlungen in komplexen Situationen. Schuldfähigkeit für einfache Tatbestände ist jedoch bei leichtgradig intelligenzgeminderten Angeklagten im Regelfall gegeben. Schließlich sind bei intelligenzgeminderten Menschen häufig auftretende psychische Störungen zu beachten (Seifert 2020).
  • Schwere andere seelische Störung
Es handelt sich um einen Sammelbegriff, unter dem alle Störungen, die nicht mit den ersten 3 Merkmalen erfasst werden können, zusammengefasst werden. Dazu gehören insbesondere Persönlichkeitsstörungen, Neurosen und sexuelle Verhaltensabweichungen, aber auch chronische Missbrauchsformen, die noch nicht zur körperlichen Abhängigkeit geführt haben. In den letzten Jahren wurden hier auch die Störungen der Impulskontrolle, z. B. das pathologische Spielen, eingeordnet. Im Allgemeinen wird darauf hingewiesen, dass die Funktionsbeeinträchtigung durch die Störung so ausgeprägt sein muss wie bei den psychotischen Erkrankungen (Herpertz und Saß 2010). Gegenüber den Eingangsmerkmalen der Krankhaften seelischen Störung und des Schwachsinns ist in einer Art Zwischenbewertungsstufe gefordert, schwerwiegende Schwierigkeiten in der Lebensführung und eine Einengung von Handlungsspielräumen zu belegen.
Es ist jedoch nicht allein das Ausmaß der Störung von Bedeutung, sondern auch die Spezifität der Störung für die inkriminierte Tat (z. B. bei sexuell devianten Tätern). Die 2005 veröffentlichten Mindestanforderungen für die Schuldfähigkeitsbegutachtung benennen Kriterien, die bei Persönlichkeitsstörungen und sexuellen Deviationen die Zuordnung zu diesem Merkmal ermöglichen und zugleich begrenzen (Boetticher et al. 2005).

Relevante psychische Funktionsbeeinträchtigungen (2. Stufe der Beurteilung der Schuldfähigkeit)

Die meisten Autoren (Schöch 2007; Rosenau 2020) sind sich darüber einig, dass die zweite Stufe der Schuldfähigkeitsbeurteilung (auch) eine normative Wertung beinhaltet. Zum einen ist es eine normative Entscheidung, bis zu welchem Ausmaß Einsicht in das Unrecht einer Handlung erwartet werden kann und bis zu welchem Grad Steuerung von einem Menschen verlangt wird, zum anderen ist es mit empirischen Methoden nicht möglich, retrospektiv eindeutige Aussagen über das Ausmaß psychischer Beeinträchtigungen zu treffen. Der Bundesgerichtshof hat in den letzten Jahren vermehrt darauf hingewiesen, dass die entscheidende Kompetenz bzw. Verantwortung dieser normativen Feststellung allein beim Gericht liegt. Der Psychiater sollte dabei Hilfestellungen anbieten, insbesondere durch eine möglichst detailliert begründete Rekonstruktion des psychopathologischen Zustands bei Begehung der Tat.
Da je nach Störungsbild und vorgeworfenem Delikt unterschiedliche Überlegungen anzustellen und Methoden zum Einsatz zu bringen sind, können hier allgemein gefasste Aussagen kaum getroffen werden. Für das Vorgehen bei konkreten Konstellationen sei daher auf einschlägige Nachschlagewerke der forensischen Psychiatrie verwiesen (Venzlaff et al. 2020; Nedopil und Müller 2017; Kröber et al. 2006–2010).
  • Einsichtsunfähigkeit
Sie besteht, wenn die kognitiven Funktionen nicht ausreichen, das Unrecht eines Handelns zu erkennen. Dies ist beispielsweise bei schwerwiegenden intellektuellen Einbußen, aber auch regelhaft bei akuten psychotischen Realitätsverkennungen der Fall. Wird die Einsichtsunfähigkeit vom Gericht festgestellt, erübrigen sich weitere Fragen, da sich eine Person, die das Unrecht eines Handelns nicht einzusehen vermag, nicht entsprechend einer Rechtseinsicht steuern kann. Sofern Einsichtsfähigkeit besteht, muss geprüft werden, ob sich der Täter entsprechend seiner Einsicht hat steuern können.
  • Steuerungsunfähigkeit
Ähnlich dem übergeordneten Thema der Schuldfähigkeit hat die Frage, was Steuerungsfähigkeit sei und unter welchen Umständen deren Einschränkung angenommen werden könne, zu einer Vielzahl von Definitionsversuchen und kontroversen Diskussionen Anlass gegeben. Kröber (2007) unterscheidet beispielsweise in seinem integrativen Modell zwischen Störungen der voluntativen Ebene (d. h. Schwierigkeiten, Straftaten hemmende Motive zur Geltung zu bringen) und der exekutiven Ebene, d. h. Störungen der Handlungsausführung.

Voraussetzungen der verminderten Schuldfähigkeit nach § 21 StGB

Die gleichen Eingangsmerkmale, die zur Schuldunfähigkeit führen, können nach § 21 StGB auch eine „verminderte Schuldfähigkeit des Täters“ bedingen. Er ist dann zwar schuldfähig und wird in aller Regel auch zu einer Strafe verurteilt. Die Strafe kann jedoch vom Gericht gemildert werden und die Voraussetzung für eine Unterbringung gem. § 63 ff StGB können erfüllt sein.

Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB

Wenn die Schuldfähigkeit aufgrund einer Erkrankung oder Störung aufgehoben oder erheblich vermindert war, hat das Gericht unter Umständen zu prüfen, ob von dem Beschuldigten aufgrund seiner Störung weitere erhebliche Delikte zu erwarten sind.
Das Gericht muss eine psychiatrische Behandlung anordnen (§ 63 StGB), wenn es davon ausgeht, dass die bisherigen und die in Zukunft befürchteten Straftaten
1.
in einem engen Zusammenhang mit der Störung stehen (Symptomcharakter des Deliktes) und
 
2.
erheblich sind (worunter u. a. Straftaten gegen Leib und Leben, aber auch schwerwiegende Vermögensdelikte zu verstehen sind).
 
Dies erfordert somit immer auch eine Prognosestellung, die einschlägige Erfahrung voraussetzt (s. u.) Die Unterbringung gem. § 63 StGB erfolgt im erkennenden Verfahren unbefristet. Im jährlichen Abstand wird Unterbringungsbedürftigkeit durch die zuständige Strafvollstreckungskammer überprüft (s. u.).

Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB

Nach § 64 StGB sollen Straftäter in einer Entziehungsanstalt untergebracht werden,
  • wenn sie aufgrund ihrer Abhängigkeit oder ihres chronischen Substanzmissbrauchs (juristisch: Hang) Delikte begangen haben,
  • erwartet wird, dass durch eine Entwöhnungsbehandlung die Besserung der Störung erreicht,
  • die Gefahr erneuter Straftaten deutlich verringert wird,
  • und eine gewisse Erfolgsaussicht der Behandlung besteht.
Die Annahme eines Hangs hängt im Gegensatz zum § 63 StGB nicht von der Annahme von Schuldunfähigkeit oder geminderter Schuldfähigkeit ab. Die Unterbringung ist im Regelfall auf 2 Jahre begrenzt. Die Unterbringung kann auch noch in der Entziehungsanstalt aufgehoben werden, wenn sich dort eine Therapie als aussichtslos erweist (§ 67d Abs. 5 StGB). Der Täter wird dann zur Verbüßung seiner (Rest-) Strafe in eine Haftanstalt überwiesen. Da in mehr als der Hälfte der Unterbringungen ein Abbruch wegen Aussichtslosigkeit erfolgt und die steigenden Unterbringungszahlen die Kapazitäten der Entziehungsanstalten seit Jahren überfordern, ist seit einigen Jahren eine intensive Reformdiskussion im Gange (Müller und Koller 2020).

Weitere strafrechtliche Rechtsgrundlagen für eine Unterbringung

Ist eine Unterbringung gem. § 63 StGB (seltener nach § 64 StGB) wahrscheinlich und erfordert es die öffentliche Sicherheit, so kann eine vorläufige Unterbringung gem. § 126a StPO im Maßregelvollzug erfolgen. Dies erfolgt, wenn der Betroffene auf die Strafverfolgungsbehörden augenscheinlich psychisch auffällig wirkt, oder dies in einem Sachverständigengutachten empfohlen wird.
Eine Unterbringung mit dem Ziele der strafrechtlichen Begutachtung kann gem. § 81a StPO in einer allgemeinpsychiatrischen oder forensischen Abteilung angeordnet werden.

Entlassung aus der Unterbringung und Führungsaufsicht

Für die Entlassung aus dem Maßregelvollzug ist nahezu ausschließlich die Beurteilung des zu erwartenden Delinquenzrisikos entscheidend. Die Entlassung aus der Unterbringung nach § 63 StGB hängt also von der Rückfallprognose ab. § 67d Abs. 2 StGB besagt, dass eine untergebrachte Person entlassen wird, wenn zu erwarten ist, dass sie sich in Freiheit ohne erhebliche Rechtsverletzungen bewegen wird.
Unter anderem durch den sogenannten Fall Mollath wurde eine intensive Diskussion zu unverhältnismäßig langen Unterbringungsdauern angestoßen, die zu einer am 08.07.2016 verabschiedeten Gesetzesreform führte (BGBl. I S. 1610). Die Schwellen der jeweiligen Verhältnismäßigkeit, wenn Unterbringungen über sechs bzw. zehn Jahre hinausgehen, wurden deutlich angehoben (§ 67d Abs. 6 StGB).
Mit der Entlassung aus dem psychiatrischen Krankenhaus und der Entziehungsanstalt tritt Führungsaufsicht ein. Die Aussetzung der Maßregel kann widerrufen werden, wenn das Risiko erheblicher weitere Straftaten konkret dargelegt wird (§ 67g StGB). In diesem Fall kann das Gericht zur Sicherung der Vollstreckung bei Gefahr im Verzug vorläufige Sicherungsmaßnahmen oder sogar einen sog. (Sicherheits-) Haftbefehl erlassen (§ 453c StPO). Eine auf maximal drei Monate befristete Wiederinvollzugsetzung der Maßregel kann erfolgen, um einen ansonsten drohenden dauerhaften Widerruf zu vermeiden (§ 67h StGB). Eine Verlängerung ist möglich, wobei die Gesamtdauer sechs Monate nicht überschreiten darf.
Nach einer Entlassung aus einer Maßregel wird vom Gericht oft eine ambulante Therapie angeordnet, für die in den letzten Jahren spezielle forensische Nachsorgeeinrichtungen aufgebaut wurden (Freese und Schmidt-Quernheim 2014). Das im März 2007 geänderte Gesetz über die Führungsaufsicht hat die Behandlung in forensischen Ambulanzen und die Zusammenarbeit mit den anderen Akteuren (§ 68a StGB) neu geregelt (Cless und Wulf 2011). Nach § 68b Abs. 1 StGB hat das Gericht die Möglichkeit für die Dauer der Führungsaufsicht konkrete Weisungen entsprechend des umfangreichen Kataloges auszusprechen. Gemäß § 68b Abs. 2 sind auch sog. konkrete Therapieanweisungen möglich. Soweit damit körperliche Eingriffe verbunden sind, stehen diese unter dem Vorbehalt der Einwilligung des Verurteilten (§ 56c Abs. 3 StGB). Der Verstoß gegen die in § 68b Abs. 1 StGB festgelegten sogenannten strafbewehrten Weisungen kann gem. § 145a StGB geahndet werden, wenn dadurch der Zweck der Maßregel gefährdet wird. Der Verstoß gegen Therapie und andere Weisungen gem. § 68b Abs. 2 ist nicht strafbewehrt, kann jedoch vollstreckungsrechtliche Konsequenzen bis hin zum Widerruf der Aussetzung (gem. § 67g StGB) nach sich ziehen.
Einweisung und Entlassung aus dem Maßregelvollzug sind von Rückfallprognosen und dem Vorhandensein eines angemessenen Risikomanagements abhängig. Die Prognosebeurteilungen sollten wegen ihrer Komplexität dem forensischen Spezialisten vorbehalten bleiben, zumal dafür nicht nur klinische, sondern auch kriminologische Kenntnisse erforderlich sind (Nedopil 2005).
Die Zahl an angeforderten Prognosebegutachtungen sind seit der Änderung des Strafrechts durch das „Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen schweren Straftaten“ (26.01.1998), den verschiedenen Novellen zur Sicherungsverwahrung sowie den bei der Unterbringung gem. § 63 StGB in kürzeren Abständen zu erfolgenden Begutachtungen durch einrichtungsexterne Sachverständige (§ 463 StPO Abs. 4) erheblich gestiegen.
Literatur
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Kröber HL (2007) Steuerungsfähigkeit und Willensfreiheit aus psychiatrischer Sicht. In: Kröber HL, Dölling D, Leygrad N, Saß H (Hrsg) Handbuch der Forensischen Psychiatrie, Bd 1. Steinkopff, Darmstadt, S 159–219CrossRef
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Müller J, Koller M (Hrsg) (2020) Reformansätze zur Unterbringung nach § 64 StGB: Der zweischneidige Erfolg der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt. Kohlhammer, Stuttgart
Nedopil N (2005) Prognosen in der forensischen Psychiatrie – ein Handbuch für die Praxis. Pabst Science Publisher, Lengerich
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Rosenau H (2020) Rechtliche Grundlagen der psychiatrischen Begutachtung. In: Venzlaff U, Foerster K, Dreßing H, Habermeyer E (Hrsg) Psychiatrische Begutachtung. Ein praktisches Handbuch für Ärzte und Juristen, 7. Aufl. Elsevier, München/Jena, S 86–150
Schöch H (2007) Die Schuldfähigkeit. In: Kröber HL, Dölling D, Leygrad N, Saß H (Hrsg) Handbuch der Forensischen Psychiatrie, Bd 2. Steinkopff, Darmstadt, S 92–159
Seifert D (2020) Begutachtung und Behandlung von Personen mit Intelligenzminderung. In: Venzlaff U, Foerster K, Dreßing H, Habermeyer E (Hrsg) Psychiatrische Begutachtung. Ein praktisches Handbuch für Ärzte und Juristen, 7. Aufl. Elsevier, München/Jena, S 298–317
Stompe T, Schanda H (Hrsg) (2010) Der freie Wille und die Schuldfähigkeit. Medizinisch wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Berlin
Venzlaff U, Foerster K, Dreßing H, Habermeyer E (Hrsg) (2020) Psychiatrische Begutachtung. Ein praktisches Handbuch für Ärzte und Juristen, 6. Aufl. Elsevier, München/Jena