Der Gutachter muss zunächst die klinisch-psychiatrische oder psychologische Diagnose einem der vier Eingangsmerkmale des § 20 StGB zuordnen (siehe Tab.
1). Seit dem 01.01.2021 wurden endlich auch die fachlich und gesellschaftlich überholten früheren Begrifflichkeiten
Schwachsinn und
seelische Abartigkeit durch die medizinisch korrekten Bezeichnungen
Intelligenzminderung und
seelische Störung im § 20 StGB geändert.
Unter dem Begriff „krankhafte seelische Störung“ werden alle Krankheiten oder Störungen zusammengefasst, bei denen nach psychiatrischer Anschauung zum Zeitpunkt der Gesetzesreform von 1975 eine organische Ursache bekannt ist oder aber eine solche Ursache vermutet wird. Hierzu gehören die körperlich begründbaren, die exogenen und die „endogenen“ Psychosen
degenerative Hirnerkrankungen, Durchgangssyndrome (auch Rauschzustände), zerebrale Anfallsleiden und genetisch bedingte Erkrankungen.
Tab. 1
Hilfen bei der Subsumption psychiatrischer Diagnosen unter die Eingangsmerkmale des § 20 StGB
Krankhafte seelische Störung | • Organische psychische Störung • „endogene Psychosen“ |
Tiefgreifende Bewusstseinsstörung | • Affekttat • Starke Übermüdung |
Intelligenzminderung | • Intelligenzminderung ohne eindeutige organische Ursache |
Schwere andere seelische Störung | • Abhängigkeitserkrankungen • Verhaltensstörungen (Spielsucht, „Pyromanie“ etc.) |
Die korrekte Anwendung dieses Tatbestandsmerkmals des § 20 StGB erfordert zudem eine quantitative Abgrenzung, um vor Gericht Bestand zu haben. Sie erfolgt mittels des Begriffes „krankhaft“. Damit wird zum einen die Analogie zur Schicksalhaftigkeit einer Krankheit, die sich der willentlichen Steuerung entzieht, nahegelegt, zum anderen soll „die weitgehende Erschütterung des Persönlichkeitsgefüges“ und die erhebliche Einschränkung des psychosozialen Funktionsniveaus (Rosenau
2020, S. 92) beschrieben werden.
Dieses Merkmal beschränkt sich auf Bewusstseinsveränderungen, die beim Gesunden auftreten können. Nicht mit diesem Begriff gemeint sind quantitative
Bewusstseinsstörungen, wie Somnolenz, Sopor oder
Koma, oder die toxisch bedingten Bewusstseinsveränderungen. Dieses Merkmal beschränkt sich auf psychische Veränderungen, die beim Gesunden in extremen emotionalen Belastungssituationen auftreten können. Sie müssen zu erheblichen Einengungen der psychischen Funktionsfähigkeit eines Menschen führen und sind in der Regel Folge von massiven Affekten
wie Angst, Wut oder Verzweiflung. Eine typische Tatkonstellation ist der Angriff auf den Intimpartner nach langjähriger, konflikthaft verlaufener Beziehung. Angesichts der schwierigen Abgrenzung zu verschiedenen
psychischen Störungen auf der einen, normalpsychologischen Phänomenen ohne Schuldminderung auf der anderen Seite sollte die Begutachtung forensisch erfahrenen Sachverständigen vorbehalten sein (Foerster et al.
2020).
Unter diesem Eingangsmerkmal sind alle Störungen der Intelligenz
zusammengefasst, die nicht auf nachweisbaren organischen Grundlagen beruhen.
Nicht darunter fallen insbesondere die demenziellen Prozesse im Alter und die genetisch bedingten Formen der Minderbegabung, sofern sie ätiologisch eindeutig zugeordnet werden können. Wenngleich eine Zuordnung zu diesem Merkmal im Regelfall erst ab einer mittelgradigen
Intelligenzminderung erfolgt, hängt seine Anwendung nicht allein vom Intelligenzquotienten ab, sondern auch von der Täterpersönlichkeit, ihrer Sozialisation, vorhandenen Fähigkeiten und konkreten Einbußen und nicht zuletzt der Tatsituation. Intelligenzeinbußen führen u. U. zwar zu leichteren Verführbarkeit, verminderter Erregungskontrolle und zu unüberlegten Handlungen in komplexen Situationen. Schuldfähigkeit für einfache Tatbestände ist jedoch bei leichtgradig intelligenzgeminderten Angeklagten im Regelfall gegeben. Schließlich sind bei intelligenzgeminderten Menschen häufig auftretende
psychische Störungen zu beachten (Seifert
2020).
Es handelt sich um einen Sammelbegriff, unter dem alle Störungen, die nicht mit den ersten 3 Merkmalen erfasst werden können, zusammengefasst werden. Dazu gehören insbesondere
Persönlichkeitsstörungen, Neurosen und sexuelle Verhaltensabweichungen
, aber auch chronische Missbrauchsformen, die noch nicht zur körperlichen Abhängigkeit geführt haben. In den letzten Jahren wurden hier auch die Störungen der Impulskontrolle, z. B. das pathologische Spielen, eingeordnet. Im Allgemeinen wird darauf hingewiesen, dass die Funktionsbeeinträchtigung durch die Störung so ausgeprägt sein muss wie bei den psychotischen Erkrankungen (Herpertz und Saß
2010). Gegenüber den Eingangsmerkmalen der
Krankhaften seelischen Störung und des
Schwachsinns ist in einer Art Zwischenbewertungsstufe gefordert, schwerwiegende Schwierigkeiten in der Lebensführung und eine Einengung von Handlungsspielräumen zu belegen.