Die Ärztliche Begutachtung
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Verfasst von:
Martin Czerny und Gerd Bönner
Publiziert am: 20.05.2022

Verletzungen von Gefäßen

Gefäßtraumata betreffen sämtliche Segmente des arteriellen Gefäßbaumes und haben je nach Ursache durchaus unterschiedliche klinische Ausprägungen von asymptomatisch bis hochdramatisch. Der Beitrag gibt einen Überblick über Ätiopathogenese, klinische Symptome, die notwendige klinische und bildgebende Diagnostik sowie die Grundzüge der Therapieoptionen vermitteln. Ferner werden gutachtliche Aspekte weiterer Beurteilungen u. a. im Hinblick auf resultierende Arbeitsfähigkeit, und Erwerbsminderung beleuchtet werden,

Kernsymptome

Bei traumatischer Eröffnung des Gefäßlumens kommt es initial immer zur Blutung. Im Allgemeinen führen Quereinrisse an Arterien eher zu geringen Blutungen, während längsverlaufende Einrisse oder Einschnitte nur selten spontan zum Stillstand kommen. Eine innere Blutung kann bereits erhebliche Ausmaße annehmen, bevor Umfangsvermehrung oder Kreislaufschock auf eine Blutung aufmerksam machen. Eventuelle Ischämiezeichen in nachgeschalteten Versorgungsgebieten treten je nach Versorgungstyp und Kollateralisation sehr unterschiedlich ausgeprägt auf.
  • An den Extremitäten kann eine schockbedingte Zentralisation zum Übersehen eines Gefäßschadens führen.
  • Ischämien des Darms werden meist erst verspätet zwischen dem 2. und 6. Tag erkannt.
  • Thrombosen als Folge stumpfer Traumata treten häufig verzögert nach einem beschwerdefreien Intervall auf. Typisch ist zum Beispiel die Thrombose der A. iliaca externa nach Schlag mit dem Motorradlenker in die Leistengegend.
  • Ein A.-ulnaris-Verschluss an der Arbeitshand als Folge des Hämmerns mit der Hohlhand tritt bei Kfz-Mechanikern, Handwerkern und ähnlichen Berufsgruppen auf. Symptomatisch wird die Erkrankung durch eine Ischämie der ulnarwärtigen Finger.
Arbeiten mit Kettensägen, Presslufthämmern oder anderen Maschinen mit einer Vibrationsfrequenz um 125 Hz können nach einem typischen beschwerdefreien Intervall und einer vasospastischen Initialphase im Sinne eines Raynaud-Phänomens zu irreversiblen akralen Durchblutungsstörungen bis hin zu Fingerkuppennekrosen führen.
Die wichtigste diagnostische Maßnahme zum Nachweis oder Ausschluss einer Gefäßverletzung ist die ausführliche Unfallanamnese.
Beim Lokalbefund weisen Blutungen, Hämatome oder freie Flüssigkeit in Hohlräumen auf Gefäßverletzungen hin. Zur Dokumentation des Schadens müssen klinische Zeichen der Ischämie wie Blässe, fehlende aktive Innervation und fehlende oder verzögerte Kapillar- bzw. Venenfüllung geprüft und erfasst werden. Die Ultraschall-Doppleruntersuchung ist durch vergleichende Messungen das sicherste und schonendste nichtinvasive Untersuchungsverfahren bei Verdacht auf eine Gefäßverletzung.
Bei jedem Verdacht auf eine Gefäßverletzung ist diese sicher auszuschließen. Hierfür ist oft eine direkte Angiografie oder – seltener – sogar eine operative Freilegung des Strömungsgebietes erforderlich. Die diagnostische Klärung muss binnen 6 h erfolgen, um Spätschäden zu vermeiden. Der Schaden eines Vibrationstraumas an den kleinen Gefäßen lässt sich mit dem elektrischen akralen Oszillogramm aufdecken.
Hinweis: Bei Zweifeln und offenen Zusammenhangsfragen ist eine Angiografie ausschlaggebend.

Ätiopathogenese

Die meisten traumatischen Gefäßschäden entstehen durch äußere Einwirkungen, können aber auch Folge therapeutischer Maßnahmen sein. Man unterscheidet stumpfe Traumen wie Stoß, Schlag und Druck von penetrierenden Verletzungen wie Schnitt, Stich oder Schuss. Blutungen oder regionale Ischämien im zugehörigen Versorgungsgebiet weisen auf Gefäßverletzungen hin, nicht selten aber erst sekundäre Veränderungen wie Thrombosen. Gelenkrepositionen, fehlerhafte Lagerungen oder unsachgemäß angelegte Tourniquets können iatrogene, behandlungsbedingte Gefäßverletzungen verursachen. Auch bei Operationen können durch Ligaturen, Anbohren bei Osteosynthesen, Hakendruck und Spickdrähte Gefäßverletzungen auftreten.
  • Nach scharfen Verletzungen kann es bei alleiniger Verletzung der äußeren Wandschichten zur Ausbildung eines Aneurysma spurium und eventuell auch zu zeitlich verzögerten Rupturen kommen. Tiefe Schädigungen durchtrennen das Gefäß teilweise oder vollständig. Bei elastischen Arterien führen Retraktion und Einrollen der Intima zu einer spontanen Blutstillung, sodass hier häufig nur kleinere Hämatome entstehen. Bei Venenverletzungen treten dagegen regelmäßig ausgedehnte Hämatome auf.
  • Stumpfe Verletzungen bewirken zunächst nur einen Einriss der Intima. Der Gefäßschlauch bleibt meist als Gesamtstruktur intakt. Je nach Ausmaß der Intimaschädigung entwickeln sich dann lokale Thrombosen oder Dissektionen der Intima mit Einblutung in die Gefäßwand.
  • Indirekte Gefäßverletzungen entstehen durch lokale Überdehnungen und das Dezelerationstrauma. Gelenkluxationen können an benachbarten Arterien zu solchen Überdehnungen mit Intimaeinriss und konsekutiver Thrombose führen. Dezelerationen können unter verschiedenen äußeren Bedingungen wie Sturz aus großer Höhe, Auffahrunfällen, Verschüttungen, Thoraxkompressionen oder -kontusionen oder Druckwellen auftreten. Bei diesen Traumen kommt es innerhalb des Gefäßschlauches zu einem Einriss der Aorta, besonders häufig im Bereich der Aorta ascendens und der absteigenden Aorta distal des Abganges der linken A. subclavia.
  • Ein Gefäßverschluss in Höhe eines Traumas ist nicht nur bei unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang auf das Vorliegen einer Unfallfolge verdächtig. Denn auch Wochen und Monate nach einer Gefäßverletzung kann es noch zu einer lokalen arteriellen Thrombose kommen.
  • Inkomplette Wandschäden am Gefäß führen gelegentlich zur Ausbildung von Aneurysmen, so auch an operativ versorgten Gefäßen. Hier sind vornehmlich die Nahtstellen mit Kunststoffinterponaten betroffen.
  • Durch gleichzeitige Verletzung oder Unterbindung von Arterie und parallel verlaufender Vene können arteriovenöse Fisteln auftreten, die das Herz-Kreislauf-System entsprechend ihrem Shuntvolumen bis hin zu einer Herzinsuffizienz belasten können.
  • Arterielle Thromben infolge lokaler Intimaschädigungen können zum Ausgangspunkt einer arteriellen Embolie werden.
  • Spätfolge einer inadäquaten oder verzögerten Revaskularisation können ischämische Nervenschädigungen, Muskelnekrosen und Kontrakturen wie Volkmannsche Kontraktur,
    Pesequinovarus oder Krallenzehen sein.
  • Bei Venenverletzungen mit konsekutiven Thrombosen stehen als Spätschaden eine Lungenembolie oder ein postthrombotisches Syndrom zur Diskussion.

Therapieoptionen

Notfallmäßig kann neben einer Kompressionstherapie auch eine zeitlich begrenzte suprasystolische Abbindung der verletzten Extremität in Frage kommen. Bei der weiteren Versorgung sollte die Unterbindung des Gefäßes möglichst vermieden werden, weil die Amputationsrate immens hoch ist. Selbst die Unterbindung eines Gefäßes der doppelt angelegten Unterarm- oder Unterschenkelgefäße ist in einigen Studien mit einer fast 10 %igen Amputationsrate behaftet. Deshalb soll soweit als möglich eine Rekonstruktion des verletzten Gefäßes in Abhängigkeit von der Gesamtverletzungsschwere angestrebt werden.
In der Regel ist nach einer Gefäßrekonstruktion während der unmittelbaren postoperativen Immobilisationsphase eine Behandlung mit parenteralem Heparin unverzichtbar. Je nach Ausprägung des Traumas, des Operationsumfanges und der postoperativen Strömungsverhältnisse empfiehlt sich eventuell auch noch eine längerfristige Gabe von Antikoagulanzien.

Gutachtliche Bewertung

Der ursächliche Zusammenhang zwischen Unfall und Gefäßverletzung ist bei penetrierenden Verletzungen als auch bei stumpfen Gewalteinwirkungen leicht zu entscheiden wenn es sich um gefäßgesunde Personen handelt. Probleme können dagegen bei Menschen mit einem degenerativ vorgeschädigten Gefäßsystem entstehen. Hier sind verschiedene Faktoren bei der Beurteilung zu berücksichtigen (Tab. 1).
Tab. 1
Gesichtspunkte zum Zusammenhang zwischen Unfall und Gefäßschädigung
 
Eher für einen Zusammenhang spricht
Eher gegen einen Zusammenhang spricht
Zeitliches Auftreten
Unmittelbar mit dem Unfall (Frühsymptome)
Langes Intervall (Spätsymptomatik)
Örtliches Auftreten
Im Bereich des Traumas
Entfernt vom Bereich des Traumas
Risikofaktoren
Keine
Diabetes, Blutfette, Nikotin, Hypertonie
Vorschädigung
Keine
Arteriosklerose (Herz, Extremitäten, Gehirn)
Begleitschäden
An Nerven, Venen, Knochen
Keine Begleitschäden
Spätschäden
Eindeutige Brückensymptome
Keine oder untypische Brückensymptome
Unfallmechanismus
Geeignet (typisch)
Ungeeignet (untypisch)
Bei Schäden, die erst Tage oder Wochen nach dem Unfall in Erscheinung getreten sind, ist die Zusammenhangsfrage sehr viel schwieriger zu klären. Hier kann häufig nur noch eine histologische Untersuchung eines Gefäßresektats zur Klärung des Unfallzusammenhangs beitragen, ein Eingriff, der selten angemessen ist und meist vom Patienten aus verständlichen Gründen abgelehnt wird.
Einseitige Verschlüsse der A. carotis interna können durchaus über Jahre asymptomatisch bleiben. Wenn nach einem Unfall mit Gewalteinwirkung im Halsbereich ein Karotisverschluss nachgewiesen wird, so bedarf es deshalb zur Beantwortung der Zusammenhangsfrage weitergehender Untersuchungen. Es kommt im Wesentlichen darauf an, mittels einer differenzierten neurologischen Untersuchung und einer Duplexsonografie, alte arteriosklerotische Karotisveränderungen zu erkennen bzw. nachzuweisen und in ihrer hämodynamischen Relevanz zu bewerten.
Ein Drittel aller Patienten mit kostoklavikulärem Syndrom bemerken die Symptome erstmals im Zusammenhang mit einer Unfallschädigung. Nur in Fällen mit sofort eintretender Verschlusssymptomatik ist die Gefäßschädigung eindeutig dem Unfallereignis anzulasten. Zusätzlich sprechen für einen ursächlichen Zusammenhang weitere, erhebliche posttraumatische Schäden des zervikalen Nervenplexus und lokale Weichteilschädigungen oder Hämatome.
Nach unfallbedingter Schädigung der A. renalis kann eine kurz nach dem Unfall neu aufgetretene, häufig schlecht einstellbare renovaskuläre Hypertonie als Unfallfolge zu bewerten sein.
Die Ausbildung eines Aneurysmas der Aorta ist besonders bei älteren Patienten meist nicht im Zusammenhang mit einem Unfall zu sehen.
Problematisch ist jedoch die Bewertung einer Ruptur oder die Dissektion eines vorbestehenden Aortenaneurysmas im Zusammenhang mit einem Trauma. So können erhebliche Drucksteigerungen im Abdomen durch Sturz, Schlag oder negative Beschleunigungen (z. B. bei angelegtem Sicherheitsgurt im Auto) zu Verletzungen der Aorta führen. Wenn ein arteriosklerotisches Aneurysma rupturiert oder disseziert, so kann der Unfall immer nur Teilursache sein, da das Aneurysma als Primärschaden vorbestand. Im Rahmen von Gutachten für die gesetzliche Unfallversicherung ist in diesen Fällen zu klären, ob der Arbeitsunfall als wesentliche Teilursache und damit als ein versicherter Unfall bewertet werden kann, oder ob es sich nur um eine sogenannte Gelegenheitsursache bei nachgewiesener Vorschädigung handelte, die nicht versichert ist.
Kommt es durch ein Trauma oder therapeutische Maßnahmen zu einer messbaren Verschlechterung einer vorbestehenden arteriellen Verschlusskrankheit, so ist mit dem Unfall eine richtungsgebende Verschlimmerung der unfallunabhängigen Erkrankung anzuerkennen.
Die Zusammenhangsfrage bei Hypothenar-Hammer-Syndrom und beim Vibrationssyndrom ergibt sich entscheidend aus dem Zusammentreffen von positiver Arbeitsanamnese und typischem Krankheitsbild, allerdings erst nach Ausschluss aller differenzialdiagnostisch in Frage kommenden Ursachen für ein Raynaud-Phänomen und eine Endangiitis. In solchen Fällen kann ein Arbeitsplatzwechsel notwendig werden. Wegen der akralen Ischämie sind Arbeiten in Kälte und Nässe sowie Arbeiten mit Schlag- oder Vibrationsexposition nicht weiter zumutbar.
Der Erfolg einer arteriellen Rekonstruktion kann mit allen Methoden der angiologischen Diagnostik dokumentiert werden. Am besten haben sich in diesem Zusammenhang die Dopplerdruckmessung und die Duplexsonografie bewährt. Können dabei Durchblutungsstörungen nicht eindeutig ätiologisch zugeordnet werden, so ermöglicht die angiographisch dargestellte Gefäßmorphologie die Unterscheidung zwischen traumatischen und degenerativen Veränderungen.
Arbeitsunfähigkeit und Erwerbsminderung in der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung
Die Belastbarkeit nach Gefäßverletzungen hängt im Wesentlichen von der Begleitverletzung ab. Eine Gefäßnaht mit autologem Material ist nach 6 Wochen vollständig und stabil verheilt, sodass bei unkompliziertem postoperativen Verlauf spätestens zu diesem Zeitpunkt volle Belastbarkeit besteht. Nach Laparotomie ist eine volle körperliche Belastbarkeit wegen der Gefahr von Narbenbrüchen erst nach 3 Monaten gegeben. Im Allgemeinen wird man sich aber nach den Begleitumständen wie Schwellungen, Funktion und Belastbarkeit von Muskeln, Knochen und Gelenken richten müssen.
Da bei unkomplizierter Gefäßoperation die (alte) Berufstätigkeit in aller Regel wieder aufgenommen werden kann, stellt sich die Frage nach der Erwerbsminderung nur in seltenen Ausnahmefällen. In komplizierten Fällen mit zurückbleibendem Dauerschaden muss nach den allgemeinen Gesichtspunkten einer arteriellen Verschlusskrankheit beurteilt werden, ob eine teilweise oder vollständige Erwerbsminderung vorliegt.
MdE in der gesetzlichen Unfallversicherung
Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) bemisst sich nach den dauerhaft verbleibenden Funktionsstörungen, berücksichtigt aber auch zusätzliche Momente wie Nervenläsionen, Lymphödeme oder Antikoagulanzientherapien. Dem Entschädigungscharakter der Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung (Anpassung der MdE bei späterer Besserung bzw. Verschlimmerung nach § 48 SGB X) muss bei der Begutachtung durch Einsatz standardisierter Funktionstests und etwaige Nachbegutachtungen Rechnung getragen werden.
Soziales Entschädigungsrecht /Schwerbehindertenrecht (GdS/GdB)
Die Höhe des Grades des Schädiungsfolge (GdS) bzw. Grad der Behinhinderung (GdB) richtet sich nach Teil A und B der Versorgungsmedizinschen Grundsätze als Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) Ausführliche Hinweise zur Kausalitätsbeurteilung im sozialen Entschädigungsrecht finden sich in dem neuen Teil C der VersMedV, der am 20.12.2019 in Kraft getreten ist. Danach muss die angeklagte Ursache mit konkurrierenden Ursachen mindestens gleichwertig sein.