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Die Ärztliche Begutachtung
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Publiziert am: 02.06.2022

Verletzungen von Leber und Galle

Verfasst von: Markus Reiser
Die Mehrzahl der Gallenwegsverletzungen ereignet sich im Rahmen operativer Eingriffe. Als Folge können sich Gallenfisteln in die freie Bauchhöhle, den Magen-Darm-Trakt und das Bronchialsystem oder Strikturen der Gallenwege entwickeln. Bei daraus entstehenden chronischen Cholangitiden und Cholestasen ist die Entwicklung einer biliären Leberzirrhose möglich. Eine Besonderheit stellen sekundäre Schäden des Gallenwegssystems bei schwerem Schock dar. Hierzu zählen die Gallenblasennekrose („Schockgallenblase“) und posttraumatisch sekundär sklerosierende Cholangitis. Verletzungen der Leber können akut zu lebensbedrohlichen Blutungen und Schockzuständen führen. Die Bestimmung von GdB/GdS/MdE orientiert sich an sekundären Funktionsstörungen. Wegen der guten Regenerationsfähigkeit des Leberparenchyms sind anhaltende Störungen der Organfunktion nach Lebertrauma die Ausnahme.

Epidemiologie

Die Mehrzahl der Gallenwegsverletzungen werden iatrogen im Rahmen operativer Eingriffe verursacht. Mit einer Verletzungsrate von unter 0,8 % bei der Cholezystektomie sind sie auch hier die Ausnahme. Verletzungen der Gallenblase oder der Gallenwege im Rahmen eines abdominellen Traumas kommen noch seltener vor. In Europa sind stumpfe Leberverletzungen (z. B. nach Verkehrsunfall) häufiger als penetrierende Schuss- oder Stichverletzungen.

Kernsymptome

Je nach Verletzungsmuster treten abdominelle Schmerzen, Zeichen einer Peritonitis mit Abwehrspannung bis hin zum akuten Abdomen (Austritt von Galle in die Bauchhöhle) auf. Im Falle von Gangstenosen oder versehentlichem Absetzen bzw. Clippen des Gallengangs stehen Zeichen der Cholestase mit Pruritus und Ikterus im Vordergrund. Kommt es zur bakteriellen Infektion des Gallengangsystems, kann darüber hinaus Fieber bis hin zur Cholangiosepsis auftreten. Bei Lebertrauma imponieren in Abhängigkeit vom Verletzungsausmaß Schmerzen im Oberbauch und Rücken, Singultus und Luftnot bis hin zur Schocksymptomatik.

Ätiopathogenese

Die traumatische Ruptur der Gallengänge kann zum Austritt von Galle in die Bauchhöhle sowie zur entzündlichen Bildung von Fisteln in den Verdauungstrakt oder das Bronchialsystem führen. Aus einer bakteriellen Kontamination des Gallengangsystems kann eine Cholangitis und Cholangiosepsis resultieren. Entzündungen im Gallengangsystem können Stenosen mit Ausbildung einer cholestatischen Hepatopathie nach sich ziehen. Eine Besonderheit stellen sekundäre Schäden des Gallenwegsystems bei meist polytraumatisierten Patienten mit schwerem Schock dar. Hierzu zählen die Gallenblasennekrose („Schockgallenblase“) sowie die posttraumatisch sekundär sklerosierende Cholangitis (Abb. 1).
Leberverletzungen sind meist Folge eines stumpfen Bauchtraumas, seltener einer penetrierenden Stichverletzung. Insbesondere im Kindesalter sind Leberrupturen häufig mit Ab- und Einrissen der retroheaptischen Lebervenen verbunden.

Therapieoptionen

Diagnostisch und therapeutisch ist die endoskopisch retrograde Gallengangdarstellung (ERC) mit Stentimplantation und/oder Dilatation dominanter Strikturen Mittel der Wahl. Operative Rekonstruktionen sind schwierig und erfordern häufig die Anlage einer biliodigestiven Anastomose. Die klinisch und sonografisch gestellte Diagnose einer Schockgallenblase erfordert die zeitnahe Laparotomie und Cholezystektomie.
Die Therapieoptionen der sekundär sklerosierenden Cholangitis sind begrenzt. Dominante Stenosen müssen endoskopisch dilatiert und/oder gestentet werden. Die Gabe der hydrophilen Gallensäure Ursodeoxycholsäure (UDCA) erscheint grundsätzlich sinnvoll, jedoch konnte keine Senkung der Mortalität demonstriert werden. Im Vergleich zur primär sklerosierenden Cholangitis ist das Risiko für die Entwicklung cholangiozellulärer Karzinome geringer. Bei zunehmender Lebersyntheseeinschränkung oder schwerer Cholestase (Pruritus!) muss die Indikation zur Lebertransplantation geprüft werden.
Die operative Versorgung traumatischer Leberverletzungen richtet sich nach dem Ausmaß der Schädigung. Kleinere Parenchymverletzungen können übernäht werden. Ausgedehnte Parenchymläsionen mit Zerreißung größerer Blutgefäße und Gallengänge können die Resektion der betroffenen Segmente erforderlich machen. Die Regenerationsfähigkeit des gesunden Leberparenchyms ist enorm. Leberfunktion und Organgröße erreichen auch nach ausgedehnter Resektion nach wenigen Wochen nahezu normale Werte.

Gutachterliche Bewertung

Die Minderung der Erwerbsfähigkeit in der gesetzlichen Unfallversicherung (MdE) bzw. der Grad der Schädigungsfolge/Grad der Behinderung (GdS/GdB) im Sozialen Entschädigungsrecht bzw. Schwerbehindertenrecht bestimmen sich aus Art und Schwere der Sekundärschäden. Der Verlust der Gallenblase rechtfertigt für sich alleine weder die Anerkennung einer rentenberechtigten MdE noch eines GdB/GdS. Zudem folgt daraus keinen Anspruch auf eine Erwerbsminderungsrente in der gesetzlichen Rentenversicherung.
Bei chronischen oder rezidivierenden Entzündungen des Gallenwegsystems mit klinisch manifester Cholestase beträgt die MdE 40–50 % und der GdS/GdB 40–50. Bei Vorliegen einer sekundär sklerosierenden Zirrhose ist die MdE bzw. der GdB/GdS in Abhängigkeit von der Leberfunktion und den klinischen Beschwerden (z. B. Pruritus) mit 50–100 zu bewerten. In diesen Fällen kann auch ein Anspruch auf eine Erwerbsminderungsrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung vorliegen.
Wegen der guten Regenerationsfähigkeit des Leberparenchyms sind anhaltende Störungen der Organfunktion nach Lebertrauma die Ausnahme. Nach folgenlos ausgeheiltem Lebertrauma besteht daher keine MdE bzw. kein GdB/GdB. Bei Komplikationen mit dauerhaftem Organschaden richtet sich die MdE bzw. der GdS/GdB nach den verbliebenen Funktionseinbußen. Als Orientierung kann die Bewertung bei chronischer Virushepatitis vergleichend herangezogen werden.
Literatur
Emara MH, Ali RF, Mahmoud R, Mohamed SY (2021) Postcholecystectomy biliary injuries: frequency, and role of early versus late endoscopic retrograde cholangiopancreatography. Eur J Gastroen Hepat 33(5):662–669. https://​doi.​org/​10.​1097/​MEG.​0000000000002086​
Gudnason HO, Björnsson ES (2017) Secondary sclerosing cholangitis in critically ill patients: current perspectives. Clin Exp Gastroenterol 10:105–111CrossRef
Kirstein MM, Book T, Manns MP, von Hahn T, Voigtländer T (2020) Secondary sclerosing cholangitis in critically ill patients has a poor outcome but lower tumour incidence than primary sclerosing cholangitis. United European Gastroenterol J 8:716–724CrossRef