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Die Anästhesiologie
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Publiziert am: 14.03.2018

Anästhesie bei Patienten mit Lungenerkrankungen: Grundlagen

Verfasst von: Christoph Hofer, Isabel Marcolino und Andreas Zollinger
Erkrankungen der unteren Atemwege liegen in Industrienationen im oberen Drittel der Todesursachenstatistik. Die Inzidenz chronischer Lungenerkrankungen, v. a. der chronisch obstruktiven Lungenerkrankung (COPD), nimmt – trotz erheblicher Bemühungen zur Reduktion des Nikotinkonsums – weiter zu. Zukünftig wird daher eine steigende Zahl von Patienten mit geschädigter Lunge einen chirurgischen Eingriff und damit eine Anästhesie benötigen.
Einleitung
Erkrankungen der unteren Atemwege liegen in Industrienationen im oberen Drittel der Todesursachenstatistik. Die Inzidenz chronischer Lungenerkrankungen, v. a. der chronisch obstruktiven Lungenerkrankung (COPD), nimmt – trotz erheblicher Bemühungen zur Reduktion des Nikotinkonsums – weiter zu [8, 9]. Zukünftig wird daher eine steigende Zahl von Patienten mit geschädigter Lunge einen chirurgischen Eingriff und damit eine Anästhesie benötigen.

Grundlagen

Epidemiologie

Patienten mit chronischen Lungenerkrankungen weisen ein deutlich erhöhtes Risiko für perioperative pulmonale Komplikationen auf. Die Inzidenz liegt – je nach Definition der Komplikationen bei Patienten, die sich einem nichtthoraxchirurgischen Eingriff unterziehen – zwischen 3 und 40 % [1, 5, 6].
Pulmonale Komplikationen, sind für eine erhöhte Letalität verantwortlich, erfordern oft eine intensivmedizinische Behandlung mit einer prolongierten mechanischen Beatmung, verlängern die durchschnittliche Aufenthaltsdauer im Krankenhaus und verursachen somit erhebliche zusätzliche Kosten [1].
Perioperative pulmonale Komplikationen
  • Bronchospasmus
  • Pleuraergüsse
  • Exazerbation einer vorbestehenden Lungenerkrankung bis hin zum akuten Lungenversagen.

Pulmonale Risikofaktoren

Die Identifikation und Gewichtung einzelner Risikofaktoren für pulmonale Komplikationen beim individuellen Patienten wäre sehr hilfreich. Eine zuverlässige Einschätzung ist jedoch nicht möglich, da klinische Studien in Bezug auf untersuchte Patientenkollektive und durchgeführte chirurgische Eingriffe uneinheitlich sind und die Definitionen der pulmonalen Komplikationen von Studie zu Studie variieren. Zudem sind viele dieser Komplikationen untereinander kausal verknüpft und in ihrer Bedeutung hinsichtlich Morbidität und Letalität nicht vergleichbar. Daten aus älteren Untersuchungen müssen überdies mit Vorsicht interpretiert werden: Die Weiterentwicklung der anästhesiologischen, chirurgischen und intensivmedizinischen Verfahren und Techniken dürfte Auswirkungen auf Morbidität und Letalität haben. Für eine Reihe von Risikofaktoren [6] kann aber dennoch ein eindeutiger Zusammenhang mit dem Auftreten von pulmonalen Komplikationen hergestellt werden. Vorbestehende Lungenerkrankungen, v. a. die COPD, stehen dabei im Vordergrund. Jedoch sind viele der nicht primär pulmonalen Faktoren in Kombination ebenso wichtig für das Auftreten von pulmonalen Komplikationen.
Risikofaktoren für postoperative pulmonale Komplikationen
  • Patientenbezogene Risikofaktoren
    • Vorbestehende Lungenerkrankung, vorwiegend COPD
    • Höheres Alter
    • ASA-Klassifikation >2
    • Nikotinabusus
    • Deutlich eingeschränkte funktionelle körperliche Leistung und schlechter Ernährungszustand (Albumin <35 g/l)
    • Schwere Erkrankungen oder Exazerbation chronischer Erkrankungen unmittelbar präoperativ (z. B. akutes Nierenversagen, schwerer Infekt)
  • Eingriffsbezogene Risikofaktoren
    • Anästhesieart und -dauer (z. B. langdauernde Allgemeinanästhesie)
    • Operationsart und -dauer (z. B. Thoraxeingriffe, große abdominelle Eingriffe, 2-Höhleneingriffe)
    • Notfalleingriffe

Präoperative pulmonale Abklärungen

Die klinische Beurteilung des Patienten ist der wichtigste Teil der präoperativen Abklärung. Diese umfasst:
  • detaillierte Erhebung der spezifischen Anamnese inkl. Graduierung einer bestehenden Atemnot (NYHA-Klassifikation) und der körperlichen Leistungsfähigkeit (z. B. Treppensteigen, Erfassung der sog. metabolischen Äquivalente: „MET“),
  • Erfragen von Hustenreiz, Sputumproduktion und erhöhter Körpertemperaturen,
  • sorgfältige körperliche Untersuchung.
Daneben sind nichtpulmonale Befunde von Bedeutung. Insbesondere der kardiovaskuläre Zustand des Patienten sowie der Allgemein- und Ernährungszustand sind für die Risikobeurteilung entscheidend [2].
Thoraxröntgenbilder und computertomographische Untersuchungen sind bei klinischen Hinweisen oder begründetem Verdacht auf eine Lungenerkrankung indiziert, wenn eine klinische Verdachtsdiagnose ein verändertes perioperatives Vorgehen impliziert (z. B. Pleuraerguss, Atelektase, Pneumonie). Der Einsatz bildgebender Verfahren als Routinescreening ist jedoch mit Sicherheit nicht gerechtfertigt [1].
Gezielt müssen auch die verschiedenen Methoden der Lungenfunktionsmessung (Kap. Anästhesiologische Beurteilung des Patienten: Respiratorisches System) sowie Untersuchungen zur Abschätzung der kardiopulmonalen Reserve eines Patienten (z. B. der 6- oder 12-min-Gehtest, Laufbanduntersuchungen, Fahrradspiroergometrie mit Bestimmung des maximalen O2-Verbrauchs) oder die Ventilations-Perfusions-Szintigraphie eingesetzt werden. Sie können im Einzelfall wichtige Hinweise auf spezifische, perioperativ zu erwartende Besonderheiten und Schwierigkeiten geben, mögliche therapeutische Maßnahmen indizieren und damit auch die perioperative Behandlung beeinflussen.
Die Entwicklung von pulmonalen Komplikationen ist nicht durch Befunde apparativer Untersuchungen vorhersagbar, sondern korreliert mit dem Allgemeinzustand des Patienten. Ein klar indizierter operativer Eingriff darf deshalb nicht aufgrund einer präoperativen Lungenfunktionsbestimmung alleine in Frage gestellt werden [2, 7].

Aufklärung des Patienten

Patienten mit Lungenerkrankungen sind vor einer Operation und Anästhesie speziell über das erhöhte pulmonale Risiko und die damit zusammenhängenden perioperativen Probleme und Maßnahmen aufzuklären. Wichtig sind zudem Informationen über die postoperative Behandlung im Aufwachraum oder auf der Intensivstation, insbesondere über atemtherapeutische Maßnahmen und Möglichkeiten der nicht-invasiven oder invasiven Beatmung.

Präoperative Vorbehandlung

Die präoperative Vorbehandlung des Patienten mit Lungenerkrankung muss auf die individuellen Probleme abgestimmt erfolgen. Über längere Zeit eingenommene Medikamente wie Bronchodilatatoren, Sekretolytika, topische und systemische Kortikosteroide müssen bis zur Operation weiter verabreicht werden. Chronische Dauersauerstofftherapie oder nächtliche CPAP-Behandlung werden perioperativ unverändert weiter geführt.
Die Indikationen für zusätzliche, neue Behandlungen vor einer Operation sind streng zu stellen (z. B. Behandlung einer infektexazerbierten COPD mit Antibiotika und systemischen Steroiden). Führt eine solche Therapie zur Verschiebung des Eingriffs, muss der potenzielle Nutzen klar ersichtlich sein. Die Dringlichkeit der Operation, z. B. bei Malignomverdacht, ist zu berücksichtigen.
Das präoperative Zeitfenster für eine sinnvolle Nikotinabstinenz wird kontrovers beurteilt [1]. Bei herzchirurgischen Patienten fand sich eine signifikante Abnahme von postoperativen pulmonalen Komplikationen frühestens 8 Wochen nach Rauchstopp. Dennoch wird immer häufiger mit Nachdruck das Einstellen des Rauchens vor jedem elektiven Eingriff gefordert, da die Funktionsstörungen der Sekretelimination und der O2-Versorgung des Körpers unterschiedlich schnell abklingen (Tab. 1) [4].
Tab. 1
Normalisierung der Organfunktion nach Beginn der Rauchkarenz
Effekt
Erholungszeitraum
Nikotinelimination
2–5 Stunden
CO-Elimination
12–48 Stunden
Bronchialtonus vermindert
20 Minuten
Zilienfunktion verbessert
Stunden bis Tage
Bronchoreaktivität
Tage bis 4 Wochen
Sputumverminderung
2–8 Wochen
Pulmonale Morbidität
>8 Wochen
Es ist sinnvoll, das Rauchen vor allen elektiven Eingriffen so früh wie möglich zu beenden.
Wenn genügend Zeit vor einer geplanten Operation besteht, d. h. 2–3 Wochen, kann diese zu einem intensiven Atemmuskeltraining unter physiotherapeutischer Anleitung genutzt werden. Viszeralchirurgische und herzchirurgische Studien belegen, dass durch dieses Training das Auftreten von pulmonalen Komplikationen deutlich reduziert [3].
Ein schlechter Ernährungszustand ist ein Risikofaktor für perioperative pulmonale Komplikationen. Von einer Verbesserung eines nutritiven Defizits für 1–2 Wochen vor der Operation scheinen jedoch nur Patienten zu profitieren, die sich einem thoraxchirurgischen Eingriff unterziehen müssen – nicht jedoch allgemeinchirurgische Patienten [6].
Die eigentliche medikamentöse Prämedikation des Patienten mit erhöhtem pulmonalem Risiko darf nicht schematisch erfolgen, sondern muss auf den einzelnen Patienten abgestimmt sein: Benzodiazepine und Opioide – auf der Normalstation verabreicht – können v. a. bei Patienten mit schwerer COPD zu Atemdepression und respiratorischer Insuffizienz führen. Andererseits sind gerade diese Patienten oft besonders ängstlich und angespannt.
Auf die Gabe von Sedativa oder Analgetika als Prämedikation auf der Normalstation muss im Zweifelsfall verzichtet werden. Diese können bei Bedarf bei Eintreffen des Patienten im OP durch den Anästhesisten i.v. verabreicht werden. In kritischen Fällen kann die Verabreichung von Sauerstoff vor und während des Transports in den OP erforderlich sein.
Literatur
1.
Barrera R, Shi W, Amar D et al (2005) Smoking and timing of cessation: impact on pulmonary complications after thoracotomy. Chest 127:1977–1983CrossRefPubMed
2.
Edrich T, Sadovnikoff N (2010) Anesthesia for patients with severe chronic obstructive pulmonary disease. Curr Opin Anesthesiol 23:18–24CrossRef
3.
Jaber S, Delay JM, Chanques G et al (2005) Outcomes of patients with acute respiratory failure after abdominal surgery treated with noninvasive positive pressure ventilation. Chest 128:2688–2695CrossRefPubMed
4.
Pappert D, Thomaschewski S (2008) Anaesthesie bei Lungenerkrankungen. Prävention von postoperativen pulmonalen Komplikationen. Anasthesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 43:204–212CrossRefPubMed
5.
Pedoto A, Amar D (2009) Right heart function in thoracic surgery: role of echocardiography. Curr Opin Anaesthesiol 22:44–49CrossRefPubMed
6.
Qaseem A, Snow V, Fitterman N et al (2006) Risk assessment for and strategies to reduce perioperative pulmonary complications for patients undergoing noncardiothoracic surgery: a guideline from the American College of Physicians. Ann Intern Med 144:575–580CrossRefPubMed
7.
Qaseem A, Snow V, Shekelle P et al (2007) Diagnosis and management of stable chronic obstructive pulmonary disease: a clinical practice guideline from the American College of Physicians. Ann Intern Med 147:633–638CrossRefPubMed
8.
Rabe KF, Hurd S, Anzueto A et al (2007) Global strategy for the diagnosis, management, and prevention of chronic obstructive pulmonary disease: GOLD executive summary. Am J Respir Crit Care Med 176:532–555CrossRefPubMed
9.
Sanchez PG, Kucharczuk JC, Su S et al (2010) National Emphysema Treatment Trial redux: accentuating the positive. J Thorac Cardiovasc Surg 140:564–572CrossRefPubMed