Chloridkanalmyotonien
Die Myotonia congenita präsentiert sich als autosomal dominant (Thomsen-Syndrom) oder autosomal rezessiv vererbte Form (Becker-Syndrom). Beiden Syndromen liegt eine verminderte Leitfähigkeit des Chloridkanals zu Grunde. Unter physiologischen Bedingungen stabilisiert der Chlorideinstrom nach der Depolarisation das Membranpotenzial der Muskelzelle. Der bei der Myotonia congenita reduzierte Chlorideinstrom in die Muskelzelle bewirkt eine Übererregbarkeit der Muskelfasermembran. Die typische myotone Steifigkeit nach kraftvoller Muskelkontraktion prägt das klinische Bild. Bei beiden Myotonieformen bessert sich die Steifigkeit nach einer „Aufwärmphase“. Das Thomsen-Syndrom manifestiert sich im frühen Kindesalter, wohingegen das Becker-Sydrom meist erst im Jugendalter auftritt.
Die Gabe von
Succinylcholin kann bei diesen Patienten eine Muskelrigidität hervorrufen, welche die Maskenbeatmung und Intubation erschwert. Da es sich um keine Störung der Übertragung an der neuromuskulären Endplatte handelt, können
nichtdepolarisierende Muskelrelaxanzien diese Rigidität nicht aufheben.
Cholinesterasehemmer sollten vermieden werden, da es Fallberichte gibt, in denen sie eine
Myotonie ausgelöst haben [
11]. Genotypisch besteht keine Assoziation zur
malignen Hyperthermie. In in-vitro-Untersuchungen konnte Propofol einer induzierten myotonen Reaktion, im Gegensatz zu volatilen Anästhetika, entgegenwirken [
12].
Natriumkanalmyotonien
Mutationen des Natriumkanals führen zu einer langsamen Inaktivierung des Natriumkanals. Dies verzögert die Repolarisation der Muskelmembran. Eine geringe Verzögerung der Inaktivierung zeigt sich klinisch als kälte- oder bewegungsaggravierte
Myotonie. Die sehr langsame Inaktivierung der Natriumkanäle resultiert in periodischer Schwäche [
13]. Es gibt keine Hinweise auf eine erhöhte Disposition zur
malignen Hyperthermie.
Patienten mit einer
Paramyotonia congenita (von Eulenberg
) präsentieren sich mit einer kälteinduzierten, lokalisierten, prolongierten
Myotonie und Schwäche. Im Gegensatz zu myotonen Dystrophien wird die Paramyotonia congenita durch Aktivität verstärkt. Dies gab ihr auch den Namen „paradoxe Myotonie“.
Kaliumsensitive Myotonien (Myotonia fluctuans, Myotonia permanens, azetolamidempfindliche
Myotonie) werden durch die Einnahme oder Gabe von
Kalium aggraviert. Im Gegensatz zur Paramyotona congenita verschlechtern sie sich nicht bei Kälteexposition. Im Unterschied zur hyperkaliämischen periodischen Lähmung haben diese Patienten keine signifikante Muskelschwäche.
Patienten mit einer
hyperkaliämischen periodischen Lähmung
werden oft schon im Kleinkind- oder Schulalter, gelegentlich auch erst im jungen Erwachsenenalter klinisch auffällig. Die myotonen Attacken gehen meist mit einer Erhöhung der Serumkaliumspiegels einher und dauern meist 30 Minuten bis 2 Stunden, selten bis zu 1–2 Tagen an. Sie treten bevorzugt nach Anstrengung, Stress, kaliumreicher Nahrungsaufnahme oder Verabreichung von
Kalium auf. Schlucken und Sprechen sind in der Attacke möglich. Die Atemfunktion kann beeinträchtigt sein. Durch die vermehrte renale Elimination und intrazelluläre Kaliumaufnahme ist der Serumkaliumspiegel nach einem Anfall oft erniedrigt, was Fehlinterpretationen mit der hypokaliämischen periodischen Lähmung möglich macht [
14]. Hydrochlorothiazid wird präventiv angewandt. Der Kaliumspiegel sollte dennoch 3,0 mmol/l nicht unterschreiten, der Natriumwert sollte über 135 mmol/l liegen. Neben den Lähmungen stehen bei diesen Patienten hyperkaliämische Rythmusstörungen im Vordergrund. Ein Ruhe-EKG zum Ausschluss eines
Long-QT-Syndroms und ventrikulärer Arrhythmien ist obligat. Propofol, als Natriumkanalblocker, könnte bei diesen Patienten von Vorteil sein [
15]. Myotone Kontraktionen können durch die Gabe von
Lidocain abgeschwächt werden.
Entscheidend für die Anästhesie bei Patienten mit hyperkaliämischer periodischen Lähmung ist ein präoperativ niedriger Serumkaliumspiegel, keine enterale oder parenterale Gabe von
Kalium, ausreichende Zufuhr von Kohlehydraten, Normothermie und das Vermeiden von Succinylcholin (Kaliumanstieg) [
16]. Ebenso sollte auf Cholinesteraseinhibitoren verzichtet werden. Es gibt keinen Anhalt für abnorme Sensibilität gegenüber nichtdepolarisierenden
Muskelrelaxanzien.
Die Klinik der hypokaliämischen periodischen Lähmung zeigt sich in anfallsartigen Attacken von Muskelschwäche. Der Typ 2 der hypokaliämischen periodischen Lähmung liegt eine Mutation des Natriumkanals zugrunde.
Kalziumkanalmyotonien
Genetische Grundlage der
hypokaliämischen periodischen Lähmung Typ 1 ist eine Mutation des dihydropyridinsensitiven Kalziumkanals. Mit einer Inzidenz von 1:100.000 ist die häufigste Form der periodischen Lähmung. Pathophysiologisch resultiert die Mutation in einer erhöhten Kaliumaufnahme in die Muskelzelle mit verminderter Muskelmembranerregbarkeit. Es existiert eine paralytische und eine myopathische Form. Die paralytische Form manifestiert sich als reversible schlaffe Lähmungen bis hin zu einer Para- oder Tetraparese, ohne Beteiligung der Atemmuskulatur. Die myopathische Form ist langsam progredient und fällt initial als Bewegungsintoleranz auf. Patienten haben ein erhöhtes Risiko für prä- oder postoperative Paralysen. Triggerfaktoren sind u. a.: körperliche Aktivität,
Hypothermie, Infektionen, kohlenhydratreiche Kost etc. Metabolische Veränderungen und Medikamente welche den Serumkaliumspiegel erniedrigen können eine
Myotonie hervorrufen. Eine Erhöhung des Serumkaliumspiegels kann eine Myotonie unterbrechen (2–10 g KCl p.o., evtl. 20 mval/h KCl i.v.)
Perioperativ muss der Serumkaliumspiegel engmaschig überwacht werden, Infusion von
Glukose sollte vermieden werden.
Carboanhydrasehemmer (Azetolamid) werden zur prophylaktischen Langzeittherapie eingesetzt [
17]. Eine medikamentöse Prämedikation und eine ausreichende
Schmerztherapie vermindert die Stressbelastung für den Patienten und kann einen myotonen Anfall verhindern. Bei einer postoperativen Muskelschwäche stellt die Hypokaliämie eine Differenzialdiagnose dar. Rückenmarksnahe Anästhesieverfahren können angewendet werden [
18].
Eine erhöhte Disposition zur
malignen Hyperthermie ist bei Patienten mit einer hypokaliämischen periodischen Lähmung ist nicht definitiv auszuschließen [
14,
15].