Mögliche Intentionen für derartige Untersuchungen
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Erkennen unerwarteter und unveränderbarer Bedingungen, welche die Risikoeinschätzung eines Eingriffes beeinflussen.
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Erkennen unerwarteter Bedingungen, die durch Intervention beseitigt werden können, sodass das Operationsrisiko gesenkt werden kann.
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Ausgangswerte für die Beurteilung während und nach einem Eingriff.
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Juristische Erwägung.
Der positive Vorhersagewert eines vom Referenzbereich
abweichenden Untersuchungsergebnisses, also die Wahrscheinlichkeit, dass eine Krankheit bei positivem Testausfall vorliegt, hängt entscheidend von der
Prävalenz der Krankheit in der untersuchten Population ab.
Bei einem Test
mit 95 %iger Spezifität und Sensitivität für eine bestimmte Zielerkrankung stehen bei einer
Prävalenz von 0,5 % bei 100.000 Untersuchungen 475 richtig-positiven Resultaten 4975 falsch-positive Resultate gegenüber, mithin ein positiver Vorhersagewert von nur 8,7 %. Liegt die Prävalenz dagegen bei 10 %, steigt der positive Vorhersagewert auf 67,9 %.
Mit anderen Worten: Je höher der Anteil der Erkrankten in der untersuchten Population, desto höher die Aussagekraft eines positiven Testergebnisses.
Deshalb sollte vor Einsatz möglicher Laboruntersuchungen
die
Prävalenz der gesuchten Krankheiten durch Anamnese und körperliche Untersuchung (Ausschluss offensichtlich Nichterkrankter) erhöht werden.
Falsch-positive Testergebnisse verursachen bei nichtselektiver Auswahl der Untersuchungen weiterführende invasive Diagnostik oder unnötige Therapien mit einem potenziellen Risiko für den Patienten. Bei niedriger
Prävalenz kann der Schaden durch Komplikationen invasiver
Ausschlussdiagnostik den Nutzen durch die Untersuchung überwiegen.
Andererseits können falsch-negative Testergebnisse zum Übersehen vorhandener Probleme und zu einem falschen Gefühl der Sicherheit führen.
Durch nichtidentifizierte Laboruntersuchungen
in unselektierten Populationen werden limitierte finanzielle Ressourcen verschwendet, nicht nur aufgrund des primär durchgeführten Screenings, sondern auch durch die sich anschließende
Ausschlussdiagnostik.
In einer Studie von Perez [
43] hatten von 768 Patienten mit Indikation zum Test 46,7 % (=359) auffällige Testergebnisse. Davon ergab sich bei 6,9 % (=53) ein Einfluss auf das Procedere in Form einer Verzögerung der Operation oder Einholung eines weiteren Konsils und bei 2,2 % (=17) ein potenzieller Nutzen für die Patienten durch Änderung der chirurgischen oder anästhesiologischen Technik. Bei den 2309 Patienten ohne Indikation zum Test lagen 18,5 % (=427) Ergebnisse außerhalb des Referenzbereiches, wobei 0,7 % (=15) einen Einfluss auf das Procedere und nur 0,1 % (=3) einen potenziellen Nutzen für die Patienten hatten.
Folgende Untersuchungen waren bei Patienten ohne bzw. mit stabilen Begleiterkrankungen, ohne Einfluss auf die generelle Gesundheit (ASA I und II) durchgeführt worden: Thoraxröntgen,
EKG, kleines Blutbild inkl. Thrombozytenzahl,
Differenzialblutbild,
Glukose, Retentionswerte, Transaminasen, AP und γ-GT, Serumelektrolyte, Gesamteiweiß und Eiweißelektrophorese. Ähnliche Zahlen sind von anderen Untersuchern berichtet worden [
44,
45].
Die häufig geäußerte Befürchtung, dass das Unterlassen solcher
Screeningtests bei anamnestisch und klinisch unauffälligen Patienten ein erhöhtes Haftungsrisiko durch das Übersehen pathologischer Resultate beinhaltet, ist unbegründet. Unerwartete auffällige Testergebnisse sind selten und ihre Beziehung zur perioperativen Morbidität ist meist schlecht definiert. Darüber hinaus entspricht die selektive Auswahl von Laboruntersuchungen den Empfehlungen verschiedener anerkannter Fachgesellschaften (z. B. Amerikanische Gesellschaft für Anästhesiologie und Deutsche Gesellschaften für Anästhesiologie und
Intensivmedizin, Chirurgie und Innere Medizin) und den Empfehlungen vieler Standardlehrbücher der Anästhesie und Chirurgie [
46‐
48]. Zudem werden Testergebnisse außerhalb des Referenzbereiches häufig ignoriert. Man schätzt, dass zwischen 30 % und 95 % dieser Befunde nicht auf dem Patientenbogen präoperativ erscheinen. Dieses Verhalten erscheint nur zu verständlich, da offensichtlich die Mehrzahl der Resultate von Gesunden stammt. Trotzdem ist diese Praxis vermutlich mit einem höheren Haftungsrisiko verbunden als die Entscheidung, mangels Indikation auf den Test zu verzichten.
Der Grundtenor unterschiedlicher Empfehlungen zur präoperativen Labordiagnostik ist ähnlich (Empfehlung der DGAI; Kap. „Anästhesiologische Visite“).
Empfohlen werden z. B. die Bestimmung der Hämoglobinkonzentration vor allen Eingriffen mit größerem Blutverlust und die Bestimmung der Kreatininkonzentration bei allen Patienten über 40 Jahren [
49], wobei neuere Übersichtsarbeiten auch ausschließlich durch das Patientenalter begründete Untersuchungen für nicht sinnvoll erachten [
50].
Empfohlen werden laborchemische Untersuchungen bei einem möglichen präoperativ klinisch relevanten Einfluss diagnostischer oder therapeutischer Maβnahmen (z.B.
Kalium nach Darmspülung), aufgrund der chirurgischen Indikation (Blutverlust), zur Kontrolle von Nebenwirkungen einer Arzneimitteltherapie (z. B.
Kreatinin oder Transaminasen bei
Antibiotika) und beim Vorliegen schwerer Organdysfunktionen [
50]. Selektiv nur bei Verdacht oder je nach bekannter Organdysfunktion können folgende Bestimmungen sinnvoll sein:
Hämoglobin, Leukozytenzahl, Thrombozytenzahl, Quick (INR), PTT, Serumelektrolyte und Leberenzyme [
50,
51]. Außerdem wird vor Hochrisikoeingriffen (Aorten- und große periphere arterielle Gefäßchirurgie) bei Vorliegen kardialer Risikofaktoren sowie bei Patienten mit einem
Body-Mass-Index über 30 die Bestimmung der Nüchternglukose empfohlen, da Patienten mit unerkanntem oder insuffizient therapiertem
Diabetes mellitus oder gestörter Glukosetoleranz präoperativ nicht sicher anamnestisch erkannt werden können [
50].
Die Ergebnisse einer Untersuchung sind verwendbar, sofern sie nicht älter als 4 Monate sind, das Ergebnis im Referenzbereich lag und keine aktuelle Indikation zum Test besteht. Bei Notfalleingriffen rechtfertigt die erhöhte
Prävalenz ein Screening; genauso wie bei Patienten, bei denen eine Anamnese nicht erhoben werden kann.
In der klinischen Praxis empfiehlt sich in jedem Fall, die notwendigen Rahmenbedingungen durch interdisziplinäre Absprachen zwischen operativen Disziplinen, Anästhesie und Labormedizin abzustimmen.
Unabdingbar ist auf jeden Fall eine gründliche, standardisierte Anamnese und körperliche Untersuchung des Patienten.