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Die Anästhesiologie
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Publiziert am: 27.04.2017

Postoperative Schmerztherapie: Beurteilung von subjektivem Schmerzempfinden

Verfasst von: Robert Angster
Die Einschätzung von Schmerzintensität, -lokalisation und -charakter sowie des zeitlichen Verlaufs der Schmerzsymptomatik ist eine unabdingbare Voraussetzung für die Auswahl und Dosierung geeigneter Analgetika und damit für den Erfolg einer postoperativen Schmerzbehandlung.
Einleitung
Die Einschätzung von Schmerzintensität, -lokalisation und -charakter sowie des zeitlichen Verlaufs der Schmerzsymptomatik ist eine unabdingbare Voraussetzung für die Auswahl und Dosierung geeigneter Analgetika und damit für den Erfolg einer postoperativen Schmerzbehandlung. Diese Beurteilungsparameter sollten vom Patienten regelmäßig und aktiv erfragt werden.
Diesbezüglich sowie zur Qualitätsverbesserung- bzw. -sicherung erschienen während der vergangenen Jahre auch in Deutschland zwei wichtige Veröffentlichungen:
  • S3-Leitlinie „Behandlung akuter postoperativer und posttraumatischer Schmerzen“, AWMF-Register Nr. 041/001, Stand: 21.05.2007 inkl. Änderungen vom 20.04.2009, gültig bis 01.04.2014 (diese Leitlinie wird derzeit überprüft) in http://www.leitlinien.net.
  • Expertenstandard Schmerzmanagement in der Pflege bei akuten Schmerzen, Deutsches Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege (DNQP) 2005, 1. Aktualisierung Dezember 2011 in http://www.dnqp.de.

Schmerzklassifizierung und Schmerzcharakter

Postoperative Schmerzen werden nach der Lokalisation der entsprechenden Nozizeptoren als somatische oder viszerale Schmerzen klassifiziert.
Somatische Schmerzen sind die Folge einer Erregung von Nozizeptoren der Haut, der Skelettmuskulatur, des Sehnen- und Bandapparats, der Faszien und des Periosts (kutaner und muskuloskelettaler Wundschmerz oder Schmerzen aufgrund der intraoperativen Lagerung oder postoperativen Immobilisierung).
Somatische Haut- oder Wundschmerzen sind gut lokalisierbare helle, stechende und scharfe Beschwerden. Dagegen werden Muskel-, Gelenk-, Knochen- und Weichteilschmerzen als dumpf, ziehend und bohrend beschrieben, sind in der Regel ungenau zu lokalisieren und strahlen häufig in die Umgebung aus.
Viszerale Schmerzen entstehen durch Erregung viszeraler Nozizeptoren nach Eingriffen in den Körperhöhlen bzw. an parenchymatösen und Hohlorganen. Postoperativ können Dehnung oder Entzündungsreaktionen des Gastrointestinal- bzw. Urogenitaltrakts ruhende viszerale Nozizeptoren aktivieren und so viszerale Schmerzen auch außerhalb des eigentlichen Operationsfelds auslösen. Die Schmerzcharakteristik wird als dumpf, bohrend und in der Tiefe des Körpers oft nicht genau lokalisierbar empfunden.
Infolge viszerosomatischer Reflexe kann eine schmerzhafte Erhöhung des Bauchmuskeltonus resultieren. Die Steigerung viszerosympathischer Reflexe führt zu starken, kolikartigen Attackenschmerzen. Viszerokutane Reflexe projizieren die Empfindung viszeraler Schmerzen auf die Körperoberfläche in sog. Head-Zonen. Diese entsprechen Hautarealen, die aus demselben spinalen Segment innerviert werden wie das operierte innere Organ (dermatombezogener übertragener Schmerz).
Die nach einer Durchtrennung, Kompression oder Irritation von Nervengewebe auftretenden Schmerzen werden als neuropathische Schmerzen bezeichnet. Diese können primär peripheren, zentralen oder sympathischen Ursprungs oder sekundär die Folge von Veränderungen im nozizeptiven System (zentrale Sensibilisierung) sein. Klinisch imponieren neben dem neuropathischen Attackenschmerz und der Allodynie überschießende neuronale Reaktionen (Hyperalgesie).
In Tab. 1 sind Merkmale aufgelistet, nach denen zur Eingrenzung von Schmerzlokalisation und Schmerzqualität sowie zur Identifikation schmerzverstärkender Faktoren gezielt gefragt werden sollte.
Tab. 1
Eingrenzung von Charakter und Lokalisation postoperativer Schmerzen sowie schmerzverstärkender Faktoren
Schmerzcharakter
Schmerzart
• Hell, stechend, scharf?
Somatisch
• Dumpf, ziehend, bohrend?
Viszeral
• Krampfartig?
Viszeral
• Plötzlich einschießend, elektrisierend, brennend?
Viszeral oderneuropathisch
Schmerzlokalisation
Schmerz im Bereich der Operationswunde bzw. des Operationsgebiets
• Oberflächlich und gut lokalisierbar?
Somatisch
• In der Tiefe liegend und schlecht lokalisierbar?
Viszeral
Schmerz außerhalb des Bereiches der Operationswunde oder des Operationsgebiets
Somatisch
• Muskuloskelettale Nacken-, Schulter-, Extremitäten- oder Rückenschmerzen
Somatisch oder neuropathisch als Folge intraoperativer Lagerung, postoperativer Immobilisierung oder vorbestehender chronischer Schmerzen
• Schulter-Arm-Schmerz bei kardialer Ischämie
Übertragener Schmerz
• Rückenschmerz (Lumbalgie) nach Operationen im kleinen Becken
Übertragener Schmerz
• Kompartmentsyndrom bei Ischämie einer Extremität oder des Darms
Somatisch oder viszeral
• Druckschmerz durch Gipsverbände
Somatisch
• Schmerzen nach Eingriffen oder Katheterisierung des Urogenitaltrakts (Blasendauerkatheter, Uretherschienung, Blasenspülung)
Viszeral
Schmerzverstärkende Faktoren
• Tiefe Inspiration, Abhusten, Atemtherapie
• Physikalisch-therapeutische Maßnahmen
• Mobilisierung, Lagerung, Betten
• Wechsel von Verbänden, Entfernen von Dränagen

Schmerzintensität

Das individuelle Schmerzerleben ist immer subjektiv. Die Fremdbeurteilung der Schmerzstärke durch Außenstehende weist eine erhebliche Diskrepanz zur Selbstbeurteilung durch den Patienten auf und gilt deswegen als nicht verlässlich und nachrangig. Prinzipiell besteht wie bei anderen Sinnesmodalitäten primär eine Beziehung zwischen der Stärke des auslösenden Stimulus und der Intensität der hervorgerufenen Schmerzempfindung. Klinisch kann jedoch weder die Reizstärke bzw. die Aktivität der Nozizeptoren gemessen noch die Intensität der subjektiven Schmerzempfindung bzw. -wahrnehmung des einzelnen Patienten objektiv bestimmt werden, da das Schmerzerlebnis sehr stark von äußeren und inneren Faktoren beeinflusst wird.
Die einzige reliable Möglichkeit zur Erfassung der Schmerzintensität ist die Selbstbeurteilung des Patienten. Dazu muss der Patient aktiv nach seiner Schmerzempfindung befragt werden und die Schmerzstärke auf einer Schätzskala (Analogskala) angeben.
Die Erfassung der Schmerzintensität in Kategorien numerischer oder verbaler Einstufungen ist unumgänglich. Ohne diese Quantifizierung ist eine effiziente Schmerztherapie (Dosisfindung) unmöglich.
Pflegekräfte und Ärzte müssen lernen, mit Analogskalen für Schmerz umzugehen und die vom Patienten angegebenen Schätzwerte gleichrangig mit den üblicherweise erhobenen Routineparametern (Herzfrequenz, Blutdruck, Atemfrequenz) in die Krankenakte einzutragen. Nur dadurch gelingt eine gezielte Anpassung der Schmerztherapie durch Auswahl der richtigen Analgetika bzw. deren Kombination in der erforderlichen Dosierung.
Es darf nicht darauf gewartet werden, bis sich der Patient der Schmerzen wegen meldet und zur „Akutbehandlung“ jeder einzelnen Schmerzattacke eine Bedarfsmedikation erhält.
Noch immer ist unter Patienten die Vorstellung weit verbreitet, dass starke Schmerzen zum normalen Verlauf nach einer Operation gehören, ertragen werden sollten und auch ohne Behandlung wieder verschwinden werden. Deswegen muss der Patient bereits präoperativ entsprechend aufgeklärt und postoperativ immer wieder ermuntert werden, auch während einer kontinuierlichen postoperativen Schmerztherapie Durchbruchschmerzen zu melden und behandeln zu lassen.
Cave
Vegetative Schmerzreaktionen (arterielle Hypertension, Tachykardie, Schweißausbruch, Unruhe) spiegeln die Schmerzintensität unzuverlässig wider und eignen sich daher zur Bewertung nur sehr bedingt.
Zur Erfassung der Schmerzintensität haben sich Analogskalen im klinischen Alltag bewährt. Dabei wird die Schmerzstärke mit Zahlen oder Symbolen korreliert (Abb. 1).
Vigilante Patienten akzeptieren gerne visuelle Analogskalen. Diese können stufenlose Farbkodierungen entsprechend der Schmerzintensität enthalten oder als sog. numerische Ratingskala (NRS) die Schmerzintensität mit einer 10-Punkte-Skala assoziieren. Dabei wird der Patient aufgefordert, der aktuellen Schmerzintensität eine Ziffer zwischen den Eckwerten 0 = kein Schmerz und 10 = maximal vorstellbarer Schmerz zuzuordnen. Visuelle Analogskalen (VAS), verbale Ratingskalen (VRS), non-verbale und numerische Ratingskalen korrelieren miteinander und sind in ihrem Informationsgehalt austauschbar. Deswegen spielt es keine Rolle, welche verwendet wird. In jedem Fall sollte jedoch eine der genannten Skalen vor Einleitung der Schmerztherapie, während der Dosisfindungsphase (Titration der Dosis gegen die Schmerzintensität) und zur Qualitätskontrolle angewendet werden. Es empfiehlt sich, den Patienten bereits während des Prämedikationsgesprächs mit einer der genannten Skalen zur Selbsteinschätzung der Schmerzintensität vertraut zu machen.
Darüber hinaus stehen spezielle Erfassungs- und Dokumentationsinstrumente zur Verfügung, z. B.
  • Richmond Agitation Sedation Scale (RASS), Behavioral Pain Scale (BPS) oder Ramsay Score für Patienten unter intensivmedizinischer Behandlung mit Analogsedierung,
  • Beurteilung von Schmerz bei Demenz Skala (BESDS), der deutschen Version der Pain Assessment in Advanced Dementia Scale (PAINADS) für demenzkranke Patienten,
  • Kindliche Unbehagens- und Schmerz-Skala (KUSS) und Faces Pain Scale (Smiley Skala) für kranke Kinder.
Standardisierte Befragung (Wortwahl!) bei Patienten, denen die numerische Assoziation der Schmerzintensität sehr schwer fällt
  • „Schmerzfreiheit“ (VAS 0/10)
  • „Leichte“ Schmerzen (VAS 1–3/10)
  • „Mittelstarke“ Schmerzen (VAS 4–6/10)
  • „Starke“ Schmerzen (VAS 7–9/10)
  • „Stärkste vorstellbare“ Schmerzen (VAS 10/10)
Die VAS-Werte gelten nur zum Zeitpunkt der aktiven Befragung und werden so zum Ausgangspunkt für die Einleitung bzw. Anpassung der Schmerztherapie. Erfahrungsgemäß streben die meisten Patienten keine Schmerzfreiheit an, sondern sind mit einer Absenkung der Schmerzintensität auf Werte ≤ VAS 3–4/10 zufrieden.
Die Abschätzung der Schmerzintensität mittels Analogskalen ist eine wichtige Grundlage für die Auswahl von Analgetika sowie deren Dosierung. Analogskalen sind die einzige Möglichkeit, die Schmerzintensität auch während einer laufenden Therapie einzustufen und deren Wirksamkeit abzuschätzen. Der Zeitpunkt der Befragung sollte so gewählt sein, dass die Schmerzmedikation ihr Wirkmaximum erreicht hat. In jedem Falle sollte eine Schmerzintensität in Ruhe von über VAS 3/10 behandelt werden; selten verlangen Patienten erst bei höheren VAS-Werten Schmerzmittel.
Ruhe- und Belastungsschmerz
Tiefe Inspiration, Husten, Atemtherapie, Mobilisierung, Physiotherapie und weitere aktivierende Maßnahmen induzieren Schmerzen, die über das Niveau des Ruheschmerzes weit hinausgehen können. Deswegen vermeiden Patienten nicht selten schmerzhafte Bewegungen, atmen flach, verweigern die Atemgymnastik oder scheuen die Mobilisierung. Erst die Aufforderung zum Abhusten oder zur Mobilisation demaskiert die dafür unzureichende Schmerzlinderung.
Regelmäßige Schmerzmessung
  • Engmaschige Kontrolle innerhalb der ersten 24 Stunden, z. B. alle zwei Stunden nach einem größeren operativen Eingriff
  • Bei neu auftretenden Schmerzen
  • Bei an Intensität zunehmenden Schmerzen
  • Vor und 30 Minuten nach schmerzverursachenden Prozeduren
  • Vor und nach jeder Schmerzmittelgabe analog zur Wirkzeit der Analgetika, in der Regel 30 Minuten nach i.v.-Gabe bzw. 60 Minuten nach oraler Gabe
  • Mindestens alle acht Stunden
Wesentlich wichtiger als die Erfassung von Ruheschmerz ist die Erfragung der Schmerzintensität während schmerzverstärkender Belastungen. Schmerzscores unter Belastung von über VAS 5/10 auf der Analogskala sind in jedem Fall behandlungspflichtig. Nach Anpassung der Schmerztherapie müssen routinemäßig Kontrollen der Schmerzstärke erfolgen.