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Die Anästhesiologie
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Publiziert am: 16.06.2017

Zivil- und strafrechtliche Haftung des Anästhesisten

Verfasst von: E. Biermann
In den vielfältigen Beziehungen zwischen Medizin und Recht ist die Haftung des Arztes für berufliche Fehlleistungen das beherrschende Thema. Arzthaftung bedeutet die härteste Konfrontation des Arztes mit dem Recht. Da es keine Medizin ohne das Risiko des Misserfolgs gibt, der schwere Gesundheitsschäden und selbst den Tod des Patienten zur Folge haben kann, stellt sich die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen der Arzt für iatrogene Schäden einzustehen hat.

Medizin und Recht

In den vielfältigen Beziehungen zwischen Medizin und Recht ist die Haftung des Arztes für berufliche Fehlleistungen das beherrschende Thema. Arzthaftung bedeutet die härteste Konfrontation des Arztes mit dem Recht. Diese Konfrontation ist unausweichlich: Aufgabe des Arztes ist es, zu heilen und zu helfen. Aber es gibt keine Medizin ohne das Risiko des Misserfolgs, der schwere Gesundheitsschäden und selbst den Tod des Patienten zur Folge haben kann. Damit stellt sich die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen der Arzt für iatrogene Schäden einzustehen hat.
Leben und Gesundheit sind Rechts- und Verfassungsgüter höchsten Ranges. Artikel 1 und 2 des Grundgesetzes verpflichten Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung zu ihrem Schutz. Da selbst kleine Fehlleistungen deletäre Konsequenzen haben können, stellen Gesetzgebung und Rechtsprechung zu Recht hohe Anforderungen an die Qualität ärztlicher Leistungen und an die Sorgfalt des Arztes.
Geschützt wird durch Artikel 2 des Grundgesetzes auch das Recht des Patienten, sich in freier Selbstbestimmung für oder gegen eine ärztliche Behandlung mit Eingriffen in seine Körperintegrität zu entscheiden.

Sicherung der Qualität ärztlicher Leistungen

Prävention

Das Recht nimmt Einfluss auf die Qualität ärztlicher Leistungen primär mit dem Ziel, Fehlleistungen mit den vielfältigen Mitteln der Prävention zu verhindern. Die Sicherung eines hohen Leistungsstandards auf breiter Basis beginnt mit der gesetzlichen Regelung der ärztlichen Berufsausbildung und der Berufszulassung (Approbation) in der Bundesärzteordnung. Sie setzt sich fort mit der Normierung der Weiterbildung und einer das gesamte Berufsleben begleitenden Fortbildung sowie mit einem Katalog spezifischer ärztlicher Berufspflichten in den Kammergesetzen der Länder und in den Berufs- und Weiterbildungsordnungen der Ärztekammern. Zunehmend legt der Gesetzgeber für risikoträchtige Spezialmaterien die Leistungs- und Sorgfaltsanforderungen, denen der Arzt zu genügen hat (z. B. beim Röntgen, der Bluttransfusion, der Organtransplantation), selbst fest und verpflichtet Krankenhausträger und Ärzte zur Teilnahme an Qualitätssicherungsmaßnahmen, die vor allem im Bereich der vertragsärztlichen Versorgung bis zur stichprobenartigen Kontrolle und Überprüfung der einzelnen ärztlichen Leistung reichen.
Qualitätssicherung ist auch die zentrale Aufgabe, der sich die wissenschaftlichen Fachgesellschaften stellen. Sie leisten mit ihren Kongressen und der Arbeit ihrer Fachgremien, insbesondere aber mit ihren Entschließungen, Empfehlungen und Leitlinien entscheidende Beiträge zur Weiterentwicklung und fachinternen Anerkennung der fachspezifischen Standards und damit auch der Facharztqualität.

Rechtliche Reaktionen auf Fehlleistungen

Im Gegensatz zur präventiven Qualitätssicherung, die Fehlleistungen verhindern soll, reagiert die Rechtsordnung mit der zivil- und strafrechtlichen Arzthaftung (retrospektiv) auf eingetretene Behandlungsmisserfolge, wenn auch mit unterschiedlichen Zielsetzungen. Bei der zivilrechtlichen Haftung geht es um den Ersatz der Schäden, die der Patient durch Fehlleistungen erlitten hat, also um einen finanziellen Ausgleich, bei der strafrechtlichen Haftung um die Bestrafung des Arztes wegen eines Körperverletzungs- oder Tötungsdelikts.
Zivil- und Strafurteile entscheiden unmittelbar nur, ob der Arzt im konkreten Fall die erforderliche Sorgfalt gewahrt hat. Jeder Arzt, der schwerwiegende und oft existenzgefährdende forensische Risiken vermeiden will, sieht sich jedoch gezwungen, die strengen Qualitäts- und Sorgfaltsanforderungen der Rechtsprechung zu erfüllen, die sie der Entscheidung der Einzelfälle zugrunde legt. Die Arzthaftung wirkt damit in hohem Maße präventiv.
Neben der straf- und zivilrechtlichen Haftung gibt es – auch wegen derselben beruflichen Fehlleistung – eine Reihe weiterer Sanktionen, vor allem berufsaufsichtliche Maßnahmen der Ärztekammern und das berufsgerichtliche Verfahren wegen Verletzung der ärztlichen Berufspflichten, kassenärztliche Disziplinarmaßnahmen und Entzug der Kassenzulassung sowie bei sehr schweren Verletzungen der Berufspflichten den Entzug der Approbation durch die zuständigen Verwaltungsbehörden.
Der Grundsatz, dass niemand wegen derselben Tat zweimal verfolgt werden darf (ne bis in idem), gilt im Strafrecht und (begrenzt) auch im Verhältnis der berufsrechtlichen zu den strafrechtlichen Sanktionen, nicht aber im Verhältnis von zivil- und strafrechtlicher Haftung.

Gesetzesrecht und Richterrecht

Während das deutsche Strafgesetzbuch (StGB) – anders als z. B. das österreichische – nach wie vor keine speziellen Bestimmungen über die Arzthaftung enthält, ist der medizinische Behandlungsvertrag nunmehr seit Februar 2013 in den §§ 630a-630h des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) gesetzlich geregelt. Die Vorschriften des BGB sowie die Straftatbestände der Körperverletzungs- und Tötungsdelikte des StGB gelten für eine unübersehbare Fülle unterschiedlicher Lebenssachverhalte. Den Zivil- und Strafgerichten blieb es deshalb vorbehalten, bei der Auslegung der gesetzlichen Bestimmungen den spezifischen Umständen und Erfordernissen der ärztlichen Behandlung in ihren Einzelfallentscheidungen Rechnung zu tragen. Sie haben anhand der Einzelfallentscheidungen Schritt für Schritt ein immer dichteres Regelwerk an Rechtsprechungsgrundsätzen entwickelt, die im Ergebnis als Richterrecht gelten.
Durch die Konkretisierung der gesetzlichen Bestimmungen wird für den Arzt in gewissem Umfang vorhersehbar und berechenbar, welchen Sorgfaltsanforderungen er bei seiner Behandlung sowie bei der Beteiligung des Patienten an den Entscheidungen über Eingriffe in die Körperintegrität genügen muss.

Beherrschbare und schicksalshafte Risiken

Die Rechtsprechung erkennt seit jeher an, dass der Arzt trotz Wahrung aller Sorgfalt wegen der Unwägbarkeiten biologischen Geschehens den Erfolg der Behandlung und ihre Risikofreiheit nicht garantieren kann. Die Medizin ist keine exakte Naturwissenschaft, sondern eine Erfahrungswissenschaft.
Der Arzt muss die schicksalshaften Risiken bei seiner Entscheidung für oder gegen den Eingriff als kontraindizierende Faktoren in die Nutzen-Risiko-Bilanz einbeziehen. Anhaltspunkte für ihre Gewichtung geben ihm die persönlichen Erfahrungen an seiner Arbeitsstätte sowie die Risikostatistiken, die freilich meist eine hohe Schwankungsbreite aufweisen und angesichts der raschen Fortschritte der Medizin bei der Reduzierung der schicksalshaften Risiken oft schon im Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung nicht mehr dem gegenwärtigen Standard entsprechen.
Die schicksalshaften Risiken sowie die sicheren oder möglichen nachteiligen Folgen ärztlicher Eingriffe trägt der Patient. Nur er kann, informiert und beraten durch den Arzt, letztlich darüber entscheiden, ob er die Risiken und nachteiligen Folgen in Abwägung gegen die Heilungschancen in Kauf nehmen will. Entscheidet er sich in Kenntnis der schicksalshaften Risiken für den Eingriff, so macht er diese damit für den Arzt zum erlaubten Risiko.
Arzthaftung ist Verschuldenshaftung. Sie beschränkt sich, wenn der Patient wirksam in die Behandlung eingewilligt hat, auf Behandlungsmisserfolge, die auf vorwerfbaren ärztlichen Fehlleistungen beruhen, also auf Risiken, die der Arzt bei Wahrung der erforderlichen Sorgfalt zu beherrschen vermochte.
Es gilt der Grundsatz: Der indizierte und lege artis durchgeführte Heileingriff, in den der Patient wirksam eingewilligt hat, bleibt rechtmäßig, auch wenn er misslingt und den Patienten schwer schädigt.

Die paradoxe Entwicklung des medizinischen und des forensischen Risikos

In den letzten Jahrzehnten hat die Medizin Fortschritte erzielt wie kaum zuvor in der gesamten Menschheitsgeschichte. Sie hat damit die Behandlungsmöglichkeiten erweitert und die medizinischen Risiken in vielen Bereichen drastisch reduziert. Im gleichen Zeitraum haben sich die forensischen Risiken – zumindest im Bereich der zivilrechtlichen Haftung – aber nahezu ebenso drastisch erhöht. Abzulesen ist dies maßstabsgerecht an der Erhöhung der Prämien für die Haftpflichtversicherung der Ärzte und Krankenhäuser.
Die Ursache für die paradoxe Entwicklung ist nicht eine arztfeindliche Einstellung der Rechtsprechung; sie ist im Schadenersatzprozess prinzipiell um den fairen Ausgleich der Interessen von Ärzten und Patienten bemüht. Geht es um die im Haftungsprozess essenzielle Frage, ob der Arzt die erforderliche Sorgfalt gewahrt hat, so stellen die Zivil- und Strafgerichte auf die in der Ärzteschaft bzw. im jeweiligen Fachgebiet allgemein oder weit überwiegend anerkannten Leistungs- und Sorgfaltsstandards ab (§ 630a Abs. 2 BGB) und messen den Arzt daran, wie sich ein erfahrener gewissenhafter Fachkollege in der gleichen konkreten Situation verhalten hätte. Den Ausschlag geben deshalb im Arzthaftungsprozess letztlich die Gutachten der Sachverständigen.
Gerade in diesem, zweifellos auch aus ärztlicher Sicht sachgerechten, ja optimalen Ausgangspunkt liegt aber der wichtigste Grund für das Ansteigen des forensischen Risikos: Parallel zur Weiterentwicklung der Medizin entwickeln sich die eigenen Qualitätsanforderungen der Ärzte und der einzelnen Fachgebiete (die fachlichen Qualitätsstandards), an denen sich der Arzt bei einem Behandlungsmisserfolg messen lassen muss.
Weitere Gründe kommen hinzu: Je erfolgreicher die Medizin wird, desto größer wird auch die Erwartungshaltung des Patienten und desto geringer seine Bereitschaft und die der Gesellschaft, Behandlungsmisserfolge als schicksalshaft hinzunehmen. Dies gilt selbst dann, wenn die Gesellschaft nicht mehr bereit oder nicht mehr im Stande ist, eine den steigenden Qualitätsanforderungen entsprechende finanzielle Ausstattung zur Verfügung zu stellen.

Haftungsrechtliche Situation des Anästhesisten

Die Anästhesie ist ein operatives querschnittsfach. Am Operationstisch gehören zu den essenziellen Aufgaben des Anästhesisten neben dem Betäubungsverfahren die Überwachung, Aufrechterhaltung und Wiederherstellung gestörter Vitalfunktionen. Der Anästhesist trägt damit einen erheblichen Teil der Verantwortung für den Operationserfolg.
Anders als die konservativen Behandlungsverfahren ist die operative Medizin eine offensive und aggressive Methode. Ihre Erfolge und Misserfolge sind zum guten Teil für den Patienten offensichtlich. Je evidenter ein Körperschaden auf der ärztlichen Behandlung beruht und damit als iatrogener Schaden zu qualifizieren ist, desto näher liegt es, dass der betroffene Patient oder im Falle seines Todes die Angehörigen Schadenersatzansprüche erheben und Strafanzeigen erstatten.
Die Entwicklung der Anästhesie und ihre Anerkennung als selbständiges Fachgebiet diente der Reduzierung des operativen Risikos. Gleichwohl gehörte das neue Fachgebiet alsbald selbst zu den Fächern mit hohem Haftungsrisiko.
Beim Blick zurück ist aus der Sicht des Fachgebiets jedoch anzuerkennen, dass die Rechtsprechung, so hart die Verurteilung den einzelnen Anästhesisten auch getroffen hat, mit ihren strengen Anforderungen an die Strukturqualität der anästhesiologischen Versorgung, vor allem in den Parallelnarkose-Urteilen, die grundlegenden Voraussetzungen für eine qualitativ und quantitativ ausreichende personelle Besetzung der anästhesiologischen Abteilungen und Kliniken geschaffen hat. Sie hat damit ganz wesentlich zur raschen Entwicklung des Fachgebiets und damit zu den Fortschritten der operativen Medizin beigetragen.