Pathophysiologie
Als Folge der Zunahme von Plasma- und
Erythrozytenvolumen resultiert in der Schwangerschaft eine Steigerung des zirkulierenden Blutvolumens um ca. 37 % (1,5–2 l).
Dieser „protektiven Hypervolämie
“, verstärkt durch die hämodynamisch relevante postpartale Umverteilung des Blutvolumens aus dem uteroplazentaren Strombett in die mütterliche Zirkulation, steht der Blutverlust unter der Geburt gegenüber. Solange die von Patientin zu Patientin unterschiedliche physiologische
Pufferkapazität ausreicht, bleibt der Zustand der Mutter kompensiert und hämodynamisch stabil, kann aber dann für den Geburtshelfer plötzlich und unerwartet in einen dekompensierten Zustand übergehen mit hämorrhagischem Schock und nachfolgender Koagulopathie. Dabei führt die Substitution großer Blutverluste mit
kristalloiden Lösungen sowie Erythrozytenkonzentraten zu einer Verdünnung mit Abfall aller
Gerinnungsfaktoren.
Eine gesunde Schwangere bleibt bis zu einem Blutverlust von 1000 ml meist klinisch unauffällig und kann sogar einen Blutverlust bis 1500 ml ohne Zeichen hämodynamischer Instabilität tolerieren. Bei einem Blutverlust >1500 ml besteht jedoch ein signifikant erhöhtes Risiko für einen schweren hämorrhagischen Schock. Entscheidend in diesem Zusammenhang ist nicht nur das Volumen des Blutverlustes, sondern auch dessen Dynamik, bedenkt man, dass ein Blutverlust von 1000–1500 ml innerhalb von 10 min nach der Geburt entstehen kann. Wegweisend ist ein Anstieg der Herzfrequenz über die physiologische Sinustachykardie hinaus (>120/min), gefolgt von einem systolischen Blutdruckabfall, der bei Unterschreiten von 90 mm Hg oder 30 % des Ausgangswertes einer Abnahme des Blutvolumens um 25–35 % entspricht. Der diastolische Blutdruck bleibt infolge Erhöhung des peripheren Gefäßwiderstandes (Vasokonstriktion) über lange Zeit konstant. Mit einer
Oligurie ist spätestens bei einem Blutverlust von 1,5–2 l zu rechnen, mit einer
Anurie ab einem Blutverlust von >2 l (Bick et al.
2006).
Klinisches Vorgehen und Diagnostik
(Übersichten bei Kadir und Davies
2013 und Lier und Rath
2011.)
Ziel des klinischen Vorgehens ist immer die
Vermeidung des Volumenmangelschock
s und einer durch Verlust und Verdünnung entstehenden
Koagulopathie durch folgende Maßnahmen (Lier und Rath
2011):
-
Rasche Diagnosestellung und
Beseitigung der Blutungsursache: Medikamentös und/oder chirurgisch: u. a. rechtzeitige Applikation von Uterotonika (
Prostaglandine) bei Uterusatonie, unverzügliche chirurgische Versorgung von geburtstraumatischen Verletzungen.
-
Logistische Maßnahmen:
-
Bei akutem Blutverlust >1–1,2 l sofort Kreuzprobe, Blutbild und Gerinnungsbasislabor, wenn verfügbar: ROTEM-Analyse (Verlaufskontrollen).
-
Kontrolle der Vitalparameter (Blutdruck, Puls, Urinausscheidung).
-
Rechtzeitig Erythrozytenkonzentrate und gefrorenes Frischplasma bestellen.
-
Antifibrinolytika (z. B. Tranexamsäure) und Fibrinogenkonzentrate im Kreißsaal bereithalten!
-
ggf. Voraussetzungen für rasche operative Intervention schaffen (manuelle Plazentalösung, Nachkürettage, Uteruskompressionsnähte, Hysterektomie).
Die Zielwerte für die Substitution von
Erythrozyten,
Thrombozyten und
Gerinnungsfaktoren bei akuter und anhaltender Blutung sind in Tab.
2 dargestellt (Lier und Rath
2011).
Tab. 2
Zielwerte für die Substitution von Erythrozyten, Thrombozyten und Gerinnungsfaktoren bei akuter und anhaltender Blutung (Lier und Rath
2011)
| Bei massiver Blutung: ca. 10 g/dl (6,2 mmol/l) | Notfall: 2–4 EK |
Thrombozytenzahl | >50 G/l bei transfusionspflichtigen Blutungen: >100 G/l | |
| >2 g/l | Fibrinogenkonzentrat 2–4 g gefrorenes Frischplasma >20–30 ml/kg KG |
Rahmenbedingungen beachten:
| Körpertemperatur >34 °C |
ionisiertes Ca2+ >0,9 mmol/l |
pH-Wert >7,2 |
Diese Transfusionsempfehlungen basieren nicht auf Studien, die bei Schwangeren mit postpartaler Blutung durchgeführt wurden. In Terminnähe liegt die Fibrinogenkonzentration mit 3,5–9,0 g/l deutlich über den Konzentrationen bei Nichtschwangeren (1,5–4,0 g/l; Szecsi et al.
2010). Ab einer Fibrinogenkonzentration von 0,75 g/l beginnt die Bildung des Blutgerinnsels und ist unter In-vitro-Bedingungen bei gesunden, nichtschwangeren Probanden bei einer Konzentration von 2–2,5 g/l optimal (Bollinger et al.
2009).
Der negative prädiktive Wert für eine schwere postpartale Blutung lag nach einer prospektiven Studie bei einer Fibrinogenkonzentration >4 g/l bei 79 %, der positive prädiktive Wert einer Fibrinogenkonzentration <2 g/l bei 100 % (Charbit et al.
2007).
Schwangere mit einer Thrombozytenzahl <100 G/l bei Kreißsaalaufnahme zeigten ebenfalls ein erhöhtes Blutungsrisiko (Simon et al.
1997).
In Ergänzung zu den globalen Gerinnungstests, die mit Ausnahme des
Fibrinogens das Ausmaß des Blutverlustes und der Gerinnungsstörung erst spät widerspiegeln (de Lloyd et al.
2011 M; Solomon et al.
2012), wird zunehmend eine neue Point-of-care-Methode für die Beurteilung der Gerinnselfestigkeit eingesetzt, die ROTEM-Analyse
, eine Weiterentwicklung der
Thrombelastographie, zu der inzwischen auch Untersuchungen bei
postpartalen Blutungen und Gerinnungsstörungen vorliegen (Huissoud et al.
2009; Solomon et al.
2012; de Lange et al.
2012).
Es wird kontinuierlich die Gerinnselfestigkeit im
Vollblut gemessen, die aus Aktivierung, Thrombinbildung, Fibrinbildung und Polymerisation sowie Thrombozytenaktivierung und Thrombozyten-Fibrin-Interaktion resultiert. Hierbei wird nicht nur ein Gesamtbild der aktuellen
Hämostase geliefert, sondern auch eine Diagnose bzw. Differenzialdiagnose der zugrundeliegenden Hämostasestörung. Hierfür stehen mehrere Testansätze zur Verfügung, welche eine Differenzialdiagnose zwischen Faktorenmangel, Fibrinpolymerisationsstörung, Heparinwirkung,
Hyperfibrinolyse und
Thrombozytopenie erlauben. Durch Verwendung von Aktivatoren kann die Messzeit im ROTEM-System reduziert werden. Bereits nach 10 min Messzeit können erste Aussagen über den vorliegenden Gerinnungsstatus getroffen werden. Konventionelle Labortests benötigen i. Allg. 30–60 min und sind daher für die rasche Diagnosestellung wenig hilfreich.
ROTEM-Messungen werden im
Vollblut vorgenommen. Dadurch wird auch der Einfluss des aktuellen
Hämatokrits in der Analyse erfasst, der bei plasmatischen Standardtests nicht berücksichtigt wird.
Die Wirkung von Thrombozytenaggregationshemmern sowie das Vorliegen eines von-Willebrand-Syndroms können hiermit allerdings nicht detektiert werden. Hierzu sind Spezialanalysen erforderlich.
Im Rahmen einer akuten massiven postpartalen Blutung können mit Hilfe der ROTEM-Analyse folgende klinisch relevante Fragestellungen beantwortet werden:
Mit der ROTEM-Analyse können die Auswirkungen der Verlust- und Verdünnungskoagulopathie gemessen sowie das Vorliegen einer
Hyperfibrinolyse als „Bed-side-Methode“ schnell erfasst werden. Dies hat unmittelbare Auswirkungen auf die Therapie der Gerinnungsstörung.
Therapie
Entscheidend für das Ausmaß der Hämostasestörung und für die Prognose ist die rechtzeitige Beseitigung der Krankheitsursache (z. B. durch Entbindung bei schwerer vorzeitiger Lösung). Bei persistierender Blutung ist wie folgt vorzugehen (Lier und Rath
2011; Rath und Lier
2013):
Adäquate Volumenzufuhr mit vorgewärmten
kristalloiden Lösungen: initial z. B. 1500 ml Ringerlaktat bei Blutverlust >1000 ml oder Zeichen der hämodynamischen Instabilität.
Ein Blutverlust von 20–30 % des Blutvolumens (≥1,2–1,5 l) erfordert die rasche Gabe von Erythrozytenkonzentraten und gefrorenem Frischplasma (FFP): >20–30 ml/kg KG, bei vital bedrohlichen Blutungen in einem Verhältnis von 1:1. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang die neue Leitlinie der
Bundesärztekammer (BÄK) für die Hämotherapie mit FFP (Heim und Hellstern
2010).
Im Notfall (fehlende
Blutgruppenbestimmung, fehlende Kreuzprobe) können 0-Rhesus-negative Erythrozytenkonzentrate und gefrorenes Frischplasma der
Blutgruppe AB gegeben werden.
Gefrorenes Frischplasma muss aufgetaut werden (Zeitverlust: 30–45 min).
Ein TRALI („transfusion related acute lung injury“ = nicht kardiales Lungenödem) kommt bei 1/2000–5000 transfundierten Einheiten FFP, insbesondere bei Schwangeren mit kardialen und hämatologischen Grunderkrankungen vor.
In der Akutsituation einer persistierenden peripartalen Blutung sollte ab einem Blutverlust von 2 l und/oder einem Fibrinogenspiegel <2 g/l unverzüglich 2–4 g Fibrinogenkonzentrat gegeben werden, ebenso, wenn trotz Anwendung von FFP bei anhaltender Blutung der Fibrinogenspiegel nicht >2 g/l angehoben oder aufrechterhalten werden kann. Besteht die Möglichkeit einer ROTEM-Analyse, so kann die Gabe von
Fibrinogen mit dieser rasch verfügbaren Methode gut gesteuert werden. Fibrinogenkonzentrat ist rasch verfügbar und applizierbar, eine Kreuzprobe oder ein Auftauen ist im Gegensatz zu FFP nicht erforderlich.
Transfusionsbedingte Komplikationen sind nicht zu befürchten; die Sicherheit von Fibrinogenkonzentrat ist infolge Virusinaktivierung hoch.
Die frühzeitige Fibrinogensubstitution führte bei schweren traumainduzierten Blutungen zu einer Verminderung des Transfusionsbedarfs und zur Senkung der Letalität (Rourke et al.
2012) und gilt heute neben der Substitution von
Erythrozyten als Behandlung der 1. Wahl bei schwerem peripartalem Blutverlust (Bell et al.
2010).
Eine
Thrombozytopenie <50 G/l und persistierende Blutungen mit Notwendigkeit zur Erythrozytensubstitution stellen eine zwingende Indikation zur Gabe von
Thrombozyten dar.
Bei Verdacht auf
Hyperfibrinolyse und ab einem Blutverlust von 800–1000 ml oder bei einer nachgewiesenen Hyperfibrinolyse (in der ROTEM-Analyse) sollte Tranexamsäure (initiale Dosierung: 25–30 mg/kg KG) langsam intravenös gegeben werden. Sofern die Blutung anhält, kann eine zweite Applikation von 1 g nach 30–60 min durchgeführt werden (Rath und Lier
2013). Tranexamsäure sollte immer vor Fibrinogenkonzentraten verabreicht werden.
Ausweislich von Beobachtungsstudien und Fallberichten konnte bei Frauen mit antepartualen und geburtstraumatisch-bedingten Blutungen sowie Plazentaimplantationsstörungen und PPH der Blutverlust durch die Gabe von Tranexamsäure signifikant gesenkt werden (Peitsidis und Kadir
2011). Die bisher einzige randomisierte kontrollierte Studie bei PPH erbrachte durch Tranexamsäure (4 g über 1 h, dann 1 g/h über 6 h) im Vergleich zu keiner Behandlung eine signifikante Reduktion des Blutverlustes in den ersten 6 h, eine kürzere Blutungsdauer, eine geringere Zahl an Patientinnen mit einem Hämoglobinabfall >4 g/dl sowie eine Senkung des Transfusionsbedarfes (Ducloy-Bouthors et al.
2011). Definitiven Aufschluss über die klinische Bedeutung von Tranexamsäure bei PPH dürfte das derzeit laufende WOMAN-Trial (World Maternal Antifibrinolytic Trial) liefern, in das weltweit insgesamt 15.000 Patientinnen mit PPH aufgenommen werden sollen (Shakur et al.
2010).
Bei massiver Blutung und nach Ausschöpfen aller chirurgischen und die
Hämostase stabilisierenden Maßnahmen sollte in Absprache mit der Anästhesie rechtzeitig die intravenöse Applikation von
rekombinantem Faktor VIIa
(rFVIIa) erwogen werden („off-label use“), möglichst vor einer geplanten Hysterektomie. rFVIIa bindet an den „tissue factor“ mit der Folge der Aktivierung von Faktor X und konsekutivem Thrombin-Burst sowie Bildung eines stabilen Fibringerinnsels mit dauerhaftem Wundverschluss.
Die empirisch ermittelte
Dosierung für rFVIIa liegt bei 70–90 μg/kg KG intravenös appliziert über 3–5 min. Sie kann bei nicht nachweisbarer klinischer Wirkung nach 20–30 min wiederholt werden. Mit einem Wirkungseintritt darf zwischen 10 und 30 min nach der Applikation gerechnet werden. Substanzspezifische Laborkontrollen sind nicht erforderlich. Die Rahmenbedingungen für die klinische Wirksamkeit von rFVIIa sind zu beachten (u. a.
Hämatokrit um 30 %, Thrombozytenzahl >50 G/l,
Fibrinogen >1,5–2 g/l).
Ausweislich von Fallserien führt die Anwendung von rFVIIa in durchschnittlich 85 % der Fälle zu einem Sistieren oder einer klinisch nachweisbaren Reduktion der Blutung, bei ca. 60 % der Patientinnen ist der Erhalt des Uterus möglich (Übersicht bei Rath
2012). Eine kritische Einzelfallanalyse aller bisher publizierten thromboembolischen Ereignisse nach Anwendung von rFVIIa bei PPH konnte keinen gesicherten Zusammenhang zwischen dessen Anwendung und einem erhöhten Thromboembolierisiko bei diesen Patientinnen aufzeigen (Rath
2012).
Eine Kontrolle der Hämostaseparameter sollte mindestens alle 4 h erfolgen, in der akuten Situation häufiger (ca. alle 30 min).
Die rasche Verfügbarkeit von Blutbild und Gerinnungslabor sowie von Erythrozytenkonzentraten und gefrorenem Frischplasma ist heute unverzichtbare Voraussetzung für jede geburtshilfliche Tätigkeit.
Schwangere mit hohem peripartalem Blutverlust, erschwerter Plazentalösung und ausgedehnten geburtstraumatischen Verletzungen sind hinsichtlich
thromboembolischer Komplikationen im Wochenbett besonders gefährdet. Bei Blutverlust >1000 ml mit chirurgischer Intervention betrug die OR 12 (3,9–36,9) (Übersicht bei Bergmann
2013). Daher empfiehlt sich nach Stabilisierung der Gerinnungssituation (
Fibrinogen >2 g/l,
Thrombozyten >100 G/l) eine physikalische und medikamentöse Thromboseprophylaxe
, möglichst mit niedermolekularem Heparin (Präparat mit Zulassung für den Hochrisikobereich, d. h. mindestens 4000 Heparineinheiten/Spritze).