Allgemeine Betrachtung
Eine Differenzierung von Müttersterbefällen ist insbesondere im Hinblick auf Vermeidbarkeit das Ziel systematischer Aufarbeitung von Entwicklungen, Häufungen aber auch Einzelfällen. Dazu bedarf es u. a. einer Kultur neutraler, Interessen-freier Analysen, die insbesondere unabhängig von juristischen Streitverfahren durchzuführen sind. Es ist mehrfach gezeigt worden, dass eine Analyse auf Basis klinischer Daten, wie sie für die
Qualitätssicherung verwendet werden, ungefähr die Hälfte der tatsächlichen Müttersterbefälle verpasst (Welsch et al.
2012). Dies hat in Deutschland insbesondere Welsch darstellen können, indem er zusätzliche Statistiken für Bayern verwendet hat. In Großbritannien bewerkstelligt dies aktuell die MBRRACE-Arbeitsgruppe (Mothers and Babies: Reducing Risks through
Audits and Confidential Enquiries across the UK), die seit vielen Jahren fest verankerte glaubwürdige Statistiken und Interpretationen sowie Handlungshinweise publiziert.
In Deutschland waren Versuche, bundesweit entsprechend Daten zu erheben bisher nicht erfolgreich, auch wenn Zwischenergebnisse sowohl der Arbeitsgruppe Müttersterbefälle (MStF) bei BQS
1 bzw. später AQUA
2 als auch die Implementierung von GerOSS
3 (German Obstetric Surveillance System) einige Hinweise bezüglich Handlungsbedarf ergeben hatten.
GerOSS war eine Parallelentwicklung zum vorbestehenden UKOSS
4 in Großbritannien und wurde zeitweilig mit den international erhobenen Daten von INOSS
5 abgeglichen.
„Die
Adipositas-Pandemie hat gezeigt, dass die Zusammenhänge zwischen medizinischer und schwangerschaftsbedingter Pathologie kompliziert sind. Adipöse Frauen haben ein erhöhtes Risiko sowohl für klassische indirekte (vor allem kardial) als auch direkte (z. B. schwere geburtshilfliche Blutungen,
Eklampsie und
Uterusruptur) mütterliche Todesursachen. In einigen Fällen ist eine morbide Adipositas nicht nur eine Begleiterscheinung, sondern die Hauptursache für den Tod von Müttern, indem ohne sie Hämorrhagie, Eklampsie oder Herztod möglicherweise nicht aufgetreten wären.“ (van den Akker et al.
2017). Besonderes Augenmerk im Hinblick auf Verbesserungen wurde in den letzten Jahren auf
Epilepsien gelegt, die insbesondere in Zusammenhang mit dem „sudden unexpected death from epilepsy“ (
SUDEP) ein identifiziertes Problem darstellen (Pennell und McElrath
2021). Daneben wurden Todesfälle nach bariatrischen Operationen analysiert und auf deren neue spezifische Problematik hingewiesen (Flükiger et al.
2021). Nicht zuletzt wurden auch Aortenrupturen
analysiert – mit und ohne
Ehlers-Danlos-Syndrom oder
Marfan-Syndrom sowie in Kombination mit
Hypertonie in der Schwangerschaft (Regitz-Zagrosek et al.
2018). Die Auswirkungen der Schwangerschaft können in diesen Fällen auch erst im Verlauf des ersten postnatalen Jahres akut werden.
Analyse in Großbritannien und internationale Aspekte
Die sehr präzise Analyse von Risikofaktoren in Großbritannien (Nair et al.
2015) ergab:
„Sechs Faktoren waren unabhängig voneinander mit mütterlichem Tod in Großbritannien assoziiert: Unzureichende Inanspruchnahme der Schwangerenvorsorge (bereinigte
Odds Ratio, aOR 15,87, 95 % CI 6,73–37,41); Substanzmissbrauch (aOR 10,16, 95 % CI 1,81–57,04); medizinische Komorbiditäten (aOR 4,82, 95 % CI 3,14–7,40); frühere Schwangerschaftsprobleme (aOR 2,21, 95 % CI 1,34–3,62); hypertensive Schwangerschaftsstörungen (aOR 2,44, 95 % CI 1,31–4,52); indische Ethnizität (aOR 2,70, 95 % CI 1,14–6,43). Das erhöhte Risiko für den Tod der Mutter konnte in 70 % (95 % CI 66–73 %) auf diese Faktoren zurückgeführt werden.“ Dieses Ergebnis ist zwar nicht verallgemeinerbar. Es bietet aber eine Grundlage dafür, sich mit den psychischen und sozialen Grundbedingungen auseinanderzusetzen, die im eigenen Lebensbereich deutlich von den britischen abweichen können.
Internationale Aspekte der Müttersterblichkeit
Die wichtigsten Probleme (Nair et al.
2017), die bei der Betreuung von Frauen, die an einer indirekten Ursache starben, festgestellt wurden, waren ungeklärte Zuständigkeit im Gesamtmanagement, Untererfassungen und Fehlklassifizierungen. Zu den Ursachen für indirekte Todesfälle gehören eine Reihe übertragbarer Krankheiten, nicht übertragbare Krankheiten und Ernährungsstörungen. Es gibt Anzeichen für eine Verlagerung der Inzidenz von direkter zu indirekter Müttersterblichkeit in vielen Ländern mit niedrigem bis mittlerem Einkommen aufgrund der Zunahme nicht übertragbarer Krankheiten bei Frauen im reproduktiven Alter. Zu den festgestellten Versorgungslücken gehören der schlechte Zugang zu Gesundheitsdiensten, der Mangel an Gesundheitsdienstleistern, Verzögerungen bei der Diagnose oder Fehldiagnosen und unzureichende Nachsorge während der postnatalen Phase.
Ungeachtet der beträchtlichen Fortschritte, die bei der Senkung der Müttersterblichkeit in vielen Ländern weltweit erzielt wurden, gibt es Hinweise auf eine stetige Zunahme der indirekten Todesfälle aufgrund vorbestehender medizinischer Erkrankungen. Dies erhöht den Bedarf an Forschung, um Erkenntnisse über die Risikofaktoren, das Management und die Ergebnisse spezifischer medizinischer Komorbiditäten während der Schwangerschaft, um eine angemessene evidenzbasierte multidisziplinäre Betreuung zu gewährleisten, vor und während der Schwangerschaft sowie bei und nach Geburt.
Die indirekten Todesfälle bei Müttern wurden auf eine Vielzahl von Faktoren des Gesundheitssystems zurückgeführt, darunter rechtzeitige angemessene Versorgung, Verfügbarkeit von Medikamenten und Kompetenz von Gesundheitsdienstleistern und multidisziplinäre interprofessionelle qualifizierte Betreuung.
Die Ursachen für indirekte Todesfälle bei Müttern sind von Land zu Land unterschiedlich.
Herzleiden und andere nicht übertragbare Krankheiten sind die Hauptursachen für indirekte Todesfälle im Vereinigten Königreich und anderen Ländern mit hohem Einkommen,
Laut OECD bestehen grobe Zusammenhänge innerhalb einzelner Länder zwischen Gesundheitsausgaben und Müttersterblichkeit über die Zeit von 1990 bis 2015. Zwischen den Ländern gibt es kein eindeutiges Bild, insbesondere kann diese positive Entwicklung im teuersten Gesundheitssystem – dem der USA – nicht gesehen werden.
Die Meldung und Identifizierung von indirekten Todesfällen bei Müttern in LMICs (Low-to-Middle-Income Country) ist wichtig, um zunächst die Risikofaktoren, das Management und die Ergebnisse medizinischer und psychischer Komorbiditäten während der Schwangerschaft zu verstehen, und dann Interventionen durch einen koordinierten und multidisziplinären Ansatz zu entwickeln. Die gemeinsamen Lücken in der Versorgung von Frauen, die im Vereinigten Königreich und in LMICs an einer indirekten Ursache starben, unabhängig davon, ob es medizinische oder psychischen Erkrankungen sind die Verzögerungen bei der Diagnose oder Fehldiagnosen und/oder unangemessenes oder unzureichendes Management während und nach der Schwangerschaft. Beide Defizite in der Behandlung sind untrennbar miteinander verbunden mit der Notwendigkeit einer koordinierten, multidisziplinären Betreuung.
Weltweit konzentriert sich der Großteil der Forschung und der Ressourcen im Bereich der Müttergesundheit auf die Senkung der Sterblichkeit und Morbidität aufgrund direkter geburtshilflicher Ursachen. Die steigenden Zahlen bei den indirekten Todesfällen zeigen jedoch, dass in den LMICs ein „geburtshilflicher Übergang“ bevorsteht, der es zwingend notwendig macht, eine Überwachung durchzuführen, um die Entwicklung der Inzidenz der indirekten Müttersterblichkeit und -morbidität aufgrund spezifischer medizinischer Ursachen zu messen. Die Entwicklung von Müttersterblichkeit zwischen 1990 und 2016 nach Ursachen zeigt, dass die größte Reduktion um mehr als die Hälfte im Bereich der Todesfälle durch Blutungen erreicht werden konnte.