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Die Geburtshilfe
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Publiziert am: 19.08.2022

Schwangere mit Querschnittlähmung

Verfasst von: Markus Schmidt und Maritta Kühnert
Durch eine verbesserte medizinische Versorgung und Betreuung hat sich die Lebensqualität und die Lebenserwartung von Frauen mit einer Querschnittlähmung deutlich erhöht. Der Wunsch nach eigenen Kindern besteht daher zunehmend bei betroffenen Frauen. In der Betreuung dieser Frauen, in die typischerweise diverse Fachdisziplinen involviert sind, tun sich jedoch Unsicherheiten auf. Der folgende Beitrag möchte einige wichtige Aspekte der interdisziplinären Betreuung prä-, peri- und postnatal aufzeigen.

Allgemeine Grundlagen

Durch eine verbesserte medizinische Versorgung und Betreuung haben sich die Lebensqualität und die Lebenserwartung von Frauen mit einer Querschnittlähmung (QSL) deutlich erhöht. Der Wunsch nach eigenen Kindern besteht daher zunehmend bei betroffenen Frauen. In der ärztlichen Betreuung tun sich jedoch Unsicherheiten auf, es besteht nur wenig Erfahrung und Publikationen zu diesem Thema sind rar. Internationale Studien beschreiben Schwangerschaftsraten von 14–18 %. Insbesondere bei Frauen mit einer erworbenen Querschnittlähmung z. B. aufgrund eines Unfalls vergehen nach dem Ereignis 5–15 Jahre, bis sich die Lebenssituation so stabilisiert hat, dass ein Kinderwunsch vorliegt. Durchschnittlich sind die Frauen bei der Geburt des ersten Kindes 2–3 Jahre älter im Vergleich zu gesunden Frauen (AWMF Leitlinie 179-002)

Präkonzeptionelle Beratung

Der präkonzeptionellen Beratung querschnittgelähmter Patientinnen kommt eine große Bedeutung zu. Typischerweise werden die Patientinnen von Spezialisten unterschiedlicher Fachdisziplinen betreut. Hierzu zählen Gynäkologen, Paraplegiologen, Neurourologen, aber auch Psychologen, Physiotherapeuten etc. Ziel der präkonzeptionellen Beratung ist es, eine möglichst stabile Situation vor einer geplanten Schwangerschaft zu erzielen. Die präkonzeptionelle Beratung sollte durch einen Gynäkologen in enger Abstimmung mit dem betreuenden Paraplegiologen erfolgen.
Die folgende Checkliste gibt einen Überblick über wichtige zu beachtende präkonzeptionelle Aspekte (AWMF Leitlinie 179-002; AWMF Leitlinie 003-001)
  • Neurologische und orthopädische Stabilität:
    Die Mobilitätseinschränkungen werden in der Schwangerschaft zunehmen. Ziel muss es daher sein, bereits vor der Schwangerschaft eine möglichst hohe neurologische und orthopädische Stabilität zu erreichen, ggf. müssen Hilfsmittel angepasst werden.
  • Überprüfung/ggf. Pausieren von Medikamenten:
    In Absprache mit dem behandelnden Paraplegiologen sollten die Medikamente auf Ihrer Eignung zur Anwendung in der Schwangerschaft überprüft und ggf. umgestellt bzw. pausiert werden.
  • Folsäuregabe:
    Zur Vermeidung von Neuralrohrdefekten sollte eine möglichst 2- bis 3-monatige präkonzeptionelle Ergänzung von 0,4 mg Folsäure/Tag erfolgen. Diese sollte bei Frauen mit einer Spina bifida oder einem Neuralrohrdefekt erhöht werden auf eine Dosierung von 4 mg Folsäure/Tag.
  • Harnblasen- und Darmmanagement:
    Bestehende neurogene Blasen- und Darmfunktionsstörungen können in einer bestehenden Schwangerschaft verändert sein und das Management muss entsprechend angepasst werden.
  • Vorhandensein von Implantaten beachten:
    Zu den Hilfsmitteln bei Frauen mit QSL zählen unter anderem Implantate zur sakralen Neuromodulation sowie zur sakralen Vorderwurzelstimulation, aber auch künstliche Blasenschließmuskeln sowie Medikamentenpumpen und ventrikuloperitoneale bzw. ventrikuloatriale Shunt-Systeme. Bei insgesamt fehlender Datenlage können diese Implantate prinzipiell weiterhin angewendet werden.
Ziel einer präkonzeptionellen Beratung ist die Erzielung einer möglichst stabilen Situation vor einer geplanten Schwangerschaft. Die neurologische und orthopädische Stabilität, die Überprüfung der Medikation, die rechtzeitige Folsäuregabe, das Harn- und Darmmanagement sowie eine Beratung über eventuell vorhandene Implantate stellen wichtige Punkte eines solchen Gesprächs dar.

Schwangerschaftsverlauf

Harnwegsinfektionen, thromboembolische Ereignisse sowie Frühgeburtsbestrebungen durch vorzeitige Wehen und/oder einen frühen vorzeitigen Blasensprung stellen die relativ häufigsten Komplikationen in der Schwangerschaft dar. Diese führen zu einer Hospitalisierungsrate in der Schwangerschaft von ca. 50 % bei den betroffenen Frauen (Bertschy et al. 2016, 2020)

Harnwegsinfektionen

Harnwegsinfektionen stellen die häufigste Komplikation in der Schwangerschaft dar. Aufgrund bestehender Blasenentleerungsstörungen besteht ein erhöhtes Risiko aszendierender Infektionen. Bei eingeschränkter Sensibilität sowie Schmerz-und Temperaturempfindung fehlen typischerweise die klassischen Symptome. Es sollen daher 4-wöchentliche Urinkontrollen inklusive einer Urinkultur nach Gewinnung von Katheterurin erfolgen sowie sonografische Untersuchungen und laborchemische Untersuchungen. Eine resistenzgerechte Antibiose sollte auch bei asymptomatischer Bakteriurie über einen Zeitraum von 7–10 Tagen erfolgen. Bei fehlender Evidenz sollte insgesamt keine Dauerprophylaxe erfolgen, lediglich bei chronisch rezidivierenden Pyelonephritiden sollte diese erwogen werden.
Harnwegsinfektionen stellen die häufigste Komplikation in der Schwangerschaft dar, die klassischen Symptome fehlen aber typischerweise

Darmmanagement

Das Darmmanagement soll aufgrund einer möglichen veränderten Stuhlkonsistenz, einer veränderten Kolontransitzeit und eingeschränkter Mobilität während der Schwangerschaft regelmäßig überprüft und angepasst werden. Gegebenenfalls ist eine Assistenz zur Durchführung des Darmmanagements zu organisieren. Zur Unterstützung der Darmfunktion sollte eine ballaststoffreiche Ernährung erfolgen, ggf. eine zusätzliche Gabe von Laktulose.

Haut

Insbesondere durch die Gewichtszunahme in der Schwangerschaft besteht eine erhöhte Prävalenz von Hautdruckstellen und Dekubiti. Eine Anpassung der Hilfsmittel, wie z. B. eine Rollstuhlverbreiterung sowie eine Anpassung des Sitzkissens und der Matratze kann erforderlich sein

Spinale Spastik

Das Wachstum des Kindes sowie intrauterine Bewegungen und Kontraktionen können eine Verschlechterung einer eventuell bestehenden spinalen Spastik bedingen. Diese lässt sich häufig durch verstärkte physikalische, physiotherapeutische und aktiv entspannende Maßnahmen ausgleichen.

Atmung

Insbesondere bei Tetraplegie und hoher Paraplegie besteht ein erhöhtes Risiko einer respiratorischen Insuffizienz, insbesondere mit steigendem Uterusfundus im 2. und 3. Trimenon. Neben Sekretolytika und Bronchodilatatoren sollten Atemtherapie sowie ggf. der Einsatz von Atemtherapiegeräten, mechanischen Abhusthilfen sowie nächtliche Maskenbeatmung frühzeitig eingesetzt werden.

Autonome Dysreflexie

Die autonome Dysreflexie stellt eine potenziell lebensbedrohliche Komplikation dar, die typischerweise bei Schwangeren mit einer Lähmungshöhe oberhalb des thorakalen Rückenmarksegmentes T6 auftreten kann. Eine Autonome Dysreflexie wird typischerweise ausgelöst durch eine Stimulation adrenerger Afferenzen, wie sie bei Wehen, Harnverhalten, Überdehnung des Darms, einer vaginalen sowie rektalen Manipulation ausgelöst werden können. Kardinalsymptome sind eine anfallsartige Erhöhung des Blutdrucks, das Auftreten von typischerweise bradykarden Herzrhythmusstörungen sowie vegetativen Begleitsymptomen wie starkes Schwitzen, starke Kopfschmerzen, eine Rötung und Überwärmung der Haut sowie Unruhe, Angst und Zittern. Das klinische Bild kann dem einer Präeklampsie ähneln. Die Therapie besteht im sofortigen Sistieren des auslösenden Reizes (z. B. gynäkologische Untersuchung) sowie einer raschen antihypertensiven Therapie mit 5–10 mg Nifedipin oral oder der Gabe von Urapidil 6,25 mg i. v. Ab Beginn der Lebensfähigkeit des Feten sollte die Blutdrucksenkung unter Cardiotokografie (CTG)-Kontrolle erfolgen. Tab. 1 gibt einen Überblick über die Differenzialdiagnose einer Autonomen Dysreflexie und Präeklampsie.
Tab. 1
Differentialdiagnose Autonome Dysreflexie und Präeklampsie
 
Autonome Dysreflexie
Präeklampsie
Lähmungshöhe
meist oberhalb des neurologischen Segmentes T6, selten darunter
unabhängig von der Lähmungshöhe
Blutdruck
anfallsweise extrem hoch
langsam kontinuierlich steigend
Herzfrequenz
meist bradykard, in der frühen Phase tachykard
meist normofrequent
Proteinurie
Nein
ja (>300 mg/24 h)
Klinik
„Flushing“, Schwitzen, Gänsehaut, pochende Kopfschmerzen, gesteigerte Reflexe
Ödeme, kontinuierlicher Kopfschmerzen, Augenflimmern, Oberbauchschmerzen, gesteigerte Reflexe
Serologische Auffälligkeiten
Untypisch
Möglich z. B. bei gleichzeitigem HELLP-Syndrom (Harnsäure↑, Transaminasen↑, Thrombozyten↓, Haptoglobin↓)
Die autonome Dysreflexie stellt eine lebensbedrohliche Komplikation dar, die mit einer anfallsartigen Erhöhung des Blutdrucks einhergeht und dem klinischen Bild einer Präeklampsie ähneln kann. Die Therapie besteht im sofortigen Sistieren des auslösenden Reizes (z. B. gynäkologische Untersuchung) sowie einer raschen antihypertensiven Therapie

Frühgeburt

Das Frühgeburtsrisiko bei Frauen mit Querschnittlähmung ist mit einer beschriebenen Frühgeburtsrate von 33–60 % signifikant erhöht (Cowley 2014; Sharpe et al. 2015). Ursächlich sind insbesondere aszendierende Infektionen z. B. durch Harnwegsinfektionen. Problematisch ist weiterhin, dass typische Symptome wie Dysurie und Flankenschmerz häufig nicht verspürt werden und eine eventuell auftretende vorzeitige Wehentätigkeit ebenfalls von den Frauen nicht erkannt wird.

Thromboseprophylaxe

Sowohl in der Schwangerschaft als auch im Wochenbett besteht ein erhöhtes Thromboserisiko. Wenngleich die Schwangerschaft einer querschnittgelähmten Frau per se keine Indikation für eine Thromboseprophylaxe darstellt, sollte bei Auftreten zusätzlicher Risikofaktoren eine Thromboseprophylaxe erfolgen. Im letzten Trimenon sowie 6 Wochen postpartal sollte aber in jedem Fall eine Thromboseprophylaxe mit einem niedermolekularen Heparin durchgeführt werden (Ghidini et al. 2008)

Entbindung

Die Querschnittlähmung stellt per se keine Indikation für eine Sectio dar. Dennoch ist die Sectioquote in diesem Kollektiv ca. doppelt so hoch, neben geplanten primären Sectiones stellt ein Geburtsstillstand die häufigste Indikation dar. Die Eröffnungsperiode bei Frauen mit QSL verläuft prinzipiell ähnlich wie die nichtquerschnittgelähmter Frauen. Die Austrittsphase stellt sich häufig protrahiert dar aufgrund einer verminderten bzw. fehlenden Kraft der willkürlich ansteuerbaren Bauch- und Beckenmuskulatur bei einer Lähmungshöhe oberhalb Th10. Dies erklärt eine erhöhte Rate operativ vaginaler Entbindungen. Eine 1:1-Betreuung durch eine Hebamme mit Erfahrung in der Betreuung querschnittgelähmter Patientinnen trägt zu einer Senkung der Sectiorate bei (Morton et al. 2013). Um das Risiko einer autonomen Dysreflexie zu verringern, sollten Frauen mit einer Lähmungshöhe oberhalb Th6 einen Periduralkatheter zur patientenkontrollierten periduralen Anästhesie erhalten. Diese Patientinnen sollten postpartal für 48 h überwacht werden, um eine eventuell auftretende autonome Dysreflexie frühzeitig zu erkennen (Robertson et al. 2020).
Wichtig
Die Querschnittlähmung stellt per se keine Indikation für eine Sectio dar.
Um das Risiko einer autonomen Dysreflexie zu verringern sollten Frauen mit einer Lähmungshöhe oberhalb Th6 einen Periduralkatheter zur patientenkontrollierten periduralen Anästhesie erhalten. Diese Patientinnen sollten postpartal für 48 h überwacht werden, um eine eventuell auftretende autonome Dysreflexie frühzeitig zu erkennen.

Versorgung im Wochenbett

In der Wochenbettbetreuung von Frauen mit Querschnittlähmung ist zu beachten, dass aufgrund eines veränderten Tonus der Bauch- und Beckenmuskulatur der Fundus uteri typischerweise tiefer palpiert wird als bei Frauen ohne QSL. Die Frauen sollten unbedingt zum Stillen motiviert werden. Dieses ist bei Lähmungshöhen unterhalb Th5 typischerweise problemlos möglich, oberhalb von Th5 kann eine eingeschränkte Sensorik der Mamillen mit einer eventuell verminderten Milchbildung resultieren (Sterling et al. 2013).
Die Geburt eines Kindes sowie die Erfüllung des ersehnten Kinderwunsches ist insbesondere für Frauen mit einer Querschnittlähmung ein überwältigendes Ereignis. Die Betreuung einer Frau mit Querschnittlähmung in der Schwangerschaft sowie unter der Geburt stellt eine interdisziplinäre Herausforderung für Ärzte und Hebammen dar (Schmidt et al. 2020).
Literatur
AWMF Leitlinie 003-001 Prophylaxe der venösen Thromboembolie. http://​www.​awmf.​org/​leitlinien/​detail/​ll/​003-001.​htm
AWMF Leitlinie 179-002 (S2k): Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett bei Frauen mit Querschnittlähmumg. https://​www.​awmf.​org/​leitlinien/​detail/​ll/​179-002.​html
Bertschy S, Bostan C, Meyer T, Pannek J (2016) Medical complications during pregnancy and childbirth in women with SCI in Switzerland. Spinal Cord 54(3):183–187
Bertschy S, Schmidt M, Fiebag K, Lange U, Kues S, Kurze I (2020) Guideline for the management of pre-, intra-, and postpartum care of women with a spinal cord injury. Spinal Cord 58:449–458CrossRef
Cowley KC (2014) Breastfeeding by women with tetraplegia: some evidence for optimism. Spinal Cord 52:255. https://​doi.​org/​10.​1038/​sc.​2013.​167; published online 21 January 2014CrossRefPubMed
Ghidini A, Healey A, Andreani M, Simonson MR (2008) Pregnancy and women with spinal cord injuries. Acta Obstet Gynecol Scand 87(10):1006–1010CrossRef
Morton C, Le JT, Shahbandar L, Hammond C, Murphy EA, Kirschner KL (2013) Pregnancy outcomes of women with physical disabilities: a matched cohort study. PM R 5(2):90–98CrossRef
Robertson K, Dawood R, Ashworth F (2020) Vaginal delivery is safely achieved in pregnancies complicated by spinal cord injury: a retrospective 25-year observational study of pregnancy outcomes in a national spinal injuries centre. BMC Pregnancy Childbirth 20:56CrossRef
Schmidt M, Bertschy S, Fiebag K, Lange U, Kurtz I (2020) Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett bei Frauen mit Querschnittlähmung. GebFra 80:901–904
Sharpe EE, Arendt KW, Jacob AK, Pasternak JJ (2015) Anesthetic management of parturients with pre-existing paraplegia or tetraplegia: a case series. Int J Obstet Anesth 24(1):77–84CrossRef
Sterling L, Keunen J, Wigdor E, Sermer M, Maxwell C (2013) Pregnancy outcomes in women with spinal cord lesions. JOGC 35(1):39–43PubMed