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Die Intensivmedizin
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Publiziert am: 01.04.2023

Akut- und Frührehabilitation

Verfasst von: Gudrun Sylvest Schönherr, Michaela Eyl, Ton Hanel, Mariella Katzmayr, Simone Kircher und Patricia Meier
Die Rehabilitation von Patienten an Intensivstationen erfolgt im interprofessionellen Team zwischen Medizinern, Pflege, Ergo- und Physiotherapeuten sowie Logopäden im Rahmen von standardisierten Prozessen, die sich am internationalen Klassifikationssystem der Weltgesundheitsorganisation der „International Classification of Functioning, Disability and Health“ (ICF) orientieren. Diese misst die Funktionsfähigkeit und Behinderung eines Patienten. Zu Beginn der Behandlung kommen standardisierte Assessmentinstrumente zum Einsatz, welche sowohl sensomotorische als auch kognitive Beeinträchtigungen in den Ebenen der Körperstruktur und -funktion sowie der Aktivität und Partizipation messen und abbilden. Hierauf werden Ziele in den verschiedenen Ebenen definiert, woraufhin die entsprechenden therapeutischen Maßnahmen erfolgen. Zu Beginn sind die Schwerpunkte Stimulation und Prophylaxe, insbesondere eine frühe Mobilisation sowie eine Schluckdiagnostik beziehungsweise ein Trachealkanülenmanagement.

Team und Prozesse

Die Akut- und Frührehabilitation beginnt häufig schon am ersten Tag nach der Aufnahme eines Patienten1 an einer Intensiv- oder Überwachungsstation wie beispielsweise einer Schlaganfalleinheit. Ergo- und Physiotherapeuten sowie Logopäden sind dabei ein integrativer Bestandteil eines interdisziplinären Behandlungsteams mit Fachärzten, Pflege, Psychologen und Sozialarbeitern. Diese gemeinsame Vorgehensweise kennzeichnet die Frührehabilitation und macht sie nachweislich erfolgreich. Für spezialisierte Abteilungen, wie z. B. Schlaganfalleinheiten ist mittlerweile klar belegt, dass sie das Outcome von Patienten deutlich positiv beeinflussen können (Stroke Unit Trialists’ Collaboration 2002). Die Frührehabilitation bedeutet aufgrund dieses interprofessionellen Herangehens eine große Herausforderung in Hinblick auf Ausbildung und Kommunikationsfähigkeit aller Teammitglieder.
Für einen optimalen Behandlungserfolg ist die Einführung von standardisierten Abläufen bzw. das Arbeiten nach therapeutischen Prozessen unerlässlich (Abb. 1). Die eingesetzten Therapiemaßnahmen reichen von regelmäßig durchgeführten Assessments über prophylaktischen Maßnahmen, Dysphagietherapie bis hin zu gezieltem sprachsystematischem, sprech-, stimm-, und sensomotorischem sowie kognitivem Training. Diese Maßnahmen werden regelmäßig reevaluiert und im Bedarfsfall neu angepasst.
Zu Beginn der Behandlung auf einer Intensivstation (ICU) überschneiden sich Ziele und Maßnahmen von Ergo-, Physiotherapeuten und Logopäden. Mit zunehmender Vigilanz und somit Sichtbarwerden von spezifischen Ausfallserscheinungen werden Ziele und Behandlungsmaßnahmen der einzelnen Berufsgruppen spezifischer und differenzierter. In den ersten Phasen intensivmedizinischer Erkrankungen sind die Zielsetzungen und Behandlungsansätze häufig v. a. im prophylaktischen bzw. strukturellen Bereich definiert:
  • Stabilisation der Vitalfunktionen
  • Prophylaxe von Sekundärschäden
  • Vigilanz, Aufmerksamkeit, Orientierung
  • Angstmanagement
  • Awarenesstraining
  • ICU-Delir
  • ICU-Acquired Weakness (ICUAW): Vermeidung von Entitäten muskulärer Schwäche bei kritisch kranken Patienten: Critical-Illness-Myopathie (CIM) und Critical-Illness-Polyneropathie (CIP)
ICU-Delir und ICUAW stellen ein Hauptproblem in der Frührehabilitation des Intensivpatienten dar. Hintergrund dieser Vorgänge sind Immobilität (Bedrest), der Einsatz von Corticosteroiden, Sepsis (Inflammation) und daraus resultierenden Prozesse, wie z. B. Insulinresistenz und Hyperkatabolismus (Nessizius et al. 2017).
Sichtbar werden diese Komplikationen meist während der Phase des Entwöhnens vom Beatmungsgerät. Es zeigt sich eine offensichtliche Kraftlosigkeit der Extremitäten bei kooperativen Patienten (Pohl und Mehrholz 2013).
Es besteht eine direkte Korrelation einer ICUAW mit einer längeren Liegedauer, einem funktionell schlechteren Outcome und längerem Weaning (Nessizius et al. 2017).
Nach heutigem Erkenntnisstand besteht die Wahrscheinlichkeit an einer CIM/CIP zu erkranken bei Patienten, die mindestens sieben Tage auf einer Intensivstation behandelt werden müssen, zwischen 49 % und 77 %. Die Unterscheidung zwischen CIM und CIP ist klinisch nicht einfach, beide zeigen eine Tetraplegie bzw. eine schlaffe Tetraparese, die Hirnnerven sind dabei nicht betroffen.
Die Untersuchung von Muskeleigenreflexen unterstützt die Abgrenzung zwischen CIM und CIP. Diese Reflexe sind bei einer CIM üblicherweise erhalten, bei einer CIP erlöscht bzw. zumindest signifikant abgeschwächt. Zusätzlich sind die sensiblen Qualitäten wie Schmerz, Temperatur, Lagesinn, Vibration und Berührung bei einer CIM erhalten, bei einer CIP sind diese primären Qualitäten in der Regel abgeschwächt.
Zur Diagnostik der CIM und CIP wird üblicherweise der Medical Research Council (MRC)- Summencore herangezogen. Zur weiteren Differenzierung kommen zusätzlich technische Verfahren wie die Bestimmung der Muskelnekroseparameter, die Elektromyographie (EMG), die Bestimmung der Nervenleitgeschwindigkeit (NLG) und die Muskelbiopsie zum Einsatz (Pohl und Mehrholz 2013).
Mit zunehmender Stabilisierung des Patienten und Diversifikation seiner Symptome werden die Zielsetzungen immer berufsgruppenspezifischer (Abb. 2).

Strukturelle und personelle Rahmenbedingungen

Um eine effiziente Frührehabilitation durchführen zu können, ist eine entsprechende personelle Ausstattung notwendig. Für die Therapie rechnen Rehabilitationsteams mit Behandlungszeiten von 45–60 Minuten pro Tag und Patient, eventuell sind auch mehrere Einheiten täglich notwendig. Ebenso müssen interdisziplinäre Doppelbehandlungen durch zwei Therapeuten unterschiedlicher Berufsgruppen möglich sein. Hinzu kommen noch Evaluierungs- und Dokumentationszeiten sowie regelmäßige interdisziplinäre Fallbesprechungen.
Zu empfehlen ist ein Therapieraum direkt auf der Station, einerseits um lange Wege zu vermeiden, andererseits um aus Sicherheitsgründen jederzeit in der Nähe von Pflege und Ärzten zu sein. Neben diversen therapeutischen Kleingeräten benötigen Therapeuten Patientenlifter, Vertikalisierungshilfen (z. B. Stehtisch oder Stehbett), höhenverstellbare Tische, entsprechendes Lagerungsmaterial und spezielle, individuell verstellbare Mobilisationsrollstühle mit aufsetzbaren Tischen. Des Weiteren sind Elektrostimulationsgeräte zur sensiblen Stimulation (TENS) oder zur funktionellen Mehrkanal-Elektrostimulation (FES) sowie computerunterstützte Rehabilitationsprogramme für kognitives und visuelles Training zu empfehlen.

Standardisierte Abläufe im Rahmen der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF)

Bei allen rehabilitativen Maßnahmen wird empfohlen, nach einem standardisierten Prozedere vorzugehen, um möglichst zielorientiert befunden und behandeln zu können. Die therapeutischen Abläufe orientieren sich an einem Klassifizierungssystem der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur „Beschreibung des funktionalen Gesundheitszustandes, der Behinderung, der sozialen Beeinträchtigung und der relevanten Umgebungsfaktoren eines Menschen“ (World Health Organization 2001).
Dieses System beurteilt die Komponenten der Gesundheit in verschiedenen Ebenen, das heißt, der Ansatz ist ressourcenorientiert und ergänzt damit die Diagnosenkataloge ICD-10 bzw. ICD-11, da eine Diagnose allein nur begrenzt Aussagekraft über die funktionelle Beeinträchtigung eines Patienten liefert.
Die ICF stellt die Funktionseinschränkungen eines Patienten als Resultat des Wechselspiels der jeweiligen Diagnosen mit den individuellen – den Patienten betreffenden – Kontextfaktoren dar. Die Funktionsfähigkeit eines Menschen wird in drei Teilbereiche gegliedert: Körperfunktion und -struktur, Aktivität und Teilnahme (Abb. 3).
Auf der Ebene der Körperfunktion und -struktur werden Beeinträchtigungen der Organe und deren Funktionen beurteilt. Therapeutisch relevante Systeme sind z. B.:
  • Mentale Funktionen
  • Sinnesfunktionen und Schmerz
  • Hör- und Vestibularfunktionen
  • Funktionen des Atemsystems
  • Neuromuskuläre und bewegungsbezogene Funktionen
  • Stimm- und Sprechfunktionen
Hieraus ergeben sich die zu testenden Komponenten dieser ICF-Ebenen wie z. B. Schmerz, Bewegungsausmaß, Kraft, Tonus, Gelenkbeweglichkeit, Ausdauer oder pulmonale Parameter.
Die Funktionsebenen Aktivität und Partizipation werden gemeinsam beschrieben. Aktivitäten beschreiben den Menschen als handelndes Subjekt, die Teilnahme erweitert dies um ein Handeln der individuellen Person im jeweiligen soziokulturellen Rahmen. Die Einteilung erfolgt dabei in verschiedenste Lebensbereiche wie beispielsweise die, für den Akutbereich besonders relevanten, Komplexe:
  • Lernens und Wissensanwendung
  • Kommunikation
  • Mobilität
  • Selbstversorgung
In diesen Ebenen befunden Therapeuten mittels Aktivitäts- und Partizipationsskalen etwa Aktivitäten des täglichen Lebens, gesundheitsbezogene Lebensqualität, aber auch einzelne Aktivitäten, wie z. B. Gehen, Gleichgewicht, Greifen und Manipulation. Im intensivmedizinischen Bereich stehen meist Struktur- und Funktionsziele, einfache Aktivitätsziele sowie die entsprechenden Maßnahmen, wie in etwa der Schluckakt, die Prophylaxe am Bewegungsapparat, die Steigerung der Kraft im Vordergrund, um auf dieser Basis längerfristig Partizipationsziele anstreben zu können.
Der personelle und soziale Hintergrund eines Patienten wird im Klassifikationsschema der ICF in der Ebene der Kontextfaktoren (persönliche und umgebungsbedingte) dargestellt: z. B. Alter, Persönlichkeitsmerkmale, Beruf, Lebensstil, kulturelle oder soziale Umweltfaktoren.
Dieser Rahmen der ICF ermöglicht eine international standardisierte Vorgehensweise bei der Beurteilung des Funktionsniveaus des Patienten in allen Ebenen. Zudem dient die ICF zur Zielformulierung für den Einzelnen, zur Behandlungsprozessplanung und (Re-)Evaluierung des Behandlungsergebnisses.
Der Fokus liegt herbei anfänglich bei der Formulierung von kurzfristigen Zielen auf den Ebenen der Struktur und Funktion, jedoch langfristig immer auf Partizipationsebene, da diese für den funktionellen Outcome des Patienten relevant sind. Die Behandlung erfolgt auf allen Ebenen, jedoch immer mit dem Ziel der Verbesserung der Partizipation des Patienten in all seinen individuellen Lebensbereichen. Dieser Zugang ermöglicht allen an der Frührehabilitation beteiligten Berufsgruppen eine einheitliche Sprache sowie einen gemeinsamen Behandlungsrahmen.
Ein Beispiel hierfür ist der Algorithmus Frührehabilitation der sich in der Praxis der Schlaganfallbehandlung bereits bewährt hat. Hierbei werden Assessments, Ziele und Maßnahmen in die einzelnen ICF Kategorien unterteilt (Abb. 4).
In diesem Algorithmus werden Abläufe, Ziele und Maßnahmen aller therapeutischen Berufsgruppen (Physio-, Ergotherapie und Logopädie) gemeinsam angeführt, da sie sich häufig überschneiden bzw. ein Ganzes bilden (siehe auch Abschn. 1; Abb. 2).
Nach der ärztlichen Zuweisung zur Therapie wird durch Arzt und das Therapieteam (insbesondere Physiotherapie) festgestellt, ob und inwieweit der Patient einer (frühen) Mobilisation zugeführt werden kann.
Eine Möglichkeit, diesen gemeinsamen Vorgang zu systematisieren bietet die Checkliste Remobilisierung (siehe auch Abschn. 3.5.1; Tab. 1). Nach Abklärung bzw. Durchführung erster Mobilisationsmaßnahmen kommen standardisierte Assessmentinstrumente zum Einsatz aus denen sich im weiteren Verlauf Ziele und Maßnahmen in den einzelnen Funktionsebenen der ICF ableiten lassen.
Tab. 1
Penetrations/Aspirationsschweregrade nach Rosenbek (Rosenbek et al. 1996)
8-Punkt Penetrations-Aspirationsskala (PAS) in Anlehnung an Rosenbek
1 Material dringt nicht in die Luftwege ein
2 Material dringt in die Luftwege ein, verbleibt oberhalb der Stimmlippen und wird im weiteren Verlauf aus den Luftwegen entfernt.
3 Material dringt in die Luftwege ein, verbleibt oberhalb der Stimmlippen und wird im weiteren Verlauf nicht aus den Stimmlippen entfernt.
4 Material dringt in die Luftwege ein, kontaktiert die Stimmlippen und wird im weiteren Verlauf aus den Luftwegen entfernt.
5 Material dringt in die Luftwege ein, kontaktiert die Stimmlippen und wird im weiteren Verlauf nicht aus den Luftwegen entfernt.
6 Material dringt in die Luftwege ein, dringt bis unter die Stimmlippen vor und wird im weiteren Verlauf aus der Trachea in den Larynx hinein oder aus den Luftwegen entfernt.
7 Material dringt in die Luftwege ein, dringt bis unter die Stimmlippen und wird im weiteren Verlauf trotz Anstrengung nicht aus der Trachea entfernt
8 Material dringt in die Luftwege ein, dringt bis unter die Stimmlippen vor und es wird keine Anstrengung zur Entfernung unternommen

Assessments und Zielsetzung

Therapeutische Testverfahren dienen dazu, kognitive, motorische, sprachliche und sensorische Fähigkeiten standardisiert abzubilden, daraus Ziele und Behandlungsmaßnahmen abzuleiten, diese zu re-evaluieren und gegebenenfalls zu modifizieren.
Das funktionelle Outcome und die gesundheitsbezogene Lebensqualität sind wichtige Ergebnisparameter für Patienten während und nach der Behandlung auf einer Intensivstation. Für die therapeutische Testung werden in der Praxis eine große Anzahl an Assessmentsystemen eingesetzt, von denen einige direkt für den Einsatz an einer ICU entwickelt wurden, andere haben ihren Ursprung bei der Testung verschiedener Krankheitsbilder und Verlaufsphasen, werden jedoch ebenfalls für die intensivmedizinische Testung empfohlen.

Globale orientierende Instrumente

Im Alltag einer ICU kommen eine Fülle an allgemeinen Scoringsystemen zum Einsatz, wie z. B. das Acute Physiology and Chronic Health Disease Classification System II (APACHE II) oder der Simplified Acute Physiology Score (SAPS II), die vor allem das Mortalitätsrisiko beurteilen, aber auch verschiedene Sedierungsscores, wie z. B. die Richmond Agitation Sedation Scale (RASS) oder die Ramsay Sedation Scale (RSS). Zudem gibt es Scores zur Messung der Bewusstseinsquantität (Glasgow Coma Score – GCS), der Pflegeintensität (Therapeutic Intervention Scoring System – TISS 28) oder eines Delirs (Confusion Assessment Method – CAM, Intensive Care Delirium Screening Checklist – ICDSC) (Schönherr 2017).
Darüber hinaus existieren für verschiedene Teilbereiche spezielle Assessments. Für die motorische Remission wurden z. B. in den letzten Jahren an die 30 ICU- spezifische Testsysteme entwickelt, von denen leider nur sehr wenige in deutscher Übersetzung vorliegen. Den meisten ist gemeinsam, dass sie neben funktionellen Parametern wie Transfers oder Mobilität auch die Muskelkraft als relevanten Zielparameter erheben da diese motorische Eigenschaft im Verlauf einer intensivmedizinischen Behandlung sehr schnell und erheblich beeinträchtigt wird (Schönherr 2017).
Beispiele hierfür sind:
  • Physical Function in Intensiv Care Test (PFIT-s)
  • Chelsea Critical Care Physical Assessment Tool (CPAx)
  • Perme Intensive Care Unit Mobility Score
  • Functional Status for the Intensive Care Unit (FSS-ICU)
  • ICU Mobility Scale
Daneben existieren einige Frührehabilitationsskalen, die vor allem der Verlaufsbeurteilung neurologischer Patienten dienen:
  • Koma-Remissionsskala (KRS)
  • Early Functional Abilities (EFA)
Im Alltag kommt zudem eine Vielzahl an Assessments zum Einsatz, die nicht spezifisch für Intensivstationen entwickelt wurden, jedoch für die Beurteilung der einzelnen ICF-Ebenen sehr praktikabel sind.

Assessments auf Ebene der Aktivität und Partizipation

Beispiele für gemeinsame Instrumente zur allgemeinen Beurteilung der Aktivitäts- und Partizipationsebene auf interdisziplinärer Ebene sind:
  • Selbstständigkeitsindex für die Neurologische und Geriatrische Rehabilitation (SINGER)
  • Erweiterter Barthel-Index (BI)
  • Frühreha-Barthel-Index (FRB)
  • Functional Independence Measure (FIM)
Bei der detaillierten Beurteilung der Ebene der Aktivität und Partizipation wird empfohlen, die Bereiche der posturalen Kontrolle, der Lokomotion und der Arm- Handfunktion zu unterscheiden. Diese sind zentralnervös unterschiedlich organisiert und erfordern somit auch unterschiedliche Behandlungsschwerpunkte und Maßnahmen.
Assessments zur Beurteilung der posturalen Kontrolle:
  • Trunk Control Test (TCT)
  • Functional Reach (FR)
  • Berg Balance Scale (BBS)
Assessments zur Beurteilung der Lokomotion:
  • Functional Ambulation Categories (FAC)
  • Timed Up and Go (TUG)
  • 10-Meter Gehtest (10 MWT)
  • 6-Minuten Gehtest (6 MWT)
Assessments zur Beurteilung der Arm-Handfunktion:
  • Box-and-Block-Test (BBT)
  • Nine-Hole-Peg-Test (NHP)
  • Fugl Meyer Assessment (FMA)

Assessments mentaler und kognitiver Funktionen

Wenn möglich, wird von Neuropsychologen eine standardisierte Erfassung neuropsychologischer Störungen durchgeführt. Diese Expertise und dazu ergänzend gezielte klinische Beobachtungen von Alltagssituationen sowie aufgaben- und alltagsorientierte Befundsysteme dienen dazu, realistische und alltagsrelevante Therapieziele zu entwickeln und in weiterer Folge maßgeschneiderte kognitive Inhalte in das therapeutische Angebot einzuweben.
Nachfolgende Assessments kommen häufig bei Patienten mit kognitiven Problemen zum Einsatz:
  • Pushersymptomatik: Skala für kontraversive Pushersymptomatik (SCP)
  • Neglect: Catherine Bergego Scale (CBS), Tisch- Strichtest
  • Aufmerksamkeit: standardisierte Verhaltensbeobachtung einer Alltagshandlung
  • Gedächtnis: Wortliste, Zahlenreihe, Topografie, …
  • Exekutive Leistungen: Tower of London; Planungsaufgaben, logisches Denken
  • Räumliche Leistungen: Uhrentest, Linien halbieren, diverse Konstruktionsaufgaben
  • Praxie: Imitation bedeutungsloser Handstellungen, Objektpantomime, Objektgebrauch
  • Umgang mit Zahlen und Geld: Grundrechnungsarten, Umgang mit Geld
  • Analyse von Alltagshandlungen aus dem Occupational Performance Model Australia (OPMA): Perceive, Recall, Plan, Perform (PRPP System)
  • Screening zur Erfassung sprachverarbeitungsrelevanter Aufmerksamkeits-, Gedächtnis- und Exekutivfunktionen bei Patienten mit Kognitiver Dysphasie und Aphasie (AGD)
  • Sprachsystematische Testung: Aachener Aphasie-Bedside-Test (AATB), Aachener Aphasie Test (AAT), Aphasie-Check-Liste (ACL), Bielefelder Wortfindungsscreening für leichte Aphasien (BIWOS)
Des Weiteren werden häufig folgende Fragebögen zur Erfassung sprachlicher Kompetenzen eingesetzt:
  • Communicative Effectiveness Index (CETI)
  • Züricher Fragebogen zur Aktivität und Kommunikation im Alltag (Z-FAKA)
  • Stroke and Aphasia Quality of Life Scale (SAQOL-39)

Assessments auf Ebene der Körperstruktur und Funktion

Die Assessments der Ebene der Körperstruktur und -funktion können in verschiedene Bereiche gegliedert werden. Für das Arbeiten auf der ICU vor sind vor allem Beurteilungsskalen in den Kategorien Kraft, Tonus, Schmerz, Atmung und Schlucken relevant.
Möglichkeiten zur Beurteilung der Kraft:
  • Medical Research Council (MRC) – auch als Summenscore
  • Kraftmessgeräte (Dynamometer)
  • Motricity Index (MI)
Möglichkeiten zur Beurteilung des Tonus:
  • Modifizierte Ashworthscale (MAS)
  • Tardieu Skala
Möglichkeiten zur Beurteilung von Schmerzen:
  • Behavioral Pain Scale (BPS) für bewusstseinseingeschränkte Patienten
  • Numeric Rating Scale (NRS) für wache Patienten
Möglichkeiten zur Beurteilung der Atmung:
  • Dyspnoeskalen
  • Inspektion, Palpation, Auskultation
  • Hustenassessment
  • Peak Cough Flow (PCF)
  • Maximal inspiratory Pressure (MIP)
  • Borg-Skala
Möglichkeiten zur Beurteilung der Dysphagie:
  • Gugging Swallowing Screen (GUSS)
  • Bogenhausener Dysphagiescore (BODS)
  • Functional Oral Intake Scale (FOIS)
  • Dysphagia Severity Rating Scale (DSRS)
  • Schluckbeeinträchtigungsskala (SBS) n.Prosiegl
  • die internationale Initiative zur Standardisierung der Dysphagiediät (IDDSI)
  • Nutritional Risk Screening (NRS)
  • pflegerische Erfassung von Mangelernährung und deren Ursachen (PEMU)
Das Ziel der evidenzbasierten klinisch standardisierten und therapieorientierten Dysphagieerstdiagnostik liegt im individuellen Evaluieren sensomotorischer Störungsschwerpunkte des oropharyngealen Schluckaktes und der Entscheidung von geeigneten Maßnahmen unter Berücksichtigung eines Nachweises eines prä-intra-postdeglutitiven akzidentellen oder generellen Penetration bzw. Aspirationsrisikos, mit und ohne Trachealkanüle und mit und ohne Beatmung.
Dabei wird besonderer diagnostischer Fokus auf die in der in Abb. 5 angeführten – mit türkisen Pfeilen dargestellten – funktionellen sensomotorischen Störungsschwerpunkte gelenkt, welche letztlich die Sicherheit einer zeitgerechten und funktionell restfreien pharyngealen Bolusaustreibung und die Klärungseffizienz isoliert und kombiniert gefährden könnten.
Begleitend in der Befunderhebung wird bei neurologischen Patienten das Symptomenbild der Schluckapraxie berücksichtigt. Einen weiteren Faktor der Diagnostik und Behandlung stellt die zentrale und periphere Fazialisparese dar. Sie wird im Dysphagiebefund und in der Entscheidung adaptierender Maßnahmen und Hilfsmittel separat berücksichtigt. In der Behandlung wird sie als eigenständiger funktioneller Schwerpunkt gehandhabt (Warnecke et al. 2021).
Ergänzend zur standardisierten und therapieorientierten Dysphagiediagnostik steht im Vordergrund die flexible/fiberoptische endoskopische Evaluierung des Schluckens (FEES) zur Verfügung (Abb. 6). Diese kann auf der ICU Station durch Intensivmediziner und zertifizierte Logopädinnen und Phoniater bettseitig regelmäßig bei Bedarf durchgeführt werden und hat sich als sicher und leicht anwendbar erwiesen (Zuercher et al. 2020). Dabei wird die Schweregradeinteilung von Penetrationen bzw. Aspirationen über die Penetrations-Aspirations-Skala (PAS) (Rosenbek et al. 1996) angewandt. Begleitend wird die Wirksamkeit verschiedener Konsistenzen in Anlehnung an die internationale Initiative zur Standardisierung der Dysphagiediät (IDDSI), Applikationsarten und von Haltungsänderungen/Schluckmanövern individuell für die therapeutische Planung untersucht.
Zum fest implementierten diagnostischen Standard zählt die FEES, die eine differenzierte Befunderhebung und anschauliche Bildgebung unter Berücksichtigung von standardisierten Skalen wie der Sekretbeurteilungsskala, Reinigungsfunktionsskala und Glottisschluss/Atemanhalten (alle nach Murray) und der YALE Scales sichert.
Besonders hervorzuheben ist für die logopädische Therapie die PAS (Tab. 1), da sie standardisiert zur Auswertung des Penetrations- und Aspirationsgrades (Abb. 7) aller funktionell testbaren Konsistenzen IDDSI 0–7 (Abb. 8) inklusive Medikamente herangezogen wird.

Zieldefinition

Nach Durchführung der standardisierten Tests legt nun das Therapieteam – wenn möglich – in Absprache mit Patienten und Angehörigen die therapeutischen Ziele auf den einzelnen ICF-Ebenen im Rahmen einer interdisziplinären Fallkonferenz fest. Diese sollte mindestens einmal pro Woche stattfinden. Nach Befundaufnahme und therapeutischer Diagnose werden realistische, messbare und klar definierte Ziele formuliert und Maßnahmen eingeleitet. Ziele sollten spezifisch, messbar, akzeptiert, realistisch und terminiert sein (SMART-Ziele) und in weiterer Folge regelmäßig re-evaluiert werden. Auch wenn erste Nahziele und Maßnahmen auf einer ICU meist auf der Struktur- und Funktionsebene stattfinden, ist es wichtig, diese im Kontext der Aktivität und Partizipation zu sehen um für den Patienten relevant zu sein (siehe Abb. 4, Abschn. 1.2)
Anzustrebende Ziele mithilfe von therapeutischen Maßnahmen auf der Ebene der Körperstruktur und -funktion
  • Steigerung von Wahrnehmungsleistungen, Vigilanz, Aufmerksamkeit und Orientierung,
  • Lagerung
  • Prophylaxe und Verminderung von Dekubiti, Kontrakturen, Pneumonien und Thrombosen
  • Schmerzprophylaxe und -verminderung
  • Erhalten/Steigerung von Kraft- und Ausdauer
  • Regulation des Muskeltonus
  • Erreichen einer bestmöglichen Schluckdynamik unter gleichzeitiger forcierter Entwöhnung der Trachealkanüle ohne Beatmung
  • Steigerung der Ess-Sprech- und Stimmqualität unter Beatmung
Mögliche Ziele mithilfe von therapeutischen Maßnahmen auf der Ebene der Aktivität und Partizipation
  • Erhalt und Verbesserung der posturalen Kontrolle
  • Erhalt und Verbesserung der Arm/Handfunktion
  • Erhalt und Steigerung der Kognitiven Leistungsfähigkeit wie z. B.: selektiver Aufmerksamkeit oder Gedächtnisleistungen und kognitiver Gesprächskompetenz
  • Erhalten und Förderung der sprachlichen und nicht-sprachlichen Kommunikationsfähigkeit
  • Verbesserung der Verständlichkeit im freien Gespräch
  • Erreichen des selbstständigen Durchführens von Aktivitäten des täglichen Lebens
  • Selbstständige Teilhabe an Mahlzeiten im Tagesverlauf und Besuch im Café mit Angehörigen

Therapiemaßnahmen auf der Intensivstation

Nach einer entsprechenden Vereinbarung der Zielsetzung durch das rehabilitative Team erhält der Patient diverse therapeutische Maßnahmen, von denen die wichtigsten in den nachfolgenden Abschnitten dargestellt sind. Nach regelmäßiger Anwendung dieser Maßnahmen empfiehlt sich eine Evaluierung, um sie bei Bedarf modifizieren zu können. Dieser Regelkreis wiederholt sich bis zum Entlassungsmanagement des Patienten.
Wie bereits erwähnt, überschneiden sich die Ziele der einzelnen Berufsgruppen in den frühen Phasen. Da insbesondere neurologische Erkrankungen häufig von Bewusstseinsstörungen sowie Wahrnehmungs-, Aufmerksamkeits- und Orientierungsstörungen begleitet werden, stehen diese Problematiken im Mittelpunkt der ersten Behandlungsphase und führen zu den ersten therapeutischen Maßnahmen.

Stimulationsbehandlung

Das Therapieteam strebt eine gezielte Stimulation des Patienten an. An einer ICU gibt es eine Fülle von unspezifischen Stimuli wie Geräuschen, Licht, Bewegungen usw., jedoch haben – insbesondere neurologische – Patienten wiederholt Probleme, diese Reize in adäquater Weise und entsprechender Geschwindigkeit zu integrieren und darauf zu reagieren. Das Ziel der Stimulationsbehandlung in der Rehabilitation besteht demnach darin, für den jeweiligen Patienten adäquate, auf ihn abgestimmte Stimuli zu finden, die ihm zugänglich sind, die von ihm verarbeitet werden können und ihm somit eine positive Reaktion ermöglichen. Die Erfahrung zeigt, dass je nach der Phase der Remission, verschiedene Stimuli unterschiedlich wirksam sein können.

Vestibuläre Stimulation

Gerade in der Frühphase der Rehabilitation wird die vestibuläre Stimulation häufig verwendet. Sie kann – je nach Anwendung – aktivierende oder beruhigende Wirkungen erzielen. Bei der Vertikalisierung des Patienten erfolgt eine Stimulation des aufsteigenden retikulären aktivierenden Systems (ARAS) der Formatio Reticularis. Hierdurch wird die Vigilanz gesteigert und die Voraussetzung für Aufmerksamkeit und aktive Teilnahme des Patienten an allen rehabilitativen Maßnahmen geschaffen. Vertikalisierungen erfolgen je nach aktivem motorischen Potenzial des Patienten mittels Stehhilfen oder mit einer entsprechenden Anzahl an Hilfspersonen. Da vestibuläre Reize starke vegetative Auswirkungen hervorrufen können, ist eine erstmalige Vertikalisierung unter Monitorkontrolle durchzuführen.
Eine weitere Anwendungsmöglichkeit vestibulärer Stimuli ist die Tonusbeeinflussung. So haben vestibuläre Reize je nach Geschwindigkeit und Bewegungsrichtung tonuserhöhende oder tonussenkende Wirkung.

Taktile Stimulation

Taktile Stimulation kann ebenfalls eine beruhigende oder anregende Wirkung haben, je nach Anwendung von Druck- und Berührungsreizen und verwendeten Materialien. Großflächige deutliche Berührungsreize wirken eher beruhigend, wohingegen kurze spitze Reize anregend aber auch angsteinflößend wirken können. Dabei können Reize von außen an den Patienten herangetragen oder dessen Hände am eigenen Körper geführt werden. In diese Stimulationsform fallen Techniken aus der basalen Stimulation, die auch in der Pflege zur Anwendung kommen (Abb. 9).

Akustische Stimuli

Auf akustische Stimuli reagieren Patienten häufig schon in frühen Rehabilitationsphasen. Diese können verschiedene Wirkungen entfalten, je nach Frequenz und Lautstärke der angebotenen Reize. Geeignet sind bekannte Geräusche, wie die Lieblingsmusik oder Stimmen von Angehörigen. Wichtig ist, mit Patienten immer altersgemäß und einfach kommunizieren und ihnen Zeit für Reaktionen geben.

Visuelle Stimulation

Die visuelle Stimulation erfolgt durch unterschiedliche Lichtquellen und Objekte, die dem Patienten präsentiert werden. Wobei auch hier bekannte Gegenständen zu verstärkten Reaktionen des Patienten führen. Diese Stimuli sind zudem gut geeignet, um Kopfkontrolle und Blickfolgebewegungen anzubahnen.

Lagerung

Die Lagerung spielt in der Frührehabilitation eine zentrale Rolle und ist ein fachübergreifendes Aufgabengebiet, das intensiver und guter Absprache zwischen den Berufsgruppen bedarf. Je nach Hauptproblematik des Patienten wird in jedem Fall eine individuell angepasste Lagerung angestrebt. Das Durchziehen eines Konzepts für alle Patienten ist nicht zielführend (Hafsteinsdóttir et al. 2007). Die Lagerung kann demnach unterschiedlichste Ziele verfolgen:
  • Sicherheit, Bequemlichkeit, positives Beeinflussen von Angstgefühlen des Patienten
  • Prophylaxe und Behandlung von Pneumonien, Thrombosen, Dekubitalulzera
  • Prophylaxe und Behandlung von Veränderungen/Verkürzungen am Bewegungsapparat
  • Prophylaxe und Behandlung von Schmerzen am Bewegungsapparat, v. a. Schulterschmerz
  • Beeinflussung von Tonussteigerungen
  • Optimierung der Ausgangsstellung (z. B. kompensatorische Kopfhaltung) für therapeutische Maßnahmen direkt während dem Dysphagietraining, der Atem-Phonationstherapie oder auch dem Armfunktionstraining, etc.
Durch den Einsatz von ausreichend Lagerungsmaterial und einer sicheren Lagerung (zum Beispiel Seitlage weit hinten im Bett, Anbringen eines Tisches am Rollstuhl) vermittelt das Behandlungsteam dem Patienten Sicherheit, was auch Auswirkungen auf Tonus und vegetative Reaktionen hat (Abb. 10).
Die Einschätzung der Dekubitusgefährdung erfolgt durch das Pflegepersonal. Ebenso der Einsatz von Spezialmatratzen. Eine Risikoabwägung muss im Einzelfall erfolgen. Auch die Umlagerungsintervalle variieren je nach Gefährdungsgrad von meist zwei bis vier Stunden.
Häufiges Umlagern und frühe Mobilisation dienen sowohl der Thrombose- als auch der Pneumonieprophylaxe. Nach Rücksprache mit dem Arzt und Konsultation des Lungenröntgenbefundes kann eine entsprechende Drainagelagerung – je nach minderbelüftetem Lungenbezirk – in Zusammenhang mit einer entsprechenden Atemtherapie (s. u.) helfen, Pneumonien vorzubeugen.
Eine Immobilisation des Patienten führt sehr schnell zu Veränderungen an Weichteilen und Gelenken. Häufiges Umlagern unter Berücksichtigung bereits bestehender Verkürzungen bzw. entgegen zu erwartender Verkürzungsmuster und frühestmögliche Mobilisation können Veränderungen am Bewegungsapparat vorbeugen.
Die lange unter Praktikern vorherrschende Annahme, dass durch Lagerung nach bestimmten Konzepten die Entstehung einer Spastik verhindert werden kann, bestätigten Studien nicht. Durch Lagerung wird jedoch die aktuelle Tonusverteilung im Körper beeinflusst. Vor allem bei Patienten, die einem erhöhten Hirndruck ausgesetzt waren, kommt es häufig zu tonischen Enthemmungsphänomenen, auch bekannt als tonische Reflexe. Deren Ausprägung ist stark abhängig von der Position des Kopfes und der Halswirbelsäule (HWS). Durch entsprechende Lagerung der HWS in Mittelstellung bzw. entgegen der tonischen Reaktionen (meist leichte Flexionsstellung) kann eine deutliche positive Beeinflussung des rigidospastischen Tonus nach Mittelhirnsyndrom gesehen werden (Freivogel 1997). Die Lagerung der Extremitäten erfolgt in leichten, nie schmerzhaften, Dehnpositionen entgegen der Tonussteigerung.

Kontrakturprophylaxe

Die Kontrakturprophylaxe erfolgt vor allem durch regelmäßiges Umlagern (Abb. 11), adäquate Positionierung der betroffenen Extremitäten und regelmäßiges Stehtraining. Am günstigsten gegen die Entwicklung von Kontrakturen wirkt die aktive Kontraktion des betroffenen Muskels, dies so früh als möglich.
Ist keine aktive Kontraktion möglich, kann passives Bewegen der paretischen Extremitäten bzw. der Einsatz manualtherapeutischer Techniken der Prophylaxe und Behandlung von muskulärer Steifheit beziehungsweise der Prophylaxe von Kontrakturen dienen (Abb. 12 und 13). Wichtig hierbei ist, den fehlenden Gelenkschutz der Muskulatur infolge der verminderten Muskelaktivierung zu beachten und nicht forciert in Bewegungsendpositionen zu arbeiten.
Vor allem das Bewegen einer plegischen Schulter bedarf besonderer Vorsicht. Patienten und betreuende Personen sollten dazu angehalten werden, die betroffene Schulter in den ersten Tagen und Wochen nicht passiv über 60–90 Grad zu heben. Diese Bewegung führen zuerst nur Therapeuten mit entsprechender Mobilisation und Unterstützung der Skapula und Außenrotation des Oberarmes aus. Empfohlen wird für die betroffene Schulter eine Lagerung in – gut tolerierbarer – Außenrotation für mindestens 30 Minuten täglich.

Atemtherapie

Auch die Atemtherapie verlangt nach einem sehr berufsgruppenübergreifenden Management. Nach Diagnose durch den Facharzt und gemeinsamer Besprechung der Befunde zwischen Arzt, Pflege, Logopädie und Physiotherapie setzt das Team die Behandlungsziele fest und entwickelt ein Maßnahmen- und Lagerungsmanagement. Atemtherapie trägt bei konsequenter Anwendung dazu bei, sowohl den Patienten vor invasiveren Maßnahmen (Beatmung) zu bewahren, als auch die Entwöhnung von der maschinellen Beatmung zu erleichtern und zu beschleunigen. Hierdurch werden die Maßnahmen zur Förderung des Dekanülierungsprozesses durch die Logopädie maßgeblich unterstützt.
Je nach Thoraxröntgenbefund (Ort und Ausmaß von Infiltraten, Atelektasen, minderbelüfteten Lungenbezirken) werden – möglichst gleichzeitig mit sekretlösenden Maßnahmen – Drainagelagerungen durchgeführt. Diese sollten frühestens ein bis zwei Stunden nach der letzten Nahrungsaufnahme erfolgen. Ziel der Drainagelagerung ist es, das Bronchialsekret mithilfe der Schwerkraft entsprechend der Anatomie des Bronchialsystems zu transportieren und zu entfernen. Ist ein aktives Abhusten nicht möglich, wird das Sekret vor dem erneuten Umlagern abgesaugt.
Die jeweils anzuwendenden Methoden sind abhängig von Beatmungsform, Vigilanz und Kooperation des Patienten, wobei aktive Maßnahmen nach Möglichkeit immer vorzuziehen sind.
Die einzelnen Ziele der Atemtherapie sind: Verbesserung der Vitalkapazität, des Atemzugsvolumens, Mobilitätsverbesserung des Thorax für vermehrte Atemexkursion, Vermehrte Belüftung minderbelüfteter Bezirke, Sekretlösung – Sekretmobilisation und Sekretentfernung.
Das Weaning bedarf einer sehr engen interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen Therapeuten (siehe Abschn. 3.6.2) und Pflegepersonal. Für die Begleitung des Weanings wird das Therapieteam zur Unterstützung der Atmung hinzugezogen, sobald der Patient nicht mehr voll kontrolliert beatmet ist. Dafür bringen die Therapeuten den Patienten in eine optimale Ausgangsstellung (Seitlage, Sitz im Bett o. Ä.). In Absprache mit dem Pflegepersonal werden beispielsweise die Syncronized Intermittend Mandatory Ventilation (SIMV) -Frequenzen (eine Kombination aus assisitierter Spontanatmung und kontrollierten Beatmungshüben), Druckunterstützung und der positive endexpiratorische Druck (PEEP, Positive End-Expiratory Pressure) reduziert. Währenddessen unterstützt der Therapeut den Brustkorb des Patienten, damit ein erhöhtes Atemvolumen erreicht werden kann. Ist ein Patient bereits wach und kooperativ, kann man ihn zum aktiven Mitatmen oder zum Beispiel zum Atmen gegen Widerstand animieren

Frühmobilisation

Der Zeitpunkt der ersten Mobilisation ist international und je nach Fachgebiet sehr unterschiedlich. Prinzipiell wird jedoch eine möglichst frühe Mobilisation angestrebt, um die negativen Effekte einer länger dauernden Immobilität zu vermeiden bzw. zu verlangsamen. Die Entscheidung über den Zeitpunkt der ersten Mobilisation ist immer ein Abwägen zwischen eventuellen negativen Effekten einer zu forcierten Vertikalisierung und den erwähnten Immobilitätsschäden (Nessizius et al. 2017).
Zu erwähnen ist an dieser Stelle auch der Zusammenhang zwischen aktiver Muskelaktivität und der damit assoziierten Modulation von entzündungshemmenden Zytokinen bei kritisch kranken Patienten. Eine regelmäßige und gut dokumentierte aktive Frühmobilisation ist sicher und relativ komplikationslos durchführbar. Schon tägliche Aktivität für zwanzig Minuten führt zu einer Verbesserung der inflammatorischen Dysregulation durch einer Zunahme von antiinflammatorischen Zytokinen (Winkelman et al. 2012).
Studien untermauern, dass ein tägliches Training mit beispielsweise funktioneller Elektrostimulation oder (FES) synchronisierten Radtrainern auf ICUs komplikationslos einsetzbar ist und Vorteile hinsichtlich kürzerer Aufenthaltsdauer und dem funktionellem Outcome zeigen (Parry et al. 2014).
Je nach Bewusstseinszustand und der im Vordergrund stehenden Problematik des Patienten werden unterschiedlichste Ziele durch das frühe Mobilisieren verfolgt: neben der Prophylaxe von Sekundärkomplikationen, der Steigerung der kardiopulmonalen Belastbarkeit und Mobilität hat frühe Mobilisation auch Auswirkungen auf evtl. auftretende Fallängste bzw. depressive Verstimmungen (Bernhardt et al. 2006).
Unter Frühmobilisation ist die Mobilisation zumindest im Sitz (Querbett oder Rollstuhl) bzw. im Stehen, wenn möglich im Gehen zu verstehen. Diese Mobilisation kann durch einen Therapeuten, bzw. Pflegepersonal, alleine oder zu zweit bzw. auch unter Zuhilfenahme von Patientenlifter, Stehtisch oder Stehbett erfolgen (Abb. 14). Je aktiver die Maßnahme, desto mehr kann damit gerechnet werden, dass der Patient auch motorisch lernt, je passiver umso mehr steht die Prophylaxe von Sekundärkomplikationen im Vordergrund. Ein Hochstellen des Oberkörpers im Bett ist nicht als Mobilisation zu werten!

Voraussetzungen für eine frühe Mobilisation

Der Zeitpunkt der Frühmobilisation bestimmt der Arzt individuell. Die Entscheidung richtet sich nach verschiedenen Parametern.
Zur Abklärung der prinzipiellen Mobilisationsfähigkeit und deren Form wurde im Rahmen des Integrierten Behandlungspfades Schlaganfall Tirol eine Checkliste „Remobilisierung“ (Tab. 2) für Arzt und Therapeut entworfen (Kiechl und Schönherr 2009). Diese Checkliste dient als Entscheidungshilfe für die frühe Remobilisierung und kommt bei jedem Patienten zum Einsatz, der zur Mobilisation zugewiesen wird. Hierbei wägt der Arzt anhand der angeführten Kriterien ab, ob die anzustrebende Mobilisation innerhalb der ersten 24 Stunden durchgeführt werden kann oder ob es Faktoren gibt, die dagegensprechen, bzw. ob spezielle hygienische Sicherheitsmaßnahmen ergriffen werden müssen. Wird nach Abwägung aller Faktoren entschieden, den Patienten zu mobilisieren, plant der Therapeut die Mobilisationsform (Anzahl der Hilfspersonen, Hilfsmittel, Monitoring etc.).
Tab. 2
Checkliste Remobilisierung (Kiechl und Schönherr 2009)
Vitalparameter
RR <120 oder >220, O2-Sättigung ≤92,
Herzfrequenz <40 oder >100, Temp ≥38 °C
Klinik/CT
Orthopädisch, traumatisch, neurologisch, internistisch, psychiatrisch
Ätiologie
Gravierende hämodynamische Beeinträchtigung, etc.
Begleiterkrankungen
MCI, Endokarditis, Lungenödem,
intrakranialer Thrombus, ausgedehnte Pneumonie, Sepsis,
etc.
Hygiene
Clostridienenteritis, MRSA, …

Durchführung der Frühmobilisation

Für die praktische Durchführung einer frühen Mobilisation sind durch das Therapeutenteam einige Abwägungen im Hinblick auf Vigilanz, Vitalparameter, Beatmungssituation, Verletzungen, kognitive und motorische Möglichkeiten, Hilfsmittel, Anzahl der Hilfspersonen etc. zu treffen.
  • Vigilanz: bei analgosedierten oder allgemein in ihrer Vigilanz beeinträchtigen Patienten müssen hauptsächlich passiv-assistive Techniken angewendet werden. Bei steigender Vigilanz sollte die Eigenaktivität kontinuierlich gesteigert werden.
  • Medikamente: Medikamente können sowohl die Vigilanz als auch das Herz-Kreislaufsystem beeinträchtigen und haben großen Einfluss auf die Mobilisation
  • Zu- und Abgänge: Kontrolle über die zu- und abführenden Zugänge (arterielle/venöse Zugange, Drainagen, Vakuumpumpen etc.), Zugbelastungen vermeiden, Harnkatheter und Harnkatheterzugang sichern, so wenig wie möglich Manipulation an der Trachealkanüle
  • Monitoring: Die Frühmobilisation erfolgt immer mit Monitoring: EKG, Herzfrequenz, Blutdruck, Pulsoxymetrie
  • Hindruckparameter: der Maximalwert für die Mobilisation muss mit dem zuständigen Arzt definiert werden, bei einer Mobilisation mit Hirndrucksonde eventuell das Ventil schließen
  • Allgemeine Einschränkungen: Frakturen, offene Wunden, Verbände, Narben etc…
  • Trachealkanüle: vor allem beim passiven Aufstehen so wenig Manipulation an der Trachealkanüle wie möglich
  • Hilfsmittel: wie zum Beispiel ein Tisch vor dem Patienten erleichtert den Augenkontakt und die räumliche Orientierung, reduziert die Vollbelastung und gibt Sicherheit. Weiters sollten größere und kleiner Hilfsmittel auf einer Intensivstation zur Verfügung stehen:
    • Rutschbretter, Antirutschmatten und Antirutschsocken
    • Aufstehhilfen, Rollatoren, Rollstuhle, Rollbretter
    • Deckenlifter, Lifter
    • Rollstühle, die bei Bedarf auch in Liegeposition gebracht werden können
    • Stryker/Thekla

Dysphagietherapie

Schlucken und Atmen sind grundlegende Vitalfunktionen, die beim Patienten auf einer Intensivstation (ICU) aufgrund der Schwere der Erkrankung und des reduzierten Allgemeinzustandes nach unterschiedlicher Intubationsdauer unterschiedlich schwer beeinträchtigt sein können. Abhängig von der Ätiologie kann die funktionelle oropharyngeale Dysphagie hochgradige prä – intra – postdeglutitive Aspirationen begünstigen, die eine Indikation zur Trachealkanüle mit und ohne Beatmung darstellt. Weitere zu berücksichtigende krankheitsspezifische Faktoren und belastende Begleiterscheinungen zeigen sich durch Defizite des Antriebs, exekutiver Funktionen, psychomotorischer Verlangsamung, Verhaltens- und Persönlichkeitsveränderungen, Aspekte der Vigilanz und verschiede Grade eines Delirs. Diese werden anhand von Skalen, wie der Richmond Agitation Sedation Scale (RASS), der Confusion Assessment Method for Intensive Care Units (CAM-ICU), der Full Outline of Unresponsiveness Scale (FOUR Scale), der GCS und auch der Delirium Observation Scale (DOS) mehrmals täglich durch die Pflege evaluiert und aktualisiert.
Oberstes therapeutisches Ziel ist es, ein Maximum an Lebensqualität zurückzugeben, indem grundlegende Bedürfnisse wie Sprechen und Schlucken schnellst möglichst wieder angestrebt werden können. Auch die kognitiven Grundvoraussetzungen sind maßgeblich für einen optimalen rehabilitativen Verlauf und bedürfen einer guten Skalierung und Kooperation mit dem gesamten ICU-Team.
Zu den theoretischen und pragmatischen Expertisen der Logopädie im multidisziplinären Team zählen vordergründig differenzierte standardisierte, klinische und apparative diagnostische Mittel und therapeutische Maßnahmen zur Evaluierung unterschiedlicher neurogener, sensomotorischer, oropharyngealer Dysphagien mit Penetrationen und Aspirationen mit oder ohne Trachealkanüle und Beatmung. Die rehabilitative Versorgung durch ein umfangreiches Dysphagiemanagement nach Ersatz einer Langzeitintubation (unterschiedliche ICU Richtlinien <10 Tage bis max. 21 Tage) durch Tracheo(S)tomie mit nachfolgendem Trachealkanülenmanagement stellt trotz aller technischen Fortschritte der modernen Medizin eine besonders anspruchsvolle Aufgabe dar (Macht et al. 2012).
Dekanülierungsmaßnahmen beginnen auf der ICU. Ein zeitgerechter Beginn ist u. a. entscheidend, um die Integrität der pharygno-hypopharyngo-laryngealen Sensibilität und von Schutzmechanismen zu fördern, wiederherzustellen oder bestmöglich zu erhalten. Ein Cuff „Ballon“ ist kein genereller Aspirationsschutz und kann bei dauerhaft aufgeblasener Cuff-Manschette den Verlust bzw. die Minderung der Sensibilität mit Sekretpooling, einer Bakterienbesiedlung, der Einschränkung physiologischer Glottisbewegungen sowie Druckstellen bewirken und nicht zuletzt eine fehlende sprachliche Kommunikation mit Gefahr der psychosozialen Isolation zur Folge haben.
Vor allem im Trachealkanülenmanagement beatmungspflichtiger Patienten ist eine intensive interdisziplinäre Zusammenarbeit mit dem ICU Pflegepersonal und den Intensivmedizinern unumgänglich. Die Kernschritte gezielter standardisierter und therapieorientierter Maßnahmen mit stetiger Re-evaluierung sich entwickelnder nutzbarer funktioneller Schluckfähigkeit, mit und ohne komplexem Dekanülierungsprozess, werden übersichtlich im unten angeführten Algorithmus im multiprofessionellen Team dargestellt (Abb. 15) und in einer Legende fakultativ näher erläutert. Dies verdeutlicht wie essenziell die teambasierte Zusammenarbeit im Rahmen von vielen interdisziplinären Schnittstellen im Therapieverlauf ist.
Dysphagien die, in weiterer Folge zu Dehydrierung und Mangelernährung führen könnten, werden durch ein breites Spektrum von akuten und chronischen neurologischen Erkrankungen verursacht und verstärkt. In diesem Zusammenhang zu erwähnen sind Störungen der sensomotorischen Steuerung des oropharyngealen Schlucktraktes, einer „Critical Illness Dysphagie“ bei Critical-Illness-Polyneuropathie und Critical-Illness-Myopathie, strukturelle Veränderungen der am Schluckvorgang direkt beteiligten Organe und benachbarten Bereiche wie Schädelbasis, Wirbelsäule, oberer Thoraxapparatur und der Schilddrüse. Begleitend beeinflussende Faktoren stellen kognitive Störungen, Störung der Körpermotorik mit Beeinträchtigung der Kopf-Rumpfkontrolle, Änderung des Verhaltens im Rahmen einer deliranten Entwicklung nach Antriebsstörungen infolge von Schädigungen des Frontalhirns, demenzieller und psychogener Faktoren dar (Perren et al. 2019).
Auch der medizinische Aspekt der Mangelernährung stellt einen wichtigen Behandlungsschwerpunkt an der ICU dar. Bei Verdacht auf einen Mangelzustand stehen verschiedene Diagnosemöglichkeiten in Form von spezifischen Screeninginstrumenten, wie z. B. das Nutritional Risk Screening (NRS), die pflegerische Erfassung von Mangelernährung und deren Ursachen (PEMU) oder die Dysphagia Severity Rating Scale (DSRS) zur Verfügung. Diese können ein Risiko für eine Mangelernährung schnell und mit hoher Genauigkeit feststellen z. B. werden mittels der NRS-Scale durchgeführt: Nach einem sogenannten Vorscreening durch die Pflege aus vier Fragen zu Gewicht, Gewichtsverlust, Nahrungszufuhr und Erkrankung kann die Notwendigkeit einer genaueren Bewertung des Ernährungszustandes erhoben werden (McRae et al. 2020; Zuercher et al. 2020).

Dysphagie unter Tracheo(S)tomie mit Trachealkanülenmanagement (TK)

Einleitung
Unter dem Prozess des Trachealkanülenmanagements werden alle Maßnahmen berücksichtigt, die den Zeitraum von der Anlage der perkutanen, dilatativen Tracheotomie PDT oder chirurgisch angelegter TracheoStomie bis hin zur etwaigen Dekanülierung betreffen.
Häufig wird ein plastisches Stoma chirurgisch zu groß angelegt, was sich unter rehabilitativen-therapeutischen Maßnahmen im Belüftungsvorgang unter entblockter TK in zu unökonomischem Luftverlust beim Sprechen und im Einsatz bzw. im therapeutischen Training von Schutzmechanismen sehr hinderlich auswirken kann. Dieses „Leck“ kann oftmals nur schwer konsekutiv abgedichtet werden. Ebenso begünstigt dieses „Leck“ einen Speichelaustritt, was zusätzliche Hautirritationen zur Folge haben kann.
Vorrangiges Therapieziel ist, den Patienten bereits an der Beatmung einer standardisierten Dysphagieabklärung und Evaluierung hinsichtlich der Option eines Sprechventils (SV) zu unterziehen. Mit Ausnahme einer tiefen Analgosedierung oder höherem Positive EndExpiratory Pressure (PEEP) Niveau (>8 mbar) gibt es keine Kontraindikationen im engeren Sinn (Abb. 16).
Auch hier ermöglicht eine transkanüläre und transstomatale FEES frühzeitig etwaige Komplikation zu erfassen. Die einzelnen Schritte des TK Managements werden aus dynamisch-interdisziplinärem Blickwinkel aller Maßnahmen betrachtet und stets kritisch überprüft und adaptiert.
Anpassung der geeigneten Trachealkanüle
Die Optimierung in der Handhabung des Trachealkanülenmanagements (TKM) nach TracheoStomie oder Dilatationstracheotomie unterliegen oft unterschiedlichen Traditionen der jeweiligen ICU Stationen. Grundlegend sind aber folgende Parameter zu erwähnen:
Im Zuge einer chirurgischen Anlage einer Tracheostomie wird in der Regel zuerst eine Spiralkanüle mit Cuff (Abb. 17) angepasst, deren Nachteil darstellt, dass das Material große Falten beim Entblocken der Cuffmanschette bildet. Bei einer Dilatationstracheotomie wird an der neurologischen ICU in der Regel eine blockbare TK mit subglottischem Absaugventil angelegt.
Die Größe und Auswahl der TK wird an die Beatmungsbedürftigkeit, die individuelle Anatomie und Situation des aktuellen Speichelmanagements und der Schleimhautbedingungen angepasst und in ihrer endotrachealen Zentrierung bei TK-Anlage und TK-Wechsel endoskopisch geprüft. Folgende Möglichkeiten und Modelle unterschiedlicher Materialien stehen zur Auswahl: TK mit/ohne Cuff („Ballon“) und Druckausgleichsventil, High – Pressure – Cuffs und TK mit subglottischem Absaugventil, TK mit und ohne Innenkanüle, TK mit unterschiedlichem Krümmungswinkel und Phonationsöffnung z. B. Siebung bzw. Fenstrierung. Die Platzierung der Siebung muss endoskopisch gesichert werden. Als Übergang vor der Dekanülierung verwendet man Platzhaltersysteme, Stoma Buttons und Tracheosafe.
Die TK – Auswahl richtet sich u. a. nach Speichelmanagement und Schleimhautverhältnissen. Weiters ist zu beachten, dass die Nahrungsaufnahme unter geblockter TK unphysiologisch ist und die Qualität des Schluckaktes verschlechtert
Eine TK mit/ohne Beatmung ist in der Regel kein Argument, das gegen Sprechen, Essen und Trinken spricht, denn das Passy-Muir-Ventil (PMV)® kann an jede TK mit/ohne Beatmung, Befeuchtung (AIRVO®/Tracheovent®) und Sauerstoff adaptiert werden. Auch hängt die Fähigkeit zu Sprechen nicht von einer Phonationskanüle ab. Bei der Platzierung ist die Lage der Siebung der TK zu beachten. Liegt sie in der Trachealschleimhaut, stellt dies eine Granulationsgefahr dar.
Essenziell ist auch die Handhabung des Cuffdrucks. Daher sollte die Druckmessung bei SV mit einem Digital-Manometer durchgeführt werden, denn bei konstant zu hohem Expirationsdruck muss die TK gewechselt werden. Generell wird der Cuffdruck für den Einatmungswiderstand mit dem Manometer bzw. Cuffwächter reguliert und kontrolliert.
Begleitend findet die Adaptation einer Befeuchtung unter gleichzeitiger Anwärmung über entweder AirFlow®, AirVo® oder HME (Heat and Moisture Exchanger) Systeme (Abb. 18) statt.
Der Kanülenwechsel erfolgt durch Intensivmediziner oder Fachärzte der Chirurgie bzw. Hals-Nasen-Ohren-Klinik (HNO) und wird abhängig von Stomaanlage bzw. der Materialunversehrtheit und den lokalen Verhältnisse nach max. 30 Tagen durchgeführt.
Voraussetzungen für PMV® 007 unter Beatmung (Abb. 19)
  • Vigilanter und reaktionsfähiger Patient
  • PEEP max. 8 mmHg
  • Freie Belüftungspassage pharyngeal und laryngeal bzw. neben der TK
  • Stabiler medizinischer Zustand und Vitalzeichen
  • TK-Innendurchmesser max. 8 mm
  • Fenestrierung bzw. Siebung der TK endoskopisch kontrollieren
  • Volumen und Druckunterstützung anpassen
  • Blutgasanalyse und Ausatemdruck kontrollieren
  • Gegebenenfalls Refluxbeutel
  • Monitoring und permanente Anwesenheit
Den strategisch behutsamen und schrittweisen Ablauf im Dekanülierungsprozess mit reevaluierendem Blickpunkt auf stetig sich entwickelnder, nutzbarer funktioneller Schluckfähigkeit und funktioneller Klärungsfähigkeit und Klärungssicherheit auf supra-, subglottischer und endotrachealer Ebene sind im folgenden Algorithmus detailliert dargestellt (Abb. 20):
Medikamentöses Speichelmanagement
Patienten mit schweren sensomotorischen Dysphagien können die Hypersalivation und das damit verbundene funktionelle Speichelmanagement nicht mehr steuern. Dies kann zu unterschiedlich ausgeprägtem pharyngo-hypopharyngealen Speichelpooling mit Flutung des Hypopharynx, Penetrationen und Aspirationen unterschiedlichen Schweregrades führen. Mit der therapeutischen Zielsetzung einer forcierten Entblockung unter Adaptation eines Sprechventils (PMV)® oder dichtem Verschlusses muss dieser Faktor berücksichtigt werden. Unter verbindlicher Rücksprache mit Intensivmedizinern wird ein medikamentöses Speichelmanagement oder die Indikation einer Botolinumtoxininjektion in alle Speicheldrüsen beraten (Abb. 21).
Es gibt eine Vielzahl von unterschiedlichen Sprechventilen und dichten Verschlüssen, die in der Praxis ohne Beatmung angewandt werden. Zu beachten ist die jeweilige Kontrolle der Sprechventile auf mögliche Verlegung der Membran durch das Abhusten oder durch Verklebung nach Sekretexpektoration.
Dekanülierung
Vor einer Dekanülierung ist die Evaluierung folgender Parameter durchzuführen:
  • Effizienz des Speichelmanagements im Tagesverlauf bis zu 24 h in allen Ausgangspositionen
  • Sekretmobilisation/Effizienz Bronchialtoilette mit ggf. maschineller, manueller Unterstützung und Hilfsmittel
  • Freie, gesicherte Atmung
  • Kein gastropharyngealer Reflux oder rezidivierendes Erbrechen
  • keine absehbare OP
  • stabile Vitalparameter
Unmittelbar nach erfolgter Dekanülierung sind folgende Interventionen essenziell:
  • Transstomatale endoskopische Inspektion und Kontrolle
  • Bei Bedarf HNO bzw. Chirurgisches Konsil
  • Chirurgischer Verschluss des plastischen Stomas
  • Zuziehen der Expertise eines Wundmanagers

Dysphagietherapie und Maßnahmen

Kausale, restituierende Dysphagietherapie
Ziel der kausalen, restituierenden Behandlungsmethoden ist das Erreichen einer maximalen Verbesserung bzw. Erhaltung sensomotorischer Funktionen und das Hemmen pathologischer Bewegungsmuster des willentlichen und reflektorisch gesteuerten oropharyngealen Schluckaktes. Bei der Behandlung der Dysphagie kommen folgende Interventionen zum Einsatz:
  • Basale Stimulation
  • Oralmotorik
  • Mobilisation Velum
  • Mobilisationstraining Pharynx
  • Mobilisation Larynx
  • Thermische und taktil-manuelle Schluckreflexstimulation
  • PHAGENYX®-Stimulation in Abhängigkeit der Ätiologie mit fachärztlicher, intensivmedizinischer Beratung und Entscheidung (Abb. 22)
  • TENS®-Stimulation
  • Atem – Phonationstherapie mit Unterstützung maschineller, manueller Unterstützung und Handhabung von Hilfsmittel
Kompensatorische Dysphagietherapie
Unter kompensatorischen Behandlungsmaßnahmen versteht man schlucktechnische Manöver, die direkt während des Schluckaktes angewendet werden, um die Physiologie des Schluckaktes zu beeinflussen, ohne das zugrunde liegende neuromuskuläre Defizit zu beeinflussen. In Anlehnung an die zugrunde liegenden funktionellen motorischen und/oder sensorischen oropharyngealen Störungsschwerpunkte und unter entsprechenden therapeutisch nutzbaren kognitiven Fähigkeiten des Patienten werden angeführte Techniken hinsichtlich ihrer Effizienz gewählt, geprüft, konditioniert und in der Sicherstellung einer disziplinierten Anwendung im Rahmen einer therapeutischen Essensbegleitung supervidiert.
Die Entscheidung und Adaptation der individuell geeigneten schlucktechnischen Maßnahmen, die hier als Auswahl dargestellt sind, werden im Rahmen der FEES individuell gesichert und entschieden:
  • Änderung der Kopfhaltung
  • Mendelsohn-Manöver
  • Masako-Manöver
  • Supraglottisches Schlucken
  • Super-supraglottisches Schlucken
  • Kräftig Schlucken
  • Nachschlucken im Sinne des Leeschluckens
  • Hochgurgitieren/Ausspucken
  • Diätetische Anpassung (IDDSI 0–7)
  • Boluskontrolltechniken wie z. B. Three-second prep, lingual sweep, cyclic ingestion, dry swallow, modification of bolus size
Maßgeblich ist dabei die Fähigkeit einer disziplinierten, verbindlichen Umsetzung bei jedem Bolusabschluck unter Berücksichtigung einer möglichen ideomotorischen apraktischen Komponente und neuropsychologischer Defizite (Bartolome 2014).
Schluckempfehlung und Empfehlung für TKM und pflegetherapeutische Essensbegleitung
Im Prozess des therapieorientiert diagnostischen Dysphagieverlaufes werden stetig individuelle Maßnahmen zielorientiert evaluiert, um partizipatorisch schnellstmöglich eine therapeutisch supervidierte oder pflegetherapeutisch angeleitete Essensbegleitung anzubieten. Dabei werden patientenspezifisch angepasste schlucktechnische Manöver und modifizierte diätetische Maßnahmen (z. B. SBS und FOIS in Anlehnung an IDDSI Scale) unter Berücksichtigung eines angepassten Sondenregimes angestrebt. Um die Transparenz aller Maßnahmen interdisziplinär zu sichern werden diese täglich neu, direkt am Patientenbett in Form einer Empfehlung sichtbar gemacht (Abb. 23).
Mundpflege
Eine im Tagesverlauf wiederholt angebotene Mundhygiene wird bei (neurologisch) intensivpflichtigen PatientInnen mit hohem Infektions- und Entzündungsrisiko eine ganz bedeutende, unverzichtbare Rolle der interdisziplinären pflegetherapeutischen Maßnahme zugeordnet (Gottschalck 2007).
Sie dient nicht nur der Hygiene und Aufrechterhaltung eines physiologischen Mundmilieus, sondern auch begleitend einer basalen Stimulation mit Anbahnung hochautomatisierter oraler Bewegungen und in Folge einer sich entwickelnden Schluckakteinleitung, einer Desensibilisierung und Hemmung oraler Schablonen und pathologisch funktioneller oraler Mechanismen. Daher vermag die Mundpflege auch vielen funktionellen Komplikationen entgegenzuwirken.
Bei neurologischen Patienten mit Dysphagie mit und ohne Endotrachealtubus oder Trachealkanüle bei Penetrations- bzw. Aspirationsrisiko entscheiden diese Aspekte auch den Einsatz und die Handhabung interdisziplinär vertretbarer lokal angewandter Medikamente und Mundspüllösungen wie beispielsweise zur Behandlung von hartnäckigem Zungenbelag, Soor oder Entzündungen.
Alle zu berücksichtigenden praktischen Empfehlungen im Hinblick auf differenzierte oropharyngeale Dysphagien, Apraxien, kognitiv-funktioneller Planungs- und Handlungsfertigkeiten werden im Rahmen der individuellen professionellen Schluckempfehlung interdisziplinär transparent festgehalten.
Besonderer Fokus gilt der Kontrolle des Zahnstatus mit und ohne Tubus und der Gefahr von Zahnverlust mit dem Risiko einer Penetration oder Aspiration. Auch die Prothesenkontrolle und -pflege wird in das interdisziplinäre pflegetherapeutische Setting eingebunden und wird bei Bedarf auch Zahn- bzw. kieferfachärztliche konsiliarisch abgeklärt.
Schlecht haftende Vollprothesen und Teilprothesen können ebenfalls ein hohes Penetrations- und Aspirationsrisiko darstellen.
Cave
Das interdisziplinäre, professionelle Handling des oralen, transnasalen, nasotrachealen und endotrachealen Absaugen unterliegt den Standards der jeweiligen ICU Stationen.
Auch die Nasenpflege wird in der Dysphagiebehandlung mitberücksichtigt.
Schluckapraxie
Dabei handelt es sich um eine funktionelle willentliche Planungsstörung supra-und subglottischer Schutzmechanismen und Klärungsmanöver wie z. B.:
  • Willentliches Räuspern mit bewusst nachfolgend willentlichem Einleiten des Leerschluckens
  • Willentliches Husten mit bewusst nachfolgend willentlichem Einleiten des Leerschluckens
  • Willentliches Hochgurgitieren und Ausspucken
  • Willentliche Phonationsprüfung
  • Willentliche Umsetzung gezielter Schluckmanöver
Therapie zentraler Gesichtslähmung und Facialisparese
Bei Erhebung und Behandlung von Dysphagien spielt eine weitere neurologische Begleiterscheinung nämlich die der zentralen Gesichtslähmung und peripheren Facialisparese eine Rolle. Sie wird häufig per Blickdiagnose gestellt. Bei peripheren Lähmungen ist die untere und obere Gesichtshälfte also der Stirn- Nase- und Mundas betroffen. Bei zentralen Lähmungen ist überwiegend nur die untere Gesichtshälfte also der Nase und Mundast betroffen. Zusätzlich abgeklärt werden Störungen der Tränen- Nasen- und Speichelsekretion, des Geschmacksempfindens, der Sensibilität im Gesichtsbereich und der Lärmempfindlichkeit.
In der Behandlung finden manuelle, funktionelle und thermale Ansätze Anwendung wie z. B.
  • Orofaciale Regulationstherapie ORT nach Castillo Morales
  • Propriozeptive-Neurologische Fazilitation nach Kabath, Knott & Voss
  • funktionelle Elektrostimulation
  • Transkutane elektrische Nervenstimulation TENS®/STIWELL®
  • Tape

Der neurologische Patient

Infolge der Immobilität sowie verschiedenster metabolischer Veränderungen im Rahmen einer intensivmedizinischen Behandlung kommt es zu Veränderungen an Weichteilen, Muskeln, Gelenken sowie dem kardiorespiratorischen System. Bei neurologischen Patienten kommen zusätzlich sensomotorische, sprachliche und kognitive Ausfälle hinzu. All diese Veränderungen und Ausfallserscheinungen bedürfen eines möglichst intensiven und frühzeitigen Wiederaufbaus und Trainings.
Beim Training nach zentralen Läsionen fand in den letzten Jahrzehnten ein deutlicher Paradigmenwechsel in der Neurorehabilitation statt. Wurde in der Vergangenheit das „spastische Muster“ behandelt, orientiert man sich heute an der Untergliederung der Symptome des Syndroms des Oberen Motoneurons (Upper Motor Neuron Syndrome – UMNS). Diese Differenzierung ermöglicht eine genauere Klassifikation der Symptome sowie eine effektivere Behandlung derselben. Tab. 3 gibt einen Überblick über die Phänomene des UMNS.
Tab. 3
Überblick über die Symptome des UMNS, Schönherr 2000, modifiziert nach Sheen in Barnes (Sheen 2001)
Positive (Plus) Phänomene
Negative (Minus) Phänomene
Adaptive Phänomene
Hyperreflexie mit Irradiation
Muskuläre Schwäche: Parese, Plegie
Biomechanische Veränderungen in Muskel- und Bindegewebe
Klonus
Verlust der Geschicklichkeit
Verändertes motorisches Verhalten
Positives Babinskizeichen
Schnelle Ermüdbarkeit
Kontrakturen
Spastizität
Inadäquate Kraftgeneration
Atrophien
Extensorspasmen
Verlangsamte Bewegungen
 
Flexorspasmen
  
Massenreflexe
  
Ko-Kontraktion
  
spastische Dystonie
  
assoziierte Reaktionen
  

Positive Phänomene des Syndroms des Oberen Motoneurons

Wie aus Tab. 3 ersichtlich, zählen weit mehr Symptome zu den positiven Phänomenen als die Spastik. Diese Symptome, die häufig miteinander in Zusammenhang gebracht werden, haben jedoch unterschiedliche Entstehungsursachen und bedingen sich nicht gegenseitig.
Tonussteigerungen der Muskulatur haben bei neurologischen Patienten neuronale und biochemische Ursachen. An Intensivstationen werden häufig Tonuserhöhungen nach Mittelhirnsyndrom gesehen. Diese haben einen rigiden Anteil, der auf supraspinale Enthemmungsphänomene, beruhend auf einem kontinuierlichen efferenten Einstrom auf die α-Motoneurone, zurückzuführen ist und sich meist spontan bis zu einem gewissen Grad zurückbildet (Freivogel 1997). Diese dystone Komponente führt zu starken Beeinträchtigungen der Funktion, auch aufgrund ihrer immensen Auswirkungen auf den Bewegungsapparat.
Die aktuelle Literatur zeigt jedoch für supraspinale Tonuserhöhungen, wie z. B. bei Schlaganfall, dass die Spastik nicht die Hauptursache für funktionelle Beeinträchtigungen darstellt. Im Gegenteil, ein aktives aufgabenorientiertes Training kann Plusphänomene wie etwa Spastik, Ko-Kontraktion oder assoziierte Reaktionen positiv beeinflussen (Schönherr 2010).

Negative Phänomene des Syndroms des Oberen Motoneurons

Negative Phänomene sind das Hauptproblem nach zentralen Läsionen. Die Parese wird definiert als eine verringerte Rekrutierung motorischer Einheiten (Gracies 2005). Hinzu kommt, wie auch bei nicht neurologischen Patienten, eine zusätzliche Abschwächung der weniger bis nicht betroffenen Muskulatur durch Immobilität und Nichtgebrauch. Dieser Nichtgebrauch resultiert aus dem erschwerten bzw. unmöglichen Einsatz der Extremität und der zunehmenden Kompensation der anderen Seite (Teixeira-Salmela et al. 2001). Hinzu kommen verlangsamter Kraftaufbau und inadäquater Krafteinsatz. Durch biomechanische Veränderungen der Weichteile ist ein zusätzlicher Widerstand bei Bewegung zu überwinden.
Das Ziel der motorischen Frührehabilitation muss deshalb eine frühest mögliche Optimierung motorischer Funktionen sein. Aktuelle Arbeiten belegen, dass für die Physiotherapie zentraler Störungen die Implementierung der theoretischen Grundlagen des Lernens – insbesondere des motorischen Lernens – zur Wiederherstellung motorischer Funktionen zielführend ist (siehe Abschn. 5.1).

Adaptive Phänomene des Syndroms des Oberen Motoneurons

Im Rahmen einer intensivmedizinischen Behandlung kommt es zu anatomischen, metabolischen und funktionellen Anpassungen am Bewegungsapparat, v. a. bedingt durch die Immobilität. Diese Veränderungen beeinträchtigen wiederum das neuronale System und die motorischen Fähigkeiten. Zu den typischen Veränderungen zählen (Carr und Shepherd 2008; Sinkjaer und Magnussen 1994):
  • gesteigerte Muskelsteifheit
  • Veränderungen elastischer Eigenschaften der Muskelzellen
  • struktureller Umbau des Muskels und des Bindegewebes
  • Veränderte motorische Muster
  • erlernter Nichtgebrauch der Extremität
Durch diese Veränderungen werden die Muskeln schwächer, steifer und langsamer, was wiederum zu einer verminderten Leistungsfähigkeit des Patienten führt. Diese Veränderungen finden relativ schnell statt – teilweise schon innerhalb von wenigen Tagen – da sich das Bewegungssystem immer an dessen aktuelle Beanspruchung anpasst.
Das veränderte motorische Verhalten, welches bei vielen Patienten zu beobachten ist, beruht in der Frühphase häufig auf Paresen und muskulären Dysbalancen, in späteren Phasen kommen muskuläre Steifheit und Kontrakturen hinzu. Zu den Aufgaben der Physiotherapie bei der Behandlung adaptiver Phänomene zählen somit die Prophylaxe und Behandlung muskuloskeletaler Veränderungen, z. B. in Form von Muskeldehnungen, bevorzugt unter Gewichtsbelastung oder durch die Anwendung manualtherapeutischer Techniken. Weitere Schwerpunkte sind die Muskelkräftigung zur Beeinflussung der muskulären Dysbalancen und das Erhalten bzw. das Aufbautraining einer kardiovaskulären Fitness (siehe Abschn. 3.23.3 und 3.5).

Motorisches Lernen und Training

Moderne Behandlungsansätze haben sich durch den Nachweis von neuronalen Veränderungen auf struktureller und funktioneller Ebene sowie das Wissen über die neuronale Plastizität von eher restriktiven hin zu übungsdominanten Behandlungsmethoden, die den Prinzipien des motorischen Lernens folgen, entwickelt (Shepherd und Carr 2005).
Das motorische Lernen beschäftigt sich mit den idealen Übungs- und Lernbedingungen und beschreibt die mit dem Training und der motorischen Erfahrung einhergehenden Prozesse zur relativ permanenten Aneignung motorischer Fertigkeiten (Schmidt et al. 2019). Auch wenn die neuro-plastischen Veränderungen im Gehirn beim Patienten mit und ohne neurologische Schädigung unterschiedlich sind, sind die Grundsätze und Prinzipien des motorischen Lernens doch für jeden dieselben.

Motorischen Lernen

Der Prozess des motorischen Lernens gliedert sich in drei Phasen, die fließend in einander übergehen (Fitts und Posner 1967).
In der ersten Lernphase ist der Lernende vor allem damit beschäftigt, die richtige Strategie zur Zielerreichung zu erarbeiten, weshalb sie auch als kognitive Phase bezeichnet wird. Effektive Strategien werden beibehalten und uneffektive wieder verworfen. Der Therapeut kann den Patienten bei der Strategiefindung durch manuelle Hilfestellungen oder durch Feedback während der Bewegung unterstützen. Verbales Feedback soll vom Wortlaut her möglichst gleich, einfach und prägnant sein (Freivogel und Fries 2010). In dieser Lernphase sieht der Therapeut den größten Lernfortschritt, auch wenn die Bewegungen noch sehr variabel sind (Schmidt et al. 2019).
Die zweite Lernphase wird als assoziative Phase bezeichnet. In diesem Zeitraum werden motorische Bahnen konsolidierter, die Variabilität in der Bewegung nimmt ab und die Bewegungsstrategie wird weitgehend gefestigt (Wulf 2010). Der Lernfortschritt wird somit für den Therapeuten weniger offensichtlich. Auf manuelle Unterstützung sollte in dieser Lernphase weitestgehend verzichtet werden und Feedback sollte eher mit Latenz erfolgen, um sich nicht mit dem intrinsischen Feedback der Bewegungskontrolle zu überschneiden (Majsak 1996).
Die autonome Phase ist die dritte und letzte Phase des motorischen Lernprozesses. In dieser Phase ist die Bewegung automatisiert. Sie kann somit ohne größere Aufmerksamkeit oder Konzentration durchgeführt werden, was den Fokus auf andere Aspekte der Aufgabe lenkt sowie auch eine Variation der Bewegung möglich macht (Wulf 2010).
Lernphasen:
1.
Kognitive Phase (Erwerb): Die motorische Aufgabe wird verstanden und Strategien zur Bewältigung werden gesucht.
 
2.
Assoziative Phase (Retention): Die Strategie zur Bewegungsdurchführung ist weitgehend gefestigt.
 
3.
Autonome Phase (Transfer): Die Bewegung ist automatisiert und die Übung kann variiert werden.
 
Beim motorischen Lernen sollte darauf geachtet werden, die zu erlernende Bewegung häufig zu wiederholen (siehe Abschn. 5.1.1), in einem späteren Lernstadium auch mit kleinen Variationen, um die Motivation des Patienten zu halten. Um das Lernen zu ermöglichen und Überforderung zu vermeiden, müssen der Übende stets an seine Leistungsgrenze herangeführt werden (siehe Abschn. 5.1.2). Die Inhalte der therapeutischen Behandlung sollen vorwiegend aufgaben- und handlungsorientiert sein, da plastische Veränderungen auf neuronaler und biomechanischer Ebene in der Aktivität reorganisiert werden (siehe Abschn. 5.1.5). Dabei sollen jene Übungen gewählt werden, die für den Patienten relevant sind, damit der Lernende die notwendige Aufmerksamkeit und Motivation aufbringen kann. Damit die richtige Auswahl gelingt, ist eine gemeinsame Zielformulierung unerlässlich (siehe Abschn. 2.5). Soweit es die motorischen Voraussetzungen des Patienten erlauben, sollen Übungen zudem alltagsnahe gewählt werden (siehe Abschn. 5.1.6). Des Weiteren ist es für den Patienten von Vorteil, wenn er sich in einer Umgebung befindet, die ihm Bewegungen und Handlungen entsprechend seiner motorischen Voraussetzungen ermöglicht und ihn dazu animiert, selbst aktiv zu werden. Diese handlungsfördernde Umgebung wird im Fachterminus als „Enriched Environment“ bezeichnet und wirkt sich positiv auf die Reorganisation und somit auf den Rehabilitationsprozess aus (siehe Abschn. 5.1.4).
Der motorische Lernprozess kann durch den Behandler optimal unterstützt werden, wenn auf die Einhaltung gewisser Prinzipien geachtet wird:
  • Repetition
  • Variation
  • Shaping
  • Alltagsnähe
  • Handlungs- und Zielorientierung
  • Enriched Environment
Wenn diese Grundprinzipien befolgt werden, ist dies eine ideale Voraussetzung für einen soliden Lernprozess. Allerdings können verschiedenste Faktoren, wie z. B. Das Ausmaß der Eigenmotivation des Lernenden, diesen Prozess fördern oder hemmen. Man spricht hierbei von positiv oder negativ beeinflussenden Faktoren. Motivation ist der wahrscheinlich zentralste Aspekt (Wulf 2010). Durch bereits gemachte Bewegungserfahrung und Übungserfolge ergibt sich die Motivation „von innen heraus“, die intrinsische Motivation des Lernenden. Die Motivation kann allerdings auch durch äußere Faktoren gefördert werden, also vom Lehrenden. Dies ist in der Therapie vom Behandler vor allem durch eine gemeinsame Zielformulierung und durch positive Verstärkung zu erreichen. Positive Verstärkung kann der Therapeut am besten durch Feedback einer gelungenen Bewegung geben (externes Feedback). Der Patient kann jedoch auch durch intrinsisches Feedback der Bewegungswahrnehmung positiv beeinflusst werden (Freivogel und Fries 2010). Die Möglichkeit zu positiver externer oder intrinsischer Rückmeldung setzt jedoch immer die adäquate Anpassung der Übungsschwierigkeit („Shaping“) voraus. Hat der Lernende, vor allem in der frühen Lernphase, noch Schwierigkeiten die Bewegung durchzuführen, kann der Therapeut durch manuelle Unterstützung („hands-on“) den Patienten beim Erlernen der Bewegung unterstützen. In späteren Lernphasen sollte auf diese Unterstützung jedoch verzichtet werden können („hands-off“).
In den letzten Jahren rückte die Wichtigkeit des Fokus der Bewegung in den Vordergrund. Studien haben gezeigt, dass wenn der Bewegungsfokus von intern „Beugen Sie den Arm!“ auf extern „bringen Sie das Glas zum Mund!“ (siehe Abschn. 4.2.3) verschoben wird, die Bewegungserfolge größer sind (Wulf 2011).
Jeder Lernprozess kann durch verschiedene beeinflussende Faktoren jedoch auch positiv oder negativ gelenkt werden:
  • Motivation
  • Positive/negative Verstärkung
  • Feedback
  • Manuelle Unterstützung
  • Fokus
Verschiedenste therapeutische Methoden, die unterschiedlich intensiv auf die einzelnen Prinzipien des motorischen Lernens fokussieren, haben sich bereits evidenzbasiert etabliert, wie zum Beispiel Laufbandtherapie, Robotics, funktionelle Elektrostimulation, rhythmisch-akustisches Cueing, aufgabenorientiertes Training und mentales Training.

Repetition

Eine hohe Widerholungszahl ist unabdingbar für den Erwerb motorischer Fähigkeiten (Hauptmann und Müller 2011; Lang et al. 2007, 2009), da neuroplastische Veränderungen auf Basis einer wiederholten Stimulation eintreten. Dieser wiederholte Stimulus wird auch als „Long-term Potentation“ (LTP) oder Langzeitpotenzierung bezeichnet und führt dazu, dass sich die synaptische Effizienz und somit die Erregungsübertragung von Zelle zu Zelle verbessert (Bliss und Lomo 1973). Repetition meint allerdings nicht das exakte Wiederholen einer speziellen Übung, sondern das Üben einer Aktivität unter unterschiedlichen Kontextbedingungen (Mulder 2007). Die Variabilität in der Übung soll allerdings lediglich durch kleine Veränderungen erfolgen. Sie kann jedoch im Lernverlauf zunehmend gesteigert werden. Dieses Leitprinzip des motorischen Lernens wird auch als „Repetition ohne Repetition“ bezeichnet (Wulf 2010). Ist eine Bewegung bereits gefestigt, kann eine Steigerung des Schwierigkeitsgrades in den verschiedenen Komponenten, wie zum Beispiel Geschwindigkeit oder Bewegungsausmaß, erfolgen.

Shaping

Die Steigerung des Schwierigkeitsgrades beziehungsweise die grundsätzliche Anpassung an die Leistungsgrenze, im Falle auch die Reduktion der Schwierigkeit, wird als „Shaping“ bezeichnet. Übungen können grundsätzlich vom Einfachen zum Komplexen gesteigert oder in die entgegengesetzte Richtung vereinfacht werden (Freivogel und Fries 2010). Anpassungen können auf unterschiedlichsten Ebenen erfolgen, wie zum Beispiel durch die Anzahl der eingebundenen Körperteile, die Art der Ausgangsstellung oder die Geschwindigkeit der Bewegung (Meier 2021).
Bei neurologischen Patienten kann, zur Förderung der betroffenen Extremität und deren Einbeziehung in alltägliche Handlungen, das „Shaping“ der betroffenen Extremität gemeinsam mit der Restriktion (Einschränkung) der nicht-betroffenen Extremität hilfreich sein. Die Restriktion dient dazu, einem erlernten Nichtgebrauch vorzubeugen. Der „Learned Nonuse“ beschreibt die Situation, wenn die positive Bewegungserfahrung mit der gesunden Seite gegenüber der negativen Erfahrungen mit der betroffenen Seite dazu führen, dass die betroffene Extremität nicht mehr eingesetzt wird (Taub et al. 1994).

Externer Fokus

Beim motorischen Lernen ist es wichtig, die Aufmerksamkeit des Patienten auf die Übung zu richten, dies kann durch einen internen oder externen Fokus geschehen. Der Patient kann sich einerseits auf die Bewegung konzentrieren, die der Arm durchführt, also zum Beispiel sich strecken (interner Fokus). Die Anleitung würde hierbei lauten „strecken Sie den Arm!“. Eine andere Möglichkeit ist es, den Aufmerksamkeitsfokus auf einen Gegenstand zu lenken, wie beispielweise ein Glas (externer Fokus). Die Aufforderung heißt hierbei „ergreifen Sie das Glas!“. Obwohl die Bewegung in beiden Fällen die Gleiche ist, hat sich in Studien die Überlegenheit des Übens mit externem Fokus gezeigt (Wulf 2011). So ist also die Aufforderung nach einem Gegenstand zu greifen deutlich effektiver als jene den Arm zu strecken.

Das rehabilitative Setting „Enriched Environment“

Angelehnt an Untersuchungen auf diversen Stroke Units konnte gezeigt werden, dass Patientinnen nach Schlaganfällen nur durchschnittlich 12,8 % des Tages (von 9:00 bis 17:00) aktiv verbringen und die restliche Zeit im Bett liegen oder im Rollstuhl sitzen (Bernhardt et al. 2004). Es ist also zu hinterfragen, inwieweit das rehabilitative Setting an ICU’s eine aktivierende und fördernde Umgebung darstellt und ob es genügend Anreize für (motorisches) Lernen anbietet. Ergebnisse aus experimentellen Studien belegen, dass eine zur körperlichen und geistigen Aktivität anregende Umgebung die neuronale Reorganisation und funktionelle Wiederherstellung nach einer Hirnschädigung fördern. Deshalb ist es das Ziel der Rehabilitation auf ICU’s vom ersten Tag an ein Umfeld zu schaffen, das körperliche und mentale Aktivität sowie Lernen ermöglicht (Carr und Shepherd 2008). Eine erfolgreiche Umsetzung ist daher von einer guten interdisziplinären Zusammenarbeit und der Koordination personeller, materieller und räumlicher Ressourcen abhängig.
Die traditionell praktizierte 1:1 „Beübung“ durch den Therapeuten, in kurzen, dafür eventuell mehrmaligen, auf die Belastbarkeit der Patienten abgestimmten Tageseinheiten, sollte inhaltlich so an die Leistungsgrenze des Patienten angepasst werden, dass der Patient auch einige Übungen eigenständig durchführen kann. Durch Anleitung und Absprache aller beteiligten Berufsgruppen sowie der Einweisung der Angehörigen des Patienten kann zusätzliches Training ermöglicht werden. Um Überforderung zu vermeiden, sind ein guter Informationsfluss und eine gute Abstimmung zwischen anstehenden Pflegemaßnahmen, ärztlichen Interventionen oder externen Untersuchungen notwendig.
Durch konkrete Übungsvorgaben, was der Patient selbst wann und wie häufig machen sollte, und durch Zurverfügungstellung von Trainingsgeräten auf der Station, wie zum Beispiel MOTOmed® und Ergometer für motorisches Training aber auch Tabletts, Laptops, Papier-Bleistift Aufgaben für die kognitive Aktivierung, kann das Trainingsquantum ebenfalls erhöht werden. Auch Mentales Training und Bewegungsbeobachtung wirken sich positiv aus und stellen zusätzliche Trainingsmöglichkeiten dar. Ein Trainingstagebuch kann ebenfalls motivieren.
Eine der wichtigsten Aufgaben des Therapeuten ist es somit Bedingungen zu schaffen, die das eigenständige Training, dadurch eine häufige Wiederholung und somit das motorische Lernen, fördern.
Lernen erfordert aber auch eine Umgebung die frei von störenden, und ablenkenden Faktoren ist. Eine solche zu erreichen ist für Therapeuten auf den funktionell und offen gestalteten ICU’s häufig eine große Herausforderung. Wichtig ist eine, wenn möglich, ruhige Geräuschkulisse. So sollte zum Beispiel Fernsehen nur mit Kopfhörern erfolgen und Telefone auf lautlos gestellt werden. Schutz vor visuellen Ablenkungen bieten Paravents oder Vorhänge.
Die unbekannte Umgebung der ICU mit vielen unbekannten Gesichtern kann vor allem von kognitiv betroffenen bzw. deliranten Patienten als bedrohlich und nicht einordbar wahrgenommen werden. Dies beeinträchtigt den Prozess der Reorientierung. Die Möglichkeit von dimmbarem Licht bzw. eine Verdunkelungsmöglichkeit ist in Betracht zu ziehen, um einen physiologischen Tag-Nacht Rhythmus zu erreichen. Geeignet sind auch Orientierungshilfen im Blickfeld des Patienten wie zum Beispiel Magnettafeln mit Datumsanzeige, Fotos von Angehörigen und Haustieren oder persönlich wichtigen Gegenstände (Schönherr et al. 2018).

Aufgabenorientiertes Training

Beim motorischen Lernen gilt der viel zitierte Grundsatz „man lernt nur das, was man macht und nur dann, wenn man es wirklich tut“. Das heißt, ein Patient erlernt nur jene Fertigkeiten, die er tatsächlich trainiert. Das bedeutet, dass für den Patienten relevante Funktionen wie das Umdrehen, Sitzen, Stehen, Gehen oder das Handling von Gegenständen geübt werden müssen, um wieder Zugang zu diesen Funktionen zu finden (Abb. 24). Therapeuten können nicht von einer Übertragung von Fertigkeiten, beispielsweise von einer Ausgangsstellung in die andere, ausgehen. Auch Einzelaspekte, die sich gegenseitig bedingen können, und Teilaspekte können nicht automatisch in den motorischen Ablauf integriert werden und müssen somit im Gesamtablauf trainiert werden (Schönherr 2010). Das Training muss also adäquat aufgebaut sein und phasenweise, angepasst an das Leistungsniveau des Patienten, gesteigert werden, um Lernerfolge zu ermöglichen (siehe Abschn. 5.1.2). So kann zum Beispiel das Aufstehen zu Beginn aus erhöhten und härteren Sitzpositionen geübt werden, dann aus einer niedrigen und härteren Sitzposition, um schließlich aus einer niedrigen weichen Sitzposition, wie zum Beispiel dem Bett, aufstehen zu können. Zum Üben des Stehens kann in manchen Fällen auch ein „Fallschirmgurt“ hilfreich sein, um den Patienten die Angst vor dem Stürzen zu lindern (Schönherr et al. 2018).

ADL Training

Diese oben genannten Grundsätze des aufgabenorientierten Trainings kommen im Besonderen beim spezifischen Training von Aktivitäten des täglichen Lebens (ADLs) zur Anwendung. ADL-Training beinhaltet alle Übungen zum Wiedererwerb der Selbstständigkeit im Alltag in den Bereichen Mobilität und Selbstversorgung. Besonderes Augenmerk liegt initial auf der Durchführung von Basis-ADLs, wie zum Beispiel Zähne putzen, sich Waschen, Essen und Trinken sowie das Drehen und Aufsetzen im Bett. Im Laufe des Rehabilitationsprozesses gewinnt aber auch das Training von instrumentellen ADLs, wie zum Beispiel Aktivitäten in den Bereichen des häuslichen Lebens und anderen für den Patienten wichtigen Lebensbereichen, an Bedeutung.
Das Ziel des ADL-Trainings ist es, mit dem Patienten dessen Handlungs- und Partizipationsfähigkeit für die spezifischen Alltagsanforderungen wieder zu erarbeiten sowie seine Handlungsrollen aufrechtzuerhalten. Auf Intensivstationen ist ein umfängliches ADL Training – zum Beispiel im Stationsbad – zwar nur mit wachen und kardial stabilen Patienten möglich, jedoch können schon bei beginnender Wachheit bei der ersten Mobilisation Handlungssequenzen angeboten werden, die im Verlauf der Therapie ständig erweitert werden. Solche Handlungssequenzen können beispielsweise das Haare kämmen oder das Gesicht waschen mit einem Waschlappen sein (Abb. 25). Dies bietet dem Patienten eine gute Möglichkeit sich zu orientieren, in der Gegenwart anzukommen und vermittelt ein Gefühl der Selbstwirksamkeit. Für Therapeuten sind diese Aktivitäten eine gute Gelegenheit zur Befunderhebung (siehe Abschn. 2). Mittels Aktivitätsanalyse und gezielter Beobachtung können die Ressourcen und Schwierigkeiten des Patienten in den verschiedenen ICF-Ebenen (World Health Organization 2001) eingeordnet (siehe Abschn. 1.2) und in die Awareness-Erarbeitung mit dem Patienten eingebaut werden.
ADL-Training beschreibt das Training zum Wiedererwerb der Selbstständigkeit im Alltag in den Bereichen Mobilität und Selbstversorgung. Beim ADL- Training werden die bisher eher puzzleartig in kurzen Sequenzen trainierten Funktionen und Aktivitäten zu einem Gesamtbild von motorischen und kognitiven Fähigkeiten zusammengesetzt.
Wichtige Aspekte des Trainings von Alltagsaktivitäten sind hierbei:
  • Im Prozess sollen gemeinsam mit dem Patienten die bisher formulierten Ziele reevaluiert und angepasst werden
  • Die Rahmenbedingungen und die Unterstützung des Therapeuten sollen gewährleisten, dass der Patient an seiner Leistungsgrenze möglichst selbstständig arbeitet (siehe Abschn. 5.1.2)
  • Handlungen sollen „eingeschliffen“, wiederholt und mit positivem Feedback verstärkt werden – auch hier gelten die Trainingsprinzipien
  • Das Erarbeiten von Problemlösungsstrategien soll dem Patienten dabei helfen, Handlungen selbstständig ausführen zu können. Solche Strategien können zum Beispiel das Anleiten der Reihenfolge beim Anziehtraining bei Patienten mit Hemiplegie sein.
  • Der Gebrauch von Hilfsmitteln kann beim ADL Training eintrainiert werden, wenn die Hilfsmittel einerseits die vorübergehende selbstständige Durchführung der Handlung ermöglichen oder andererseits wenn es prognostisch realistisch erscheint, dass Defizite bestehen bleiben, die kompensiert werden müssen (Schönherr et al. 2018).

Motorische Fähigkeiten

Unter motorischen Fähigkeiten werden die Begriffe Ausdauer, Kraft, Schnelligkeit, Koordination und Beweglichkeit subsummiert.
Die Intensivmedizin ermöglicht es einer immer größeren Anzahl an Patienten die Akutphase schwerer Erkrankungen und Unfällen zu überleben. Durch die – teilweise Wochen bis Monate andauernden – Behandlungen dieser akut lebensbedrohlichen Zustände kommt es bei allen fünf motorischen Fähigkeiten zu Einbußen. Unabhängig von der Grunderkrankung ist die Funktionsfähigkeit im Alltag und die soziale Reintegration zum größten Teil von der Funktionsfähigkeit des zentralen und peripheren Nervensystems, des muskuloskeletalen Systems, der kardiovaskulären Fitness und der psychischen Situation abhängig (Pieber et al. 2013).
Alle diese fünf motorischen Fähigkeiten sind bei Patienten nach intensivmedizinischer Behandlung beeinträchtigt. Praxiserfahrungen zeigen, dass mit der Verbesserung in einem bestimmten Bereich eine Leistungssteigerung der anderen motorischen Fähigkeiten einhergeht. Besonders zwischen der Ausdauerfähigkeit und den weiteren motorischen Fähigkeiten zeigte sich eine enge Verbindung. Daraus wird geschlossen, dass der Ermüdungswiderstandsfähigkeit eine hohe fähigkeitsübergreifende Bedeutung zukommt (Bergmann 2008).

Prinzipien des Trainings

Ziel eines Rehabilitationsteams einer ICU ist es, die Organsysteme (nerval, muskuloskeletal, kardiovaskulär, psychisch) so früh wie möglich zu fördern und Sekundärschädigungen zu verhindern oder zu vermeiden.
Um die motorischen Fähigkeiten bestmöglich zu aktivieren, sollte nach trainingsmethodischen Aspekten vorgegangen werden. Ob bei Spitzensportlern oder bei intensivpflichtigen Patienten kann dieses System angewandt und mittels Shaping perfekt auf den Patienten adaptiert werden (siehe Abschn. 5.1.2).
Training bedeutet die Anpassung des Körpers im Hinblick auf seine motorischen Fähigkeiten. Definiert wird ein Training durch viele Prinzipien. Im Folgenden werden diejenigen angeführt, die für Intensivpatienten und in der Frührehabilitation relevant sind:
Dem Patienten sollten möglichst viele Varianten eines Bewegungsablaufes angeboten werden. Alle motorischen Muster, die für das Erlernen von komplexen Bewegungsabläufen erforderlich sind, werden vom Gehirn integriert. Die Wiederholung festigt und sichert die Bewegungsabfolgen und ist die Basis für eine Steigerung.
Gerade beim Intensivpatienten muss beachtet werden, dass das Training nur im ermüdungsfreien Zustand effizient ist. Um erfolgreich zu sein, sollten eine kurze Belastungsdauer und lange Pausen gewählt werden.
Bei den Trainingsinhalten auf Intensivstationen und in der Frührehabilitation handelt es sich sehr oft um Bettmobilität, Sitz-Standtraining, Greif- und Hantierfunktion sowie um Manipulation. Die dazu benötigten Hilfsmittel, wie z. B. Stehbett oder Gurte unterstützen in erster Linie eine frühe Vertikalisierung des Patienten. Die Trainingseinheit muss mit dem Patienten besprochen werden, eine Aufklärung über den zeitlichen Verlauf und die Belastungen, die auf den Patienten zukommen, reduzieren die Angst und die Stressreaktionen. Es sollten auch in jeder Trainingseinheit klare Therapieziele für den Patienten formuliert werden. Durch die in den voran gegangenen Kapiteln besprochenen Assessments kann eine optimale Trainingskontrolle stattfinden.
Die Strukturierung durch allgemeine Trainingsprinzipien ermöglicht eine Trainingsanpassung. Darunter versteht man die funktionelle und morphologische Veränderung der Organsysteme auf die wirksamen Belastungsreize, sie ist ein Leitfaden für die Anpassung von Varianz, Wiederholung, Belastung und Methode (Nessizius et al. 2017).

Training spezifischer motorischer Fähigkeiten

Das Hauptproblem eines Intensivpatienten aus motorischer Sicht ist der schnelle Kraftverlust der Skelettmuskulatur. Je nach Schweregrad einer Erkrankung, kann oft der zusätzliche Energiebedarf des Intensivpatienten nicht mit künstlicher Ernährung kompensiert werden. Bei den meisten kritisch Betroffenen ist das Immunsystem stark aktiviert und greift vorzugsweise auf Proteine der Muskulatur zur Glukoseverarbeitung zurück.
Bei Patienten mit eingeschränkter motorischer Kapazität ist es ratsam, auch hinsichtlich psychologischer Aspekte, die noch gut einsetzbaren Körperbereiche zu trainieren. Dies steigert die differenzierte Wahrnehmung der Willkürmotorik des Patienten und seine Motivation. Wenn dieser sieht, dass Verbesserungen möglich sind, fällt es ihm leichter auch ein Training auf seine muskulär abgeschwächten Körperbereiche zu erweitern.
Aufgrund des erwähnten muskulären Abbaus ist das Ziel eines Krafttrainings mit Intensivpatienten eine Rekrutierung möglichst vieler motorischer Einheiten in einem Muskel, um eine intramuskuläre Koordination zu forcieren. Es muss eine neuronale Anpassung und somit eine schnelle Aktivierung der Alpha-Motoneurone stattfinden.
Es hat sich gezeigt, dass ein Ein – Zweisatztraining sinnvoll ist: jede Muskelgruppe wird – meist mit funktionellen Bewegungsmustern gegen Widerstand mit ein oder maximal zwei Wiederholungen für ca. zehn Sekunden beansprucht. Die Bewegungen können sowohl konzentrisch als auch supramaximal exzentrisch und bei 100 % der Maximalkraft isometrisch erfolgen (Nessizius et al. 2017).

Training globaler und spezifischer mentaler Funktionen

Die Therapie globaler und spezifischer mentaler Funktionen ist ein komplexes und teilweise vernachlässigtes Thema und erfordert eine gute Abstimmung im interdisziplinärem Setting, vor allem in der Befundung.
Eine fachübergreifende und alle Intensivstationen betreffende Komplikation stellt das Delir dar. Kritisch kranke Patienten haben ein hohes Risiko, ein Delir zu entwickeln. Unter Delir versteht man eine zerebrale Organdysfunktion. Es ist eine häufige Entität auf Intensivstationen. Das Auftreten eines Delirs erhöht die Morbidität und Mortalität und es kann des Weiteren auch zu kognitiven Langzeitfolgen kommen (Wolters et al. 2013).
Dabei scheint der Zeitfaktor wesentlich zu sein. Je länger das Delir auf ICU’s (und in weiterer Folge auf nachfolgenden Stationen) andauert, desto betroffener ist die Kognition des Patienten im Hinblick auf exekutive Funktionen und die allgemeine Kognition. Diese Problematik zieht sich bis in die Spätrehabilitation und beeinträchtigt Patienten über einen langen Zeitraum (Mehrholz 2014).
Die Therapie des Delirs ist bestimmt durch nicht pharmakologische Maßnahmen. Ziele sind die frühe Identifikation, Reorientierung und Mobilisierung des Patienten, darüber hinaus die Förderung der geistigen Aktivität und die Etablierung eines adäquaten Tag-Nacht-Rhythmus. Besonders beim Delirmanagement ist die interdisziplinäre Zusammenarbeit grundlegend und ein Schlüssel zum Erfolg (Kersten und Reith 2016).
Besonderes Augenmerk ist, abgesehen vom Delir, generell auf die kognitive Performance der Patienten zu legen. Fehlende oder nur geringe Fortschritte in der Rehabilitation können durch spezifische oder globale Störungen der Kognition mitbedingt sein.
Eine zeitlich engmaschige Evaluierung der globalen und spezifischen mentalen Funktionen mittels Assessments und gezielter Beobachtung in den ADLs, sollte im Verlauf eines Intensivaufenthaltes der Standard sein (siehe Abschn. 2.3 und 5.1.6). Anamnestisch werden vorbestehende kognitive Einschränkungen identifiziert, z. B. bedingt durch frühere neurologische Erkrankungen, Demenzen, oder psychiatrische Erkrankungen. Neurologische ICU’s spielen hier sicher eine Sonderrolle, da an diesen das gesamte Spektrum an fokalen und globalen mentalen Einschränkungen vorkommt. Aber auch auf ICU’s anderer Fachrichtungen sollte auch das therapeutische Team für die Kognition der Patienten sensibilisiert sein (Hypoxien nach Myokardinfarkt, etc.).
Das Training globaler und spezifischer mentaler Funktionen dient dazu, die kognitive Performans zu verbessern. Dies wird durch Aufklärung, Training und Beratung des Patienten und des sozialen Umfeldes angestrebt. Mit dem Patienten werden Hilfs- bzw. Kompensationsstrategien zur Bewältigung von Alltagsaktivitäten erarbeitet. Der Betroffene soll im aktiven handlungsorientierten Prozess eine Awareness dafür entwickeln, welche Hirnleistungen intakt sind und wo seine Schwierigkeiten liegen, um zu einer besseren Selbsteinschätzung bzw. -wahrnehmung zu gelangen. Das Training erfolgt durch das Lösen von Aufgaben auf der Aktivitätsebene sollte und in einer ruhigen Umgebung mit möglichst wenig Ablenkung stattfinden.

Sprachliche und Nicht-sprachliche Kommunikation

Diagnostik und Therapie von Sprach- und Sprechstörungen

Ein weiterer logopädischer Schwerpunkt in der Frühphase ist die Unterstützung einer erfolgreichen Kommunikation und das Erarbeiten diverser patientenspezifischer kommunikativer und sprachersetzender Strategien. Dies ist wesentlich, um das psychosoziale Wohlbefinden und auch die herausfordernde Kooperation im Klinikalltag zu optimieren. Diverse Studien bestätigen, wie gravierend linguistische und kognitiv-kommunikative Gesprächskompetenzdefizite zu Stressentwicklung beitragen (Menzel 1998; Green et al. 2018; McRae etal. 2020). Ebenso gibt es Zusammenhänge zwischen Patienten mit Mitteilungsstörungen und dem Vorhandensein eines Delirs. Bereits beim intubierten Patienten, der wach und mitteilungsbereit ist, ist es das frühe Ziel, aktive Verständigungswege und Strategien zur Verständnissicherung zu etablieren, um die Interaktion und die Verständnissicherung mit dem gesamten Rehabilitationsteam und den Angehörigen zu erleichtern.
Die gestörten linguistischen Sprachmodalitäten können sich in den ersten vier bis sechs Wochen zu einem gewissen Teil zurückbilden. Daher gilt es in einer prozesshaften und patientenspezifisch ausgerichteten Weise, die sich entwickelnden sprachlichen Fähigkeiten im Tagesgeschehen zu erkennen und zu nutzen. Diese werden an vorhandene Zusatzbeeinträchtigungen des Patienten, wie in etwa qualitative Bewusstseinsstörungen wie ein demenzieller Verlauf oder ein Delir angepasst. Mittels Screeningverfahren im Bedsideformat sowie diverser therapieorientierter Assessments wird eine Erstdiagnose bezüglich der rezeptiven und expressiven sprachlichen Fähigkeiten erstellt. Auf der Grundlage der ICF spielt der narrative Teil im Rahmen der Evaluation eine entscheidende Rolle.
Die orientierenden diagnostischen Mittel beziehen sich auf die Erhebung der aphasischen expressiven und rezeptiven Symptome, auf isolierter Wort-, Satz- und Textebene und einer Beurteilung begleitender buccofacialer und sprechapraktischer Komponenten, einer Dysarthrophonie und diverser begleitender kognitiver kommunikativer Beeinträchtigungen unter Berücksichtigung unterschiedlicher neurologischer Ursachen.
In diesem Sinne werden gezielte Aufgaben zusammengestellt für eine Einschätzung und nachfolgend auch zur Behandlung und Förderung sprachlicher und nicht sprachlicher Leistungen wie das globale Kommunikationsverhalten, die Spontansprache, Blick-und Kopfbewegungen, Singen, Reihen- und Floskelsprechen, Identifizieren von gegenständlichen Objekten, Benennen von Objekten, Artikulation und Phonation, auditives Sprachverständnis, Schriftsprache: Schreiben, Lesen und Umgang mit Zahlen genutzt.
Weiters geht es darum, individualisierte Programme, die auf Aktivitäts- und Partizipationsebene basieren wie z. B. Wortfindungsstrategien, self-cueing und Feedback zu erstellen. Diese zielen auf ein alltagsrelevantes Verständigungstraining mit der dazugehörigen Verständigungssicherung unter Einbeziehung sämtlicher verfügbarer konventioneller und elektronischer alternativen Kommunikationsmittel ab und werden je nach Vigilanz, kognitiver-exekutiver und motorischer, aber auch ideatorischer Fähigkeiten in der Akutphase eingesetzt. Im Repertoire befinden sich z. B. Schreibutensilien, Kommunikationstafeln, Bildtafeln, digital voice recorder, Piktogramme, Buchstabenboards, die mit Augen oder Fingerbewegungen angesteuert werden können und Tablet-Devices mit speziellen sprachrelevanten Programmen (je nach motorischen und kognitiven Fähigkeiten). Der Patient benötigt gerade frühzeitig die Sicherheit, dass seine Bedürfnisse wahrgenommen werden und seine Befindlichkeit sensibel erkannt und darauf kommunikativ eingegangen wird.
Nicht zu unterschätzen sind zahlreiche Missverständnisse, die nicht nur auf Einschränkungen des Verständnisses im verletzten Sprachsystem basieren, sondern auch im Zusammenhang mit Desorientierung und zahlreichen kognitiven Defiziten stehen können. Daher ist der gewünschte Abruf eines adäquaten und verbindlichen Ja/Nein Codes innerhalb einer Gesprächssituation mit Vorbehalt auszuwerten. Mitentscheidend sind wichtige biografische Informationen von Seiten der Angehörigen, die in Form von z. B. sozial-anamnestischen Erhebungen und deren Umweltfaktoren im Gespräch erfasst werden.

Wie kann Kommunikation auf der ICU gelingen?

Im Folgenden sind einige Strategien angeführt, die die Kommunikation in der Anfangsphase erleichtern können:
  • Auf nonverbale Reaktionen des Patienten achten: Gestik und Mimik, Atmung, vegetative Veränderungen
  • Beobachtung von kommunikativen Signalen im Sinne einer sprachlichen oder nicht sprachlichen Interaktion des Patienten, sobald sich die Vigilanz bessert
  • Beobachten eines formalen Rahmens einer Gesprächssituation im Sinne eines Sprecherwechsels
  • Der Patient steht im Mittelpunkt: Was benötigt er an medizinisch-therapeutischer Information und eigener Bedürfnisabdeckung
  • Auf geräuscharme Umgebung achten d. h. kein TV, laute Gespräche im Umfeld vermeiden
  • Gesprächsorganisation von außen setzen: Themen klar benennen und einschränken, auf einfache Formulierungen achten, plötzliche Themensprünge vermeiden
  • Verständnissichernde Maßnahmen wie z. B. Nachfragen, Ja/Nein antworten, Keyword Angebot, Bildmaterial, persönliche Gegenstände und Fotos, Agenden
  • Kooperationsabhängigkeit durch den Gesprächspartner
  • Ein Gesprächspartner, der Gestik und Mimik nutzt, Pausen geben
Verbessern sich die medizinischen Rahmenbedingungen und Voraussetzungen für eine standardisierte Testung zur eindeutigen evidenzbasierte Klassifikation des Patienten, kann diese aus dem umfangreichen Sortiment der Aphasiediagnostik, der kognitiven Dysphasie- und Dysarthrophonieuntersuchung erfolgen, um die entsprechenden Maßnahmen für ein gezieltes symptomspezifisches Übungsprogramm zu erstellen. In diesem Zusammenhang empfiehlt sich auch, die logopädischen Assessments gegebenenfalls mittels eines professionellen neuropsychologischen Gutachtens abzugleichen. Eine wichtige Ergänzung bilden auch Fragebögen zur Selbst-und Fremdeinschätzung von Sprachstörungen (siehe Abschn. 2.3).
Die Rehabilitation von sprachlichen, sprechmotorischen und kognitiven Defiziten umfasst nicht nur die Wiederherstellung von Teilleistungen, welche die Mittel einer Kommunikation und Gesprächskompetenz fördern sollte, sondern auch eine umfangreiche Beratung und Begleitung von Angehörigen, um mit den veränderten sozialen Herausforderungen dieser Lebenskrise umgehen zu können. Die interdisziplinäre Therapie der ICU setzt damit erste maßgebliche, frührehabilitative Schritte in diesem oft zeitlich intensiven Prozess (Ziegler und Vogel 2010; Huber et al. 2013; Bauer und Auer 2008).

Zusammenfassung

Die therapeutische Arbeit an einer Intensivstation stellt ein umfassendes Aufgabengebiet dar und erfordert eine sehr intensive interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen allen beteiligten Berufsgruppen und erfolgt prozesshaft nach standardisierten Abläufen.
Die Frührehabilitation beginnt schon in den ersten Tagen nach der Aufnahme des Patienten mit der Anwendung von standardisierten Assessments. Diese werden sowohl berufsgruppenübergreifend zur globalen Orientierung im Hinblick auf den aktuellen allgemeinen Status des Patienten, als auch spezifisch zu einzelnen sensomotorischen und kognitiven Symptomenkomplexen durchgeführt. Den Rahmen für die Befundung und im Weiteren für die daraus abgeleiteten Ziele und Maßnahmen bildet die internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit, die ICF (World Health Organization 2001). Diese ermöglicht eine Differenzierung verschiedenster Symptomengruppen in den Ebenen der Körperstruktur- und Funktion, der Aktivität und Partizipation. In diesen verschiedenen Ebenen setzen auch frühe rehabilitative Maßnahmen an. Jene reichen von prophylaktischen Maßnahmen auf Strukturebene bis hin zu gezieltem Training einzelner sensomotorischer, sprachlicher und kognitiver Fähigkeiten auf Aktivitäts- und Partizipationsniveau. In dieser ersten Phase der Rehabilitation werden somit schon grundlegende Voraussetzungen für den weiteren Rehabilitationsverlauf und für spätere funktionellen Fähigkeiten des Patienten gelegt. Um diese angestrebten Ziele bestmöglich zu erreichen, sind für das gesamte Rehabilitationsteam fundierte fachliche Ausbildungen, fachübergreifende Kenntnisse, aktuelles Wissen aus der Rehabilitationsforschung und ausgezeichnete kommunikative Fähigkeiten unabdingbar.
Fußnoten
1
In diesem Beitrag wird die männliche Form verwendet, um den Text kürzer und besser lesbar zu machen. Selbstverständlich sind damit Personen jeden Geschlechts gemeint.
 
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