Da es für die Begriffe „primäre Giftentfernung“ und „sekundäre Giftentfernung“ in der englischsprachigen Fachliteratur keine Entsprechungen gibt und (daher) ihre Bedeutung auch in der deutschsprachigen Fachsprache abnimmt, werden sie im Folgenden vermieden.
Absorptionsverminderung bei oraler Exposition
Die längste Tradition unter den Maßnahmen zur Absorptionsverminderung hat das induzierte Erbrechen. Ein früher Bericht über die Anwendung ist aus dem 13. Jahrhundert überliefert (Lewin
1920). Im 20. Jahrhundert wurde die Magenspülung zur Standardbehandlungsmethode für die Mehrzahl akuter oraler
Vergiftungen, sie hat jedoch heute ihre Bedeutung weitestgehend verloren. Auch die Gabe von Laxanzien und die anterograde Darmspülung sind traditionelle Behandlungsverfahren, die nur noch sehr selten eingesetzt werden. Hingegen hat in jüngerer Zeit die orale Gabe von
Aktivkohle im Vergleich mit anderen Absorptionsminderungsmaßnahmen größere Bedeutung gewonnen. Die Entleerung des Magens oder des Dickdarms unter endoskopischer Kontrolle und die laparoskopische Giftentfernung bleiben seltenen Indikationen vorbehalten.
Die Indikation für absorptionsvermindernde Maßnahmen hat sich seit dem Ende der 1990er-Jahre stark gewandelt und orientiert sich heute an diesbezüglichen „position statements“ maßgeblicher klinisch-toxikologischer Fachgesellschaften, die im Folgenden dargestellt werden (American Academy for Clinical Toxicology, European Association of Poisons Centres and Clinical Toxicologists 1997/
2004/2013). Für keine der Maßnahmen zur Absorptionsverminderung wurde bei umfassender Literaturdurchsicht ein hinreichender klinischer Wirksamkeitsnachweis gefunden. Zudem ist jede der Behandlungsmaßnahmen mit z. T. lebensbedrohlichen Komplikationsrisiken behaftet. Keine dieser Maßnahmen gilt heute daher mehr als Routinebehandlungsverfahren. Über die Indikationsstellung muss in jedem Einzelfall nach kritischer Kriterienprüfung entschieden werden.
In experimentellen Untersuchungen wurde festgestellt, dass die Ausbeute einer Magenspülung im Verlauf der ersten Stunde nach Ingestion schnell abfällt. In mehreren kontrollierten klinischen Studien der 1990er-Jahre wurde zudem gezeigt, dass die Durchführung einer Magenspülung das Risiko für das Auftreten einer Aspirationspneumonie stark erhöht.
Außerdem betonen die klinisch-toxikologischen Fachgesellschaften hinsichtlich der Magenspülung, dass keine klinische Studie bisher zeigen konnte, dass hierdurch die Schwere einer
Vergiftung, die Krankheitsdauer oder den Ausgang einer Vergiftung positiv beeinflusst werden kann, auch wenn sie frühzeitig durchgeführt wurde.
Die zahlreichen Komplikationen, die mit der Durchführung der Magenspülung verbunden sind, und ihre nicht unerheblichen Kontraindikationen rechtfertigen ihren Einsatz nicht als Routinemaßnahme. Ferner sollte sie nur von erfahrenem Personal durchgeführt werden, welches in Anbetracht ihrer beschränkten Anwendung häufig nicht verfügbar ist.
Eine Magenspülung sollte daher, falls erwogen, mit einem Giftinformationszentrum (siehe Tab.
4) besprochen werden.
Eine Giftentfernung über eine Magensonde muss daher als experimentelles Verfahren bewertet werden. Eine Anwendung ist allenfalls innerhalb von 60 min nach Ingestion einer Flüssigkeit plausibel.
Eine endoskopische Untersuchung kann zudem nach Ingestion ätzender Noxen durchgeführt werden, wobei auch bei dieser Methode nur zu einem frühen Zeitpunkt die Möglichkeit zur Minderung des lokalen Schadens und ggf. der Absorption besteht. Sinnvoll erscheint eine endoskopische Giftentfernung bei Ingestion hoher Dosen, wie sie typischerweise bei suizidaler Ingestion zu erwarten sind. Erst eine späte Ösophagogastroskopie (frühestens 6 h nach Ingestion) ermöglicht hingegen die medizinisch notwendige Beurteilung des vollständigen Ausmaßes der Schleimhautschädigung und des Perforationsrisikos. Sowohl durch die frühe als auch durch die spät durchgeführte Endoskopie kann das Risiko für eine Perforation der geschädigten Organwand erhöht werden; sie sollte daher durch sehr erfahrene Untersuchende erfolgen.
Kontrollierte Studien zur Anwendung endoskopischer Methoden liegen nicht vor.
Kontraindikationen dieser Maßnahme sind
Vergiftungen mit rasch einsetzender Wirkung, die im Verlauf die Schutzreflexe beeinträchtigen, was bei einsetzendem Erbrechen das Aspirationsrisiko erhöht. Weitere Einschränkung ist die Aufnahme von schäumenden Substanzen, deren vorrangige Gefahr ebenfalls in der Aspiration liegt. Auch nach Aufnahme ätzender Produkte darf kein Erbrechen ausgelöst werden, da die Schleimhaut des Ösophagus empfindlicher als die Magenschleimhaut und diese durch Erbrechen doppelt exponiert würde. Im Anbetracht der zahlreichen Einschränkungen und Umstände, die das induzierte Erbrechen verbieten, gilt dieses Verfahren mittlerweile praktisch als obsolet.
Kohlegabe (Standarddosis: 0,5–1,0 g/kg KG in wässriger Suspension) gilt ebenfalls nur als indiziert nach oraler Aufnahme einer toxischen Giftdosis, wenn die Behandlung innerhalb von 60 min nach Ingestion durchgeführt werden kann und bekannt ist, dass die applizierte Kohle einen wesentlichen Anteil der ingestierten Giftdosis effektiv bindet. Als kontraindiziert gilt die Gabe von Aktivkohle bei eingeschränktem Bewusstsein – es sei denn, die Atemwege wurden durch Intubation hinreichend vor Aspiration geschützt. Nach Aufnahme ätzend wirkender Stoffe sollte ebenfalls auf eine Kohlegabe verzichtet werden, da diese Maßnahme eine nachfolgende endoskopische Diagnostik erschwert. Nach induziertem Erbrechen wird die Gabe von Aktivkohle nicht mehr als sinnvoll erachtet.
Eine zurückhaltende Bewertung gilt auch für die anterograde Darmspülung („whole bowel irrigation“), die besonders in Nordamerika früher oft zur Absorptionsverhinderung angewandt wurde.
Verminderung der Absorption und eines lokalen Schadens nach Augen- oder Hautexposition
Bei dermalem Kontakt mit einem toxischen Agens steigt die lokale Schädigung oder die absorbierte Dosis mit der Dauer der Einwirkung an. Es ist daher als plausibel anzusehen, dass eine frühzeitige Beendigung der Exposition das Ausmaß der Beschwerden reduziert.
Die Dekontamination von Haut und leicht zugänglichen Schleimhäuten, insbesondere der Augen, besitzt im Gegensatz zur Magen-Darm-Dekontamination auch heute noch eine große therapeutische Bedeutung, da das Komplikationsrisiko für diese Behandlung als sehr gering ist. Dieses günstige Nutzen-Risiko-Profil gilt auch für die frühzeitige Dekontamination durch Ersthelfende, die dazu telefonisch angewiesen werden können.
Begründet werden die im Folgenden beschriebenen Maßnahmen unter Verweis auf experimentelle Untersuchungen; klinische Daten aus kontrollierten Studien sind nicht verfügbar.
Bei Hautkontamination mit lipophilen Agenzien, z. B. Phenol, kann die Spülung mit Wasser auch bei nur oberflächlichem Eindringen in die Haut nur wenig Schadstoff entfernen. In diesem Fällen scheint es plausibel, ein lipophiles, aber dennoch hautverträgliches Lösungsmittel zur Spülung zu verwenden. Traditionell wird für diesen Zweck Polyethylenglykol 400 (PEG-400) empfohlen. Auf augenscheinlich unverletzter Haut scheint auch eine Verwendung von handelsüblichem Speiseöl zu Spülung vertretbar zu sein, sofern PEG-400 nicht verfügbar ist.
Eine stoffspezifische und hochwirksame dermale Dekontamination bei Einwirkung von Flusssäure oder Lost-Kampfstoffen ist mit Kalziumgluconat bzw. Tosylchloramid-Natrium (Chloramin T) möglich.
Zurückhaltung kann bei der Augenkontamination mit Brandkalk (ätzend wirkendes Kalziumoxid) geboten sein, da bei blepharospasmusbedingtem ungenügendem Spülerfolg eine chemische Reaktion mit Wasser unter starker Wärmeentwicklung induziert werden kann, die das Auge zusätzlich schädigt.