Die Intensivmedizin
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Verfasst von:
Herbert Desel und Martin Ebbecke
Publiziert am: 29.04.2023

Intensivtherapie bei Vergiftungen

Vergiftungen machen auch heute noch einen erheblichen Anteil medizinischer Behandlungsfälle aus, im Besonderen auf Intensivstationen. In diesem Kapitel werden häufige Vergiftungssyndrome (Toxidrome), pharmakologische Grundlagen der Bewertung und der Therapie von Vergiftungen, Methoden der spezifischen klinischen und apparativen Untersuchungen bei Vergiftungen, die Methodik der klinisch-toxikologischen Risikobewertung und die Bedeutung spezifischer Therapieoptionen beschrieben, unter besonderer Berücksichtigung des aktuellen Stellenwertes von Methoden zur Absorptionsverminderung und Eliminationsbeschleunigung. Die Rolle der Giftinformationszentren als konsiliarische Unterstützung wird verdeutlicht, Kontakttelefonnummern sind angegeben. Alle heute klinisch wichtigen Antidota werden vorgestellt und ihren Indikationen zugeordnet.

Einleitung

Die Häufigkeit lebensbedrohlicher Vergiftungen mit langer intensivmedizinischer Behandlungsdauer, insbesondere Vergiftungen durch ältere Schlafmittel oder Pestizide sowie durch andere akuttoxische chemische Stoffe und Gemische, hat in den letzten Jahrzehnten stark abgenommen. Dennoch verursachen Vergiftungen auch heute einen erheblichen Anteil medizinischer Behandlungsfälle.
Etwa 50.000 chemische Stoffe werden heute industriell verwendet und sind in Produkten enthalten, mit denen Menschen in Kontakt kommen. Jeder Stoff besitzt ein eigenes toxikologisches Profil, verursacht eine „eigene“ Vergiftung mit charakteristischer Symptomatik, typischem Zeitverlauf und Komplikationsrisiken. Die Definition und Beschreibung toxikologischer Syndrome (Toxidrome) hilft, Stoffe in humantoxikologischer Hinsicht zu gruppieren und so das Vergiftungsmanagement zu erleichtern (Tab. 1). Viele Vergiftungen beim Menschen sind allerdings bis heute noch nicht oder nicht ausreichend gut dokumentiert. Tierversuche, die im Rahmen chemikalienrechtlicher Registrierungen durchgeführt werden, geben nur in beschränktem Maße Hinweise auf mögliche Symptome beim Menschen. Der wissenschaftlichen Dokumentation von Einzelfällen kommt daher in der klinischen Toxikologie eine große Bedeutung zu.
Tab. 1
Intensivmedizinisch wichtige Toxidrome. (Neben den hier aufgelisteten Toxidromen werden für Pilze und für Fische/Meeresfrüchte weitere Toxidrome beschrieben)
Toxidrom
Leitsymptome
Ursachen
Antidot
Acetaldehydsyndrom
Erregung, Tachykardie, Flush, Paraesthesie, Hypotonie
Disulfiram, Kalziumzyanamid, Coprin (Tintlinge), nur in Kombination mit Ethanol
 
Anticholinerges Syndrom
Unruhe, Agitiertheit, Verwirrtheit, optische oder szenische Halluzination; weite Pupillen, heiße und trockene Haut, trockene Schleimhäute, reduzierte Darmgeräusche; Harnverhalt; mäßige (Sinus-)Tachykardie, Flush, Krampfanfall, Hyperthermie
Atropin, Biperiden, Scopolamin (z. B. Engelstrompete: Brugmansia), Antihistaminika der 1. Generation (z. B. Diphenhydramin), trizyklische Antidepressiva
Physostigmin
China-Restaurant-Syndrom
Kopfschmerz, Parästhesien, Taubheitsgefühl, Tachykardie
Glutamathaltige Gerichte
-
Cholinerges Syndrom
Tränenfluss, Magenschmerzen, Miosis, Schwitzen, Bronchorrhoe, Erbrechen, Diarrhoe, Bradykardie (initial auch Tachykardie); Bewusstseinseinschränkung, Muskelfaszikulationen, Atmungsstörungen; Krampfanfälle; Laborbefund: Cholinesteraseaktivität vermindert auf unter 30 % des Referenzwertes
Alkylphosphate, Methyl-Carbamate, Physostigmin, Muskarin-haltige Pilze (Trichterlinge: Clitocybe, Risspilze: Inocybe)
Atropin
Extrapyramidal-motorisches Syndrom
Charakteristische Bewegungsstörung der willkürlichen Muskulatur (hyperkinetisch-hypoton): Zungen-Schlund-Krampf, Tortikollis, Ballismus; Ataxie, Tremor
Metoclopramid, Neuroleptika (häufig unter Dauertherapie)
Biperiden
Malignes Neuroleptika syndrom
Verlangsamte Bewegung, starke Hyperthermie; akutes Nierenversagen, Gerinnungsstörungen
Seltene Komplikation bei Neuroleptikatherapie
 
Opioidsyndrom
Sehr enge Pupillen, Ateminsuffizienz, Bewusstseinseinschränkung; verringerte Darmmotilität
Opiate (Morphin, Heroin u. v. m.), synthetische Opioide
Naloxon
Sedativa-/Hypnotika-/Narkotikasyndrom
Sedierung, (milde) Euphorie, entaktogene Wirkung, Narkose, Atemstörung (bei schwerer Vergiftung tendenziell Hypotonie, Bradykardie, Hypothermie, Hyperreflexie)
Ethanol, Barbiturate, Benzodiazepine, 4-Hydroxybuttersäure (GHB), γ-Butyrolacton (GBL) u. a. organische Lösemittel
 
Serotoninsyndrom
Bewusstseinseinschränkung, Hyperthermie, generalisierte Krampfanfälle, Muskelfaszikulationen, Rhabdomyolyse
Verschiedene Antidepressiva und Stimulanzien in kontraindizierter Kombination oder in Überdosis
 
Stimulanziensyndrom
Unruhe, Agitiertheit, Krampfanfall, Tachykardie/Tachyarrhythmie, Bluthochdruck, Mydriasis, heiße und feuchte Haut, Hyperreflexie (Kopfschmerz, Flush, Hyperthermie)
Amfetamine, Kokain; Ephedrin, Coffein, Cathin; Cathinonderivate und viele weitere neue Designerdrogen
Benzodiazepin
Die Mehrzahl aller Vergiftungen wird in Deutschland früher wie heute durch Alkohol (Ethylalkohol, Ethanol) verursacht, alle anderen Vergiftungen sind vergleichsweise selten. Eigene klinische Erfahrung kann daher nur mit einem sehr kleinen Teil von Vergiftungen erworben werden.
In der Vergangenheit wurde der genauen Vergiftungsdiagnostik eine eher untergeordnete Rolle zugedacht (die Entität „Tablettenvergiftung“ gab und gibt es nicht) und die Vergiftungstherapie nach weitgehend von der Art des Wirkstoffs unabhängigen, schematischen Regeln („immer Magenentleerung“) durchgeführt. Heute hingegen haben eine differenzierte toxikologische Einschätzung der beteiligten Fremdstoffe (der stofflichen Noxe) als Vergiftungsursache und die toxikologische Risikobewertung unter Berücksichtigung des Applikationspfades und der absorbierbaren Dosis in der modernen klinischen Toxikologie erheblich an Bedeutung gewonnen; die Indikation für ein spezifisches Behandlungsverfahren, insbesondere die Gabe eines hochwirksamen Antidots, kann so auf verlässlicher Basis gestellt werden.

Toxikologische Grundlagen

Toxikologie hat in den letzten Jahrzehnten stark an Bedeutung gewonnen. Die Mehrzahl der Toxikologinnen und Toxikologen arbeitet heute in den Bereichen toxikologische Testung, Stoffbewertung und Produktsicherheit. Bei der Beschreibung von Vergiftungen beim Menschen hat sich die genaue Anwendung der toxikologischen Terminologie bewährt, um Missverständnisse im interdisziplinären Dialog zu vermeiden.

Toxizität, Exposition und Risiko

In der Regel werden in der Toxikologie die unerwünschten Wirkungen stofflicher Noxen auf den Körper untersucht. Als stoffliche Noxen werden meist chemisch definierte Stoffe betrachtet. In zunehmendem Maße werden auch komplexe Stoffgemische (z. B. Schlangengifte) oder Produkte mit speziellen physikalischen Eigenschaften toxikologisch untersucht (z. B. Nanomaterialien, Sprayaerosole).
Definitionen
  • Toxizität
    Die Toxizität ist eine Noxeneigenschaft. Sie beschreibt qualitativ die Art der durch die Noxe ausgelösten Schädigung (z. B. Hepatotoxizität) und quantitativ eine Dosis, die zur Auslösung definierter toxischer Effekte erforderlich ist (z. B. Letaldosis durch Erfahrung beim Menschen oder im Tierversuch). Als Gifte werden Noxen mit hoher Toxizität bezeichnet. In Sinne des europäischen Chemikalienrechtes sind z. B. Stoffe mit einer im Tierversuch bestimmten oralen Letaldosis unter 300 mg/kg Körpergewicht als „Giftig bei Verschlucken“ zu kennzeichnen.
  • Exposition
    Die Exposition charakterisiert den Kontakt zwischen einer toxischen Noxe und dem Patienten. Qualitativ beschreibt die Exposition die Art des Kontaktes (den Expositionspfad, z. B. orale Aufnahme, intravenöse Gabe) und quantitativ die Dosis der Noxe, der gegenüber ein Patient exponiert war.
  • Vergiftungsrisiko
    Die toxikologische Risikobewertung in der regulatorischen, vorwiegend prophylaktisch orientierten Toxikologie (z. B. behördliche Einrichtungen des Verbraucherschutzes und der Lebensmittelsicherheit) ergibt sich aus einer zusammenschauenden Betrachtung von Toxizität und Exposition.
In der klinischen Toxikologie stellt eine Risikobewertung unter zusätzlicher Berücksichtigung der Symptomatik bis zum Untersuchungszeitpunkt und der labordiagnostischen Ergebnisse die Voraussetzung für die Diagnosestellung und die Entscheidung für die optimale Therapie dar.
Nicht jede Exposition, die zu einem Vergiftungsverdacht Anlass gibt, verursacht eine lebensbedrohliche Symptomatik, die eine intensivmedizinische Behandlung erfordert. Die Zahl der (zu Beginn einer medizinischen Behandlung) besorgniserregenden Expositionen ist daher deutlich größer als die Zahl der manifesten Vergiftungen. Bei der quantitativen Beschreibung von Vergiftungsrisiken ist deshalb die Dokumentation des Schweregrades einer Vergiftung (oder allgemeiner: einer Exposition) von großer Bedeutung. Die Schwere einer Vergiftung wird heute meist durch den 5-stufigen Poisoning Severity Score ausgedrückt (Tab. 2).
Tab. 2
Poisoning Severity Score. (Nach Persson et al. 1998)
Schweregrad
Erklärung
0
symptomlos
keine Symptome → somit keine Vergiftung
1
leicht
Symptome geringgradig und vorübergehend → in der Regel keine ärztliche Behandlung erforderlich
2
mittelschwer
Symptome, die in der Regel eine ärztliche Versorgung erforderlich machen
3
schwer
lebensbedrohliche Symptome
4
tödlich
Vergiftung mit tödlichem Ausgang

Toxikokinetik

Definitionen
Toxikokinetik
Die Toxikokinetik , im Englischen oft als ADME bezeichnet, beschreibt
  • A – die Aufnahme (Absorption, auch: Resorption) einer Noxe in die Blutbahn,
  • D – die Verteilung (Distribution) in die Körperorgane,
  • M – (bei vielen Stoffen) die chemische Umwandlung im Körper und
  • E – deren Ausscheidung (Exkretion).

Expositionspfade und Absorption

Etwa 90 % aller medizinisch zu versorgenden Vergiftungen werden durch die orale Aufnahme einer Noxe verursacht. Seltener werden toxische Noxen inhaliert (am häufigsten Brandgase), auf die Haut aufgetragen oder parenteral verabreicht (z. B. Biss, Stich oder intravenöser Konsum von Suchtstoffen [im Weiteren als Drogen bezeichnet]).
Lokale Wirkungen, Absorption und Möglichkeiten zur Dekontamination („Giftentfernung“) unterscheiden sich erheblich zwischen den verschiedenen Expositionspfaden:
  • Die empfindlichsten Strukturen für toxische Lokalwirkungen (Reizung, Verätzung) finden sich in den Atemwegen, am Auge und im Gastrointestinaltrakt, während die äußere Haut vergleichsweise gut geschützt ist.
  • Aufgrund des hepatischen First-pass-Metabolismus ist die Bioverfügbarkeit nach oraler Aufnahme vieler Stoffe geringer als nach inhalativer Aufnahme.
  • Eine Dekontamination vor Entfaltung einer lokalen Schädigung oder Absorption ist bei Haut- oder Augenkontakt gut möglich und wirksam, nach oraler Aufnahme wenig wirksam und risikoreich und bei inhalativer Exposition fast immer unmöglich.

Verteilung

Nach der Absorption werden die Noxen im Körper verteilt. Viele Noxen werden dabei in Geweben („tiefen Kompartimenten“) angereichert.
Virtuelles Verteilungsvolumen
Das virtuelle Verteilungsvolumen Vd eines Stoffes errechnet sich als Quotient aus bioverfügbarer Dosis Dbv und Plasmaspiegel Cp:
$$ {\textrm{V}}_{\textrm{d}}=\frac{{\textrm{D}}_{\textrm{bv}}}{{\textrm{C}}_{\textrm{p}}} $$
Vd ist ein Maß dafür, welcher Anteil einer Noxe sich nach Absorption und Verteilung im Blut befindet und damit einem Blutreinigungsverfahren (zur Förderung der Elimination) prinzipiell zugänglich ist:
  • Ein Vd von 0,1 l/kg KG entspricht einer Verteilung ausschließlich im Blut.
  • Ein Vd von 0,7 l/kg KG entspricht einer Verteilung im wässrigen Kompartiment des Körper (z. B. Alkohole, d. h. ca. 14 % im Blut, 86 % im wässrigen Anteil von Geweben).
  • Bei einem (z. B. für Trizyklische Antidepressiva typischen) Vd von 20 l/kg KG finden sich nur 0,5 % der aufgenommenen Dosis im Blut. Auch ein Behandlungsverfahren, das die aufgenommene Noxe vollständig aus dem Blut entfernte, könnte den „Körperbestand“ der Noxe daher nur unwesentlich reduzieren.

Fremdstoffmetabolismus

Durch die chemische Umwandlung eines aufgenommenen Stoffes im Körper können
  • giftige Stoffe in ungiftige Metabolite entgiftet (metabolische Desaktivierung) und
  • ungiftige Stoffe in toxische Metabolite gegiftet werden (metabolische Aktivierung).
Eingriffe in den Fremdstoffmetabolismus (z. B. Förderung der Entgiftung durch Acetylcystein bei Paracetamol-Überdosierung oder Hemmung der Giftung durch Fomepizol bei Ethylenglycol-Vergiftung) stellen wirksame Verfahren für die spezifische Vergiftungsbehandlung dar.
Das wichtigste Organ des Fremdstoffmetabolismus ist die Leber. Viele Reaktionen, insbesondere viele durch Esterasen katalysierte Reaktionen, finden auch im Blut oder der anderen Organen statt.
Die entgiftenden Stoffwechselreaktionen stellen eine wichtige Form der Elimination dar.

Elimination

Elimination bezeichnet in pharmakologischem Sinne alle Prozesse, die eine Entfernung einer toxischen Noxe aus dem Blut bewirken. Eine Elimination kann erfolgen durch
  • renale Ausscheidung,
  • biliäre Ausscheidung,
  • metabolische Entgiftung
sowie (von seltener klinischer Bedeutung) durch
  • pulmonale Ausscheidung oder
  • dermale Ausscheidung.
Die physiologische Elimination kann durch therapeutische Maßnahmen beschleunigt werden („sekundäre Giftentfernung“). Dies kann die Vergiftungsdauer verkürzen und Vergiftungskomplikationen vermeiden. Allerdings werden heute bei der Indikationsstellung für eliminationsfördernde Maßnahmen immer die Risiken von Komplikationen der z. T. invasiven Behandlungen mit dem zu erwartenden Nutzen für den Patienten sorgfältig abgewogen (unten).

Diagnostik

Die Diagnostik einer Vergiftung unterscheidet sich in einigen Aspekten von der Diagnostik anderer Erkrankungen.
Während – wie eingangs erwähnt – historisch eher von einer Krankheitsentität „Vergiftung“ ausgegangen wurde, die nach einem festen Schema medizinisch zu versorgen war (Idealfall: mit einem Panantidot), wurde in den letzten Jahrzehnten erkannt, dass eine genaue Kenntnis und Beschreibung der Exposition wichtige Voraussetzungen für die optimale Therapie darstellen.

Anamnese

In der Mehrzahl aller Vergiftungsfälle und Vergiftungsverdachtsfälle kann aufgrund der durch die Anamnese erhobenen Daten eine ausreichend verlässliche Diagnose gestellt werden.
Voraussetzung dafür ist allerdings neben der Erhebung der aktuellen und bisherigen Beschwerden eine Erfragung und Dokumentation der Exposition:
  • Gegenüber welchen Noxen fand eine Exposition statt (s. unten)?
  • Welche Menge (Dosis) wurde aufgenommen oder wie lange dauerte der Giftkontakt (insbesondere bei inhalativer oder dermaler Exposition)?
  • Welche Zeit ist seit Beginn oder Ende der Exposition vergangen?
Die seit der Exposition verstrichene Zeit ist für eine Risikobewertung bedeutsam, da besonders bei oraler Aufnahme von Noxen, die ihre toxischen Wirkungen erst nach Absorption und Verteilung im Kreislauf entfalten, fast immer mit einer symptomarmen oder -freien Latenzzeit zu rechnen ist. Gleiches gilt für die Inhalation bestimmter Reizgase vom Latenztyp, z. B. Phosgen.

Inspektion des Auffindeortes

Bei Vergiftung oder Vergiftungsverdacht ist auch bei glaubhafter Anamnese die Umgebung des Patienten nach Verpackungen und Behältern sowie anderen Indizien für eine Exposition zu untersuchen. Dies ist erforderlich, da häufig, besonders in Fällen mit suizidalem Hintergrund, nicht alle aufgenommenen Noxen erinnert oder angegeben werden.
Alle Produkte und (auch leere) Behältnisse sollten asserviert und im ärztlichen Bericht genau und vollständig dokumentiert werden.

Identifizierung von Noxen

Die Identifikation und Dokumentation der Noxen, denen gegenüber der Patient exponiert war, ist der Kern jeder toxikologischen Diagnostik. Eine Ungenauigkeit an dieser Stelle kann die nachfolgenden Therapieentscheidungen erschweren und zu vermeidbarer Übertherapie führen.
Insbesondere nach einer Ingestion von biologischen Noxen (z. B. Pflanzen oder Pilzen) kann eine hinreichend genaue Noxenidentifizierung aufwendig sein. Gleiches gilt für eine Identifizierung umgefüllter Produkte, z. B. Brennstoff in Lampen. Eine Beteiligung sachkundiger Dritter, ggf. vermittelt durch Giftinformationszentren, ist oft erforderlich.
Nach Identifizierung der Noxe stellt sich in den meisten Fällen die Frage nach chemisch definierten Inhaltsstoffen. Qualitative Angaben hierzu finden sich auf vielen Produktetiketten. Oft beziehen sich die Etikettenangaben allerdings nur auf die Wirkstoffe für die dem Produkt zugedachte Anwendung, die Angabe von Begleitstoffen kann fehlen. Insbesondere auf die Erkennung des Vorhandenseins eines organischen Lösemittels, das z. B. bei manchen Pestizidpräparaten toxischer ist als der Wirkstoff, muss geachtet werden. Oft therapieentscheidungsrelevante quantitative Gehaltsangaben sind in der Regel nur über Giftinformationszentren und die Rezeptur herstellende Unternehmen zugänglich (Ausnahme: Arzneimittel).

Toxikologische Wirkstoffbewertung

Der nächste Schritt der toxikologischen Diagnostik stellt die Bewertung der Gefährlichkeit der identifizierten chemischen Inhaltsstoffe dar. Bei Ethanol und häufig angewandten Arzneimittelwirkstoffen gelingt dies erfahrungsgemäß mit ärztlicher Kenntnis und Erfahrung, bei vielen anderen Stoffe sind dafür ergänzende Datenquellen (toxikologische Datenbanken oder Fachliteratur) oder – meist im Notfall praktikabler – eine konsiliarische Beratung durch ein Giftinformationszentrum erforderlich (unten).

Expositionsbewertung

Im häufigsten Fall einer oralen Aufnahme stellt die aufgenommene Stoffdosis (oder die aufgenommenen Dosen bei Aufnahme mehrerer Stoffe mit toxischem Potenzial) den Ausgangspunkt der Expositionsbewertung dar.
Bei lückenhafter Anamnese, oft z. B. bei kindlichen Ingestionsfällen, oder nach Erbrechen ist die absorbierbare Dosis oft nicht genau feststellbar. In diesen Fällen muss die maximal mögliche Dosis (z. B. Zahl der fehlenden Dragees in einer Blisterverpackung) für die weitere Risikobewertung des Falles angenommen werden.
Bei inhalativer oder dermaler Exposition ist die resorbierte Dosis oft schwer zu bestimmen.

Klinische Untersuchung

Die klinische Untersuchung bei einem Vergiftungsverdacht ist besonders auf vergiftungstypische Zeichen zu richten. Leicht erkennbar sind häufig Bewusstseins- oder Ventilationsstörungen sowie Magen-Darm-Symptome (z. B. Motilitätsstörung), die typischerweise mit Latenz zum Expositionsbeginn auftreten.
Von besonderer Bedeutung ist der Zustand der Augen oder die Lichtreagibilität der Pupillen.

Bewusstseinszustand

Der Bewusstseinszustand des Patienten kann durch eine Vielzahl von Wirkstoffen beeinträchtigt werden. Insbesondere nach der Einnahme von Arzneimitteln, Drogen oder organischen Lösemitteln ist in vielen Fällen mit einer Beeinträchtigung des Bewusstseins zu rechnen. Eine Untersuchung des Bewusstseinszustands und die Dokumentation der Untersuchungsergebnisse im zeitlichen Verlauf können für eine diagnostische Gesamteinschätzung (alle Noxen dokumentiert?) bedeutsam sein.

Foetor ex ore

Ein ungewöhnlicher Mundgeruch kann bei anamnestisch unklarer Situation den Verdacht auf eine Vergiftung lenken. Andererseits schließt das Fehlen eines Foetor die Aufnahme einer toxischen Dosis eines stark riechenden Produktes oft aus, was insbesondere in vielen pädiatrischen Verdachtsfällen hilfreich ist.

Hautveränderungen

Diagnostisch bedeutsam sind ferner der Zustand der Haut und der Schleimhäute sowie das Vorhandensein frischer oder vernarbter Venenpunktionsstellen.
Bei Verdacht auf Reizung oder Verätzung der Haut ist bei Entscheidung über die Notwendigkeit einer Dekontamination zu beachten, dass Hautveränderungen in vielen Fällen mit Latenz auftreten.
Bei Kontamination der Haut im Gesicht ist in jedem Fall der Zustand der Augen genau zu prüfen.

Labordiagnostik

Der Labordiagnostik kommt ein hoher Stellenwert bei der Vergiftungsdiagnostik zu. Laboruntersuchungen können eingesetzt werden, um das Ausmaß der Aufnahme toxischer Stoffe oder ihrer Stoffwechselprodukte festzustellen („Belastungsmonitoring“ in arbeitsmedizinischem Sinne) oder bereits eingetretene toxische Wirkungen quantitativ zu erfassen („Effektmonitoring“). Die gezielte Anwendung und Interpretation laborchemischer Basisuntersuchungen sind von spezieller toxikologischer Analytik zu unterscheiden.

Basisdiagnostik – toxikologische Interpretation

Störungen des Elektrolyt- oder Glukosehaushalts sowie der Blutgerinnung und der Leber- und Nierenparameter können als Vergiftungszeichen durch eine Vielzahl stofflicher Noxen ausgelöst werden und auf zunächst nicht erkannte Ursachen hinweisen.
Von besonderer Bedeutung bei der Diagnostik von intensivmedizinisch zu behandelnden Vergiftungen ist die Untersuchung des Säure-Base-Haushalts : eine Vielzahl von Noxen kann eine metabolische Azidose verursachen.
Hinweise auf eine toxische Ursache einer Azidose kann zudem die Berechnung der osmotischen Lücke (OL) und der Anionenlücke (AL) geben (Übersicht).
Berechnung der osmotischen Lücke und der Anionenlücke
Berechnung der osmotischen Lücke (OL):
  • OL = gemessene Osmolalität – errechnete Osmolalität (Normalbereich: unter 10 mOsmol/L)
  • Errechnete Osmolalität: 2 × (Na+- + Glukose- + Harnstoff-Konzentration, jeweils in mmol/L)
Berechnung der Anionenlücke (AL):
  • AL = Na+ – (Cl- + HCO-3) (Normalbereich: 3 – 16 mmol/L)
  • (HCO-3 = Hydrogenkarbonatkonzentration in mmol/L)
Hilfreich ist ferner die Bestimmung der Cholinesterase, sofern eine Vergiftung mit einem Alkylphosphat- oder Carbamat-Insektizid oder einem Nervenkampfstoff vermutet wird oder ausgeschlossen werden soll.

Toxikologische Analytik

Unter toxikologischer Analytik werden alle Laborverfahren zusammengefasst, die spezifisch und ausschließlich für die Diagnostik eines Vergiftungsverdachtsfalls oder der Dokumentation des Verlaufs einer Vergiftung angewandt werden. Ganz überwiegend handelt es sich dabei um Verfahren zum Nachweis eines toxischen Stoffes in Blut (qualitativ oder quantitativ) oder Urin (sehr empfindlich, jedoch in der Regel nur qualitativ).
Die wichtigste und am häufigsten angewandte Methode der toxikologischen Analytik ist die Bestimmung der Blut(ethyl)alkoholkonzentration. Ebenfalls weit verbreitet und bei der Vergiftungsdiagnostik bedeutsam sind immunchemische Nachweise weiterer häufig gebrauchter Drogen wie Cannabis, Kokain, Amphetamine, aber auch von Opiaten, Barbituraten und Benzodiazepinen.
Bei der Interpretation dieser Drogenanalytik ist umfassender analytischer Sachverstand erforderlich, der in den technisch bedingten Limitierungen der angewandten immunchemischen Verfahren begründet ist und über den das direkt mit der Patientenbehandlung befasste medizinische Personal in der Regel nicht verfügt. Grundsätzlich sind die Ergebnisse immunchemischer Untersuchungen nur als diagnostischer Hinweis zu deuten. Ein positives Ergebnis im immunchemischen Test auf – beispielsweise – Benzodiazepine bedeutet nicht in jedem Fall, dass tatsächlich ein Benzodiazepin aufgenommen wurde und schon gar nicht, dass eine Benzodiazepin-Vergiftung vorliegt. Andererseits schließt ein negatives Testergebnis für Benzodiazepine eine Benzodiazepin-Vergiftung nicht sicher aus. Im Zweifelsfall sollte konsiliarisch eine Interpretationshilfe eingeholt werden (Laborpersonal oder Giftinformationszentrum).
Cave
Eine Entscheidung über eine Therapie, die ein schweres Komplikationsrisiko umfasst, sollte im Regelfall nicht allein auf Basis eines immunchemischen Testergebnisses getroffen werden.
Vergleichsweise verlässlich sind die immunchemischen Tests auf Knollenblätterpilztoxine (Amanitine) im Urin und (auch in Überdosis) auf viele Arzneimittelwirkstoffe, für die üblicherweise therapeutische Blutspiegelkontrollen durchgeführt werden (z. B. Antiepileptika). Diese Tests erlauben zudem eine quantitative Aussage und vermögen zwischen einer geringen oder therapeutischen Dosierung und einer Vergiftung zu unterscheiden.
Ein verlässlicher Nachweis der oben erwähnten Drogen und ein Nachweis seltener Noxen, unter denen niedermolekulare Glykole wie z. B. Ethylenglycol und andere toxische Alkohole wie z. B. Methanol die größte Bedeutung besitzen, kann derzeit nur mit aufwendigen chromatographischen Verfahren erbracht werden (qualitativ wie quantitativ). Dies ist nur in wenigen Speziallaboratorien möglich. Die Giftinformationszentren verfügen über Datenbanken, die parameterabhängig die Auswahl des am besten geeigneten Speziallabors ermöglichen.
Eine Sonderform der toxikologischen Laboruntersuchung ist die Systematische Toxikologische Analytik (STA), die auch als (umfassendes) toxikologisches Screening bezeichnet wird (Maurer 2012).
Toxikologisches Screening
Eine Systematische Toxikologische Analytik (STA) ermöglicht eine Suche nach toxischen Agenzien, ohne einen konkreten Stoff im Verdacht zu haben. Durch Einsatz eines (molekül-)massenselektiven Detektors nach chromatographischer Auftrennung eines Stoffgemischs in einer Urin- oder Serumprobe werden mehrere tausend Stoffe in einer Untersuchung erkannt und mit hoher analytischer Verlässlichkeit unterschieden.
Die STA erfasst deutlich mehr als 90 % aller Noxen bei akuten Vergiftungsfällen und kann somit – bei geringer diagnostischer Restunsicherheit – als einzige Labormethode auch zum Ausschluss einer Vergiftung verwendet werden.

Risikobewertung/Vergiftungsdiagnose

Eine verlässliche Vergiftungsdiagnose kann erst nach Anamneseerhebung, Expositionsbewertung, klinischer Untersuchung und häufig nach einer Interpretation spezifischer Laborwerte durchgeführt werden. Die klinisch-toxikologische Risikobewertung führt die Daten zur Toxizität der aufgenommen Stoffe und zur Exposition (Dosis) im konkreten Fall zusammen und charakterisiert so das Vergiftungs- und Komplikationsrisiko. Bei der Zusammenschau der Befunde ist kritisch zu überprüfen, ob das klinische Bild mit der Anamnese und den Untersuchungsergebnissen zusammenpasst. Hierfür kann in vielen Fällen konsiliarischer Sachverstand eines Giftinformationszentrums notwendig sein. Bei Diskrepanzen zwischen erwartetem und tatsächlich vorliegendem klinischem Befund muss die initiale Risikobewertung kritisch hinterfragt werden. Weitere Noxen oder – bei lückenhafter Anamnese – gänzlich andere Ursachen für vorliegende Symptome müssen in diesen Fällen sorgfältig erwogen werden. Oft kann in einer solchen Situation die Indikation zu toxikologischer Analytik auch nachträglich gestellt werden.
Die zusammenschauende klinisch-toxikologische Risikobewertung bildet die Grundlage aller Therapieentscheidungen, insbesondere zur spezifischen Therapie und zur Indikation und Dauer einer intensivmedizinischen Überwachung. Hierzu sind Kenntnisse zur Toxikokinetik der aufgenommenen Stoffe nötig.

Therapie

Neben den spezifischen Behandlungsverfahren spielen die Standardmethoden moderner Intensivmedizin in der Therapie von Vergiftungen eine bedeutsame Rolle. Auch viele Vergiftungen, bei denen bis heute keine spezifische Behandlung bekannt ist (kein Antidot verfügbar und keine Giftentfernungsmaßnahme wirksam, z. B. Colchicin-Vergiftung), haben heute unter symptomorientierter, intensivmedizinischer Behandlung eine deutlich bessere Prognose als noch vor 30 Jahren.
Prinzipiell besteht bei der Behandlung vergifteter Patienten ein Vergiftungsrisiko für das medizinischen Personal. Von praktischer Bedeutung ist das Kontaminationsrisiko allerdings nur bei sehr wenigen flüchtigen oder über die Haut oder die Augen wirkenden Noxen, z. B. Exposition gegenüber chemischen Kampfstoffen. Im Zweifelsfall kann auch hierzu ein Giftinformationszentrum befragt werden.

Erste-Hilfe-Maßnahmen

Eine Kontamination mit Gefährdung des Ersthelfenden besteht prinzipiell bei der Atemspende nach Ingestion flüchtiger Gifte sowie bei Aufnahme reizender oder ätzender Stoffe. Diesbezügliche Fallberichte sind rar, das Vergiftungsrisiko für den Helfenden kann in der Mehrzahl der Fälle als gering eingestuft werden.

Sicherung der Vitalfunktionen/Intensivüberwachung

Typischerweise entwickeln sich Symptome nach einer oralen, inhalativen oder dermalen Vergiftung mit oft mehrstündiger Latenz. Lebensbedrohliche Symptome wie Herzrhythmusstörungen oder Störungen der Atmungsregulation können auch aus einem Zustand völliger Beschwerdefreiheit auftreten. Eine intensivmedizinische Überwachung des Patienten muss sichergestellt werden, sofern die toxikologische Risikobewertung das Auftreten solcher Symptome möglich erscheinen lässt.
Bei manchen oralen Vergiftungen tritt eine Bewusstseinseinschränkung als führendes Symptom ein, ohne dass im typischen Fall eine bedrohliche Störung der Atmungsregulation auftritt (z. B. Benzodiazepinvergiftung, aber auch akute Ethanolvergiftung). In diesem Fällen hat sich die kontinuierliche Überwachung der arteriellen Sauerstoffsättigung bewährt.

Dekontamination – primäre Giftentfernung

Die Entfernung der toxischen Noxe von der Körperoberfläche oder aus dem Körper stellt ein bedeutsames spezifisches Therapieprinzip bei Vergiftungen dar, um die Vergiftungsschwere zu verringern oder die Dauer einer Vergiftung zu verkürzen. So plausibel dieses seit Jahrhunderten etablierte Behandlungsprinzip auch scheint, so dürftig sind die Beweise seiner Wirksamkeit.
Als „primäre Giftentfernung“ bezeichnete man traditionell alle Maßnahmen, die die Absorption einer Noxe verhindern oder vermindern (sollen). Im engeren und üblichen Sinne wird der Begriff nur auf die Therapie oraler Vergiftungen bezogen. Unter dem Begriff „sekundäre Giftentfernung“ wurden alle therapeutische Maßnahmen zusammengefasst, die eine Elimination beschleunigen (sollen).
Da es für die Begriffe „primäre Giftentfernung“ und „sekundäre Giftentfernung“ in der englischsprachigen Fachliteratur keine Entsprechungen gibt und (daher) ihre Bedeutung auch in der deutschsprachigen Fachsprache abnimmt, werden sie im Folgenden vermieden.

Absorptionsverminderung bei oraler Exposition

Die längste Tradition unter den Maßnahmen zur Absorptionsverminderung hat das induzierte Erbrechen. Ein früher Bericht über die Anwendung ist aus dem 13. Jahrhundert überliefert (Lewin 1920). Im 20. Jahrhundert wurde die Magenspülung zur Standardbehandlungsmethode für die Mehrzahl akuter oraler Vergiftungen, sie hat jedoch heute ihre Bedeutung weitestgehend verloren. Auch die Gabe von Laxanzien und die anterograde Darmspülung sind traditionelle Behandlungsverfahren, die nur noch sehr selten eingesetzt werden. Hingegen hat in jüngerer Zeit die orale Gabe von Aktivkohle im Vergleich mit anderen Absorptionsminderungsmaßnahmen größere Bedeutung gewonnen. Die Entleerung des Magens oder des Dickdarms unter endoskopischer Kontrolle und die laparoskopische Giftentfernung bleiben seltenen Indikationen vorbehalten.
Die Indikation für absorptionsvermindernde Maßnahmen hat sich seit dem Ende der 1990er-Jahre stark gewandelt und orientiert sich heute an diesbezüglichen „position statements“ maßgeblicher klinisch-toxikologischer Fachgesellschaften, die im Folgenden dargestellt werden (American Academy for Clinical Toxicology, European Association of Poisons Centres and Clinical Toxicologists 1997/2004/2013). Für keine der Maßnahmen zur Absorptionsverminderung wurde bei umfassender Literaturdurchsicht ein hinreichender klinischer Wirksamkeitsnachweis gefunden. Zudem ist jede der Behandlungsmaßnahmen mit z. T. lebensbedrohlichen Komplikationsrisiken behaftet. Keine dieser Maßnahmen gilt heute daher mehr als Routinebehandlungsverfahren. Über die Indikationsstellung muss in jedem Einzelfall nach kritischer Kriterienprüfung entschieden werden.
Magenspülung
Die Magenspülung erfolgt durch orales Einführen und Vorschieben eines großlumigen Kunststoffschlauchs in den Magen und wiederholtes Einspülen und Ablaufenlassen von körperwarmem Wasser (500–1000 ml/Spülportion), bis die auslaufende Spülflüssigkeit keine festen Bestandteile oder Verfärbungen mehr enthält.
In experimentellen Untersuchungen wurde festgestellt, dass die Ausbeute einer Magenspülung im Verlauf der ersten Stunde nach Ingestion schnell abfällt. In mehreren kontrollierten klinischen Studien der 1990er-Jahre wurde zudem gezeigt, dass die Durchführung einer Magenspülung das Risiko für das Auftreten einer Aspirationspneumonie stark erhöht.
Außerdem betonen die klinisch-toxikologischen Fachgesellschaften hinsichtlich der Magenspülung, dass keine klinische Studie bisher zeigen konnte, dass hierdurch die Schwere einer Vergiftung, die Krankheitsdauer oder den Ausgang einer Vergiftung positiv beeinflusst werden kann, auch wenn sie frühzeitig durchgeführt wurde.
Die zahlreichen Komplikationen, die mit der Durchführung der Magenspülung verbunden sind, und ihre nicht unerheblichen Kontraindikationen rechtfertigen ihren Einsatz nicht als Routinemaßnahme. Ferner sollte sie nur von erfahrenem Personal durchgeführt werden, welches in Anbetracht ihrer beschränkten Anwendung häufig nicht verfügbar ist.
Eine Magenspülung sollte daher, falls erwogen, mit einem Giftinformationszentrum (siehe Tab. 4) besprochen werden.
Magensonde
Toxische Flüssigkeiten können über eine Sonde schonend aus dem Magen abgesaugt werden. Zu diesem Verfahren liegen keine Bewertung von Nutzen und Risiken und keine Vergleiche mit anderen absorptionsvermindernden Maßnahmen vor. Toxikokinetische Untersuchungen lassen vermuten, dass Flüssigkeiten im Regelfall schneller aus Magen und Darm absorbiert werden als feste Stoffe.
Eine Giftentfernung über eine Magensonde muss daher als experimentelles Verfahren bewertet werden. Eine Anwendung ist allenfalls innerhalb von 60 min nach Ingestion einer Flüssigkeit plausibel.
Oesophagogastroskopie
Manche Arzneimittel können, insbesondere nach Einnahme in Überdosis, im Magen verklumpen, sich so einem peristaltischen Weitertransport widersetzen und zu langanhaltender Nachabsorption führen. Dadurch kann die Vergiftung deutlich länger andauern, als nach der Eliminationshalbwertszeit des aufgenommenen Wirkstoffs zu erwarten wäre. Am häufigsten wird dieses Phänomen bei Carbamazepin und bei retardierten Psychopharmaka beobachtet. Um den Prozess der Nachabsorption zu unterbrechen, kann das verklumpte Material endoskopisch zerkleinert und entfernt werden.
Eine endoskopische Untersuchung kann zudem nach Ingestion ätzender Noxen durchgeführt werden, wobei auch bei dieser Methode nur zu einem frühen Zeitpunkt die Möglichkeit zur Minderung des lokalen Schadens und ggf. der Absorption besteht. Sinnvoll erscheint eine endoskopische Giftentfernung bei Ingestion hoher Dosen, wie sie typischerweise bei suizidaler Ingestion zu erwarten sind. Erst eine späte Ösophagogastroskopie (frühestens 6 h nach Ingestion) ermöglicht hingegen die medizinisch notwendige Beurteilung des vollständigen Ausmaßes der Schleimhautschädigung und des Perforationsrisikos. Sowohl durch die frühe als auch durch die spät durchgeführte Endoskopie kann das Risiko für eine Perforation der geschädigten Organwand erhöht werden; sie sollte daher durch sehr erfahrene Untersuchende erfolgen.
Kontrollierte Studien zur Anwendung endoskopischer Methoden liegen nicht vor.
Induziertes Erbrechen
Das induzierte Erbrechen, meist ausgelöst durch die Gabe von Sirupus ipecacuanha (Ipecac, oral), aber auch durch Apomorphin (i. m.) oder Kochsalzlösung (oral), war bis fast zum Ende des 20. Jahrhundert eine Standardmethode zur Verminderung der Absorption nach oraler Aufnahme toxischer Stoffe, insbesondere im Kindesalter. Bei Ipecac-Gabe setzt das Erbrechen im zeitlichen Mittel nach 20 min ein und dauert durchschnittlich 60 min an.
Kontraindikationen dieser Maßnahme sind Vergiftungen mit rasch einsetzender Wirkung, die im Verlauf die Schutzreflexe beeinträchtigen, was bei einsetzendem Erbrechen das Aspirationsrisiko erhöht. Weitere Einschränkung ist die Aufnahme von schäumenden Substanzen, deren vorrangige Gefahr ebenfalls in der Aspiration liegt. Auch nach Aufnahme ätzender Produkte darf kein Erbrechen ausgelöst werden, da die Schleimhaut des Ösophagus empfindlicher als die Magenschleimhaut und diese durch Erbrechen doppelt exponiert würde. Im Anbetracht der zahlreichen Einschränkungen und Umstände, die das induzierte Erbrechen verbieten, gilt dieses Verfahren mittlerweile praktisch als obsolet.
Einmalige Aktivkohlegabe
Die pharmakologischen Eigenschaften der medizinischen Kohle (Aktivkohle, Carbo medicinalis) wurden vielfach untersucht: Aktivkohle bindet viele organische und wenige anorganische Stoffe sehr effektiv. Bei Stoffen, die aufgrund vergleichsweise geringer Toxizität erst nach Ingestion von Dosen über 50 g Vergiftungen auslösen (wichtigstes Beispiel: Ethanol), ist die Gabe von Aktivkohle wegen ihrer begrenzten Bindungskapazität im Regelfall nicht effektiv. Die Gabe von Aktivkohle in üblicher therapeutischer Dosis (1 g/kg KG) ruft oft Erbrechen hervor, das eine Aspiration verursachen kann (selten bei erhaltenen Schutzreflexen).
Kohlegabe (Standarddosis: 0,5–1,0 g/kg KG in wässriger Suspension) gilt ebenfalls nur als indiziert nach oraler Aufnahme einer toxischen Giftdosis, wenn die Behandlung innerhalb von 60 min nach Ingestion durchgeführt werden kann und bekannt ist, dass die applizierte Kohle einen wesentlichen Anteil der ingestierten Giftdosis effektiv bindet. Als kontraindiziert gilt die Gabe von Aktivkohle bei eingeschränktem Bewusstsein – es sei denn, die Atemwege wurden durch Intubation hinreichend vor Aspiration geschützt. Nach Aufnahme ätzend wirkender Stoffe sollte ebenfalls auf eine Kohlegabe verzichtet werden, da diese Maßnahme eine nachfolgende endoskopische Diagnostik erschwert. Nach induziertem Erbrechen wird die Gabe von Aktivkohle nicht mehr als sinnvoll erachtet.
Laxanzien und anterograde Darmspülung
Ein Laxans als Zusatz zur Aktivkohle stellte über viele Jahre die Standardbehandlung oraler Vergiftung dar. Durch die Gabe des Laxans sollte die giftbeladene Aktivkohle schneller enteral ausgeschieden und eine durch Aktivkohle verursachte Obstipation vermieden werden. Wegen des Fehlens jeglichen Wirksamkeitsnachweises aus klinischen Studien gilt die Verwendung von Laxanzien zur Absorptionsverminderung heute als obsolet (zum Zusatz von Laxans bei wiederholter Kohlegabe zur Eliminationsbeschleunigung s. u.).
Eine zurückhaltende Bewertung gilt auch für die anterograde Darmspülung („whole bowel irrigation“), die besonders in Nordamerika früher oft zur Absorptionsverhinderung angewandt wurde.

Verminderung der Absorption und eines lokalen Schadens nach Augen- oder Hautexposition

Bei dermalem Kontakt mit einem toxischen Agens steigt die lokale Schädigung oder die absorbierte Dosis mit der Dauer der Einwirkung an. Es ist daher als plausibel anzusehen, dass eine frühzeitige Beendigung der Exposition das Ausmaß der Beschwerden reduziert.
Die Dekontamination von Haut und leicht zugänglichen Schleimhäuten, insbesondere der Augen, besitzt im Gegensatz zur Magen-Darm-Dekontamination auch heute noch eine große therapeutische Bedeutung, da das Komplikationsrisiko für diese Behandlung als sehr gering ist. Dieses günstige Nutzen-Risiko-Profil gilt auch für die frühzeitige Dekontamination durch Ersthelfende, die dazu telefonisch angewiesen werden können.
Begründet werden die im Folgenden beschriebenen Maßnahmen unter Verweis auf experimentelle Untersuchungen; klinische Daten aus kontrollierten Studien sind nicht verfügbar.
Dekontamination der Haut
Die Dekontamination der Haut wird durch die vollständige Entfernung von kontaminierter Kleidung eingeleitet. Anschließend wird der betroffene Hautbereich mit fließendem, möglichst körperwarmem Wasser gespült. An vielen Arbeitsplätzen, an denen mit gefährlichen Stoffen umgegangen wird, steht für die Spülung eine Notdusche bereit. Die Dauer der Spülung richtet sich nach der Art des Stoffes und der Dauer der Einwirkung auf die Haut. Zum Beispiel sollte nach mehrminütiger Einwirkung einer ätzenden Lauge mindestens 15 min gespült werden, um eine ausreichende Dekontamination zu erzielen.
Bei Hautkontamination mit lipophilen Agenzien, z. B. Phenol, kann die Spülung mit Wasser auch bei nur oberflächlichem Eindringen in die Haut nur wenig Schadstoff entfernen. In diesem Fällen scheint es plausibel, ein lipophiles, aber dennoch hautverträgliches Lösungsmittel zur Spülung zu verwenden. Traditionell wird für diesen Zweck Polyethylenglykol 400 (PEG-400) empfohlen. Auf augenscheinlich unverletzter Haut scheint auch eine Verwendung von handelsüblichem Speiseöl zu Spülung vertretbar zu sein, sofern PEG-400 nicht verfügbar ist.
Eine stoffspezifische und hochwirksame dermale Dekontamination bei Einwirkung von Flusssäure oder Lost-Kampfstoffen ist mit Kalziumgluconat bzw. Tosylchloramid-Natrium (Chloramin T) möglich.
Dekontamination der Augen
Sinngemäß gelten bei Augenexpositionen die gleichen Spülempfehlungen mit Wasser wie für die Haut beschrieben (oben). Die Dekontamination der Augen wird häufig durch einen Blepharospasmus erschwert, der erst nach lokaler oberflächlicher Anwendung eines Lokalanästhetikums durchbrochen werden kann.
Zurückhaltung kann bei der Augenkontamination mit Brandkalk (ätzend wirkendes Kalziumoxid) geboten sein, da bei blepharospasmusbedingtem ungenügendem Spülerfolg eine chemische Reaktion mit Wasser unter starker Wärmeentwicklung induziert werden kann, die das Auge zusätzlich schädigt.

Dekontamination nach inhalativer Exposition

Im Gegensatz zu den Verhältnissen bei oralem, Haut- oder Augen-Expositionspfad ist bei inhalativer Exposition eine Dekontamination nur eingeschränkt möglich.
Traditionell wird nach Inhalation einer größeren Dosis Babypuder bei ausgeprägter initialer Atemwegssymptomatik eine Bronchiallavage empfohlen, da in Einzelfällen eine deutliche Verbesserung des klinischen Zustandes erreicht werden konnte. Klinische Untersuchungen hierzu fehlen für diese heute sehr seltene Exposition.

Förderung der Elimination – sekundäre Giftentfernung

Nach Einführung der Hämodialyse in die Intensivmedizin Anfang der 1960er-Jahre entwickelte sich dieses Verfahren schnell zu einer wichtigen Methode der Vergiftungsbehandlung. Durch Hämodialyse kann eine absorbierte Noxe beschleunigt aus der Blutbahn eliminiert werden. Eine Indikation zur Hämodialyse wurde in den 1980er-Jahren bei bis zu 140 verschiedenen Vergiftungen gesehen.
Weitere intensivmedizinische Methoden zur Beschleunigung der Giftelimination kamen während der folgenden Jahrzehnte hinzu, von denen der Hämoperfusion seit den 1970er-Jahren eine besondere therapeutischen Bedeutung zugedacht wurde (Jaeger 2004). Weniger invasive Methoden zur Beschleunigung der Elimination stellen die kontrollierte Hyperventilation, die forcierte Diurese, die Urinalkalisierung, die Urinansäuerung und die wiederholte Gabe von Aktivkohle dar.
Eine große Zahl von Fallberichten und Fallserien wurde dokumentiert, in den meisten Fällen jedoch, ohne dass der Nutzen der Behandlungen für die Patienten hinsichtlich des Verlaufs der Vergiftung systematisch dokumentiert wurde. Übersichtsarbeiten jüngeren Datums, in denen diese Aspekte methodenspezifisch untersucht wurden, führten zu einem erheblich eingeschränkten Indikationsspektrum (Jaeger 2004). Dieses soll im Folgenden, aufsteigend sortiert nach dem Ausmaß der Invasivität der Methodik, erläutert werden.

Urinalkalisierung

Die Alkalisierung des Urins ist ein vergleichsweise verträgliches und einfach anzuwendendes Verfahren zur Eliminationsbeschleunigung schwacher Säuren. Durch intravenöse Gabe von Natriumhydrogenkarbonat wird eine leichte „metabolische“ Alkalose induziert, die der Körper durch vermehrte renale Elimination basischer Stoffe kompensiert: Im alkalisch eingestellten Primärurin (Glomerulumfiltrat, pH-Wert 7,5–9,0) liegen schwach saure Agenzien überwiegend in Form ihrer hydrophilen Säureanionen vor und werden in dieser Form praktisch nicht rückabsorbiert.
Klinische Untersuchungsergebnisse deuten darauf hin, dass die Urinalkalisierung bei Aufnahme toxischer Dosen von Salicylaten, Barbituraten, Herbizidwirkstoffen vom Chlorphenoxykarbonsäure-Typ, Fluoriden, Methotrexat, Diflunisal und Chlorpropamid wirksam ist. Zudem wird eine Urinalkalisierung oft bei toxisch induzierter Rhabdomyolyse durchgeführt (nur bei saurem Urin-pH-Wert, pH nur bis auf 7 anheben).

Urinansäuerung

In Analogie zur besser untersuchten Alkalisierung des Urin stellt auch das Ansäuern des Urins ein verträgliches und einfach anwendbares Verfahren dar und wird gelegentlich angewandt, um die Elimination schwacher Basen zu beschleunigen : Durch intravenöse Gabe von z. B. Methionin. Argininhydrochlorid oder anderer Säuren wird eine leichte metabolische Azidose induziert, die der Körper durch vermehrte renale Elimination saurer Stoffe kompensiert: Im sauer eingestellten Primärurin (pH-Wert 4–5) liegen schwach alkalische Agenzien überwiegend in Form ihrer hydrophilen Ammoniumkationen vor und werden in dieser Form praktisch nicht rückabsorbiert.
Das Verfahren ist pharmakologisch plausibel, seine klinische Bedeutung ist jedoch nicht evaluiert, systematische Untersuchungen zur Wirksamkeit fehlen.

Forcierte Diurese

Ziel der forcierten Diurese ist eine Steigerung der Ausscheidung renal eliminierter toxischer Stoffe durch Steigerung des Harnvolumens. Dies wird durch eine intravenöse Zufuhr großer Volumina von Kristalloidlösungen, ggf. in Kombination mit Diuretika, erreicht. Durch Zugabe von Natriumhydrogenkarbonat oder Argininhydrochlorid kann zusätzlich eine Alkalisierung bzw. Ansäuerung erreicht werden (s. oben). Bei Durchführung der forcierten Diurese besteht das Risiko einer Überwasserung mit Elektrolytentgleisung, insbesondere bei eingeschränkter Nierenfunktion. Eine engmaschige Elektrolytkontrolle ist daher erforderlich.
Die Wirksamkeit der forcierten Diurese zur Eliminationsbeschleunigung bei Vergiftungen konnte in klinischen Studien nicht nachgewiesen werden. Gleichsam konnte eine Überlegenheit der forcierten alkalischen Diurese gegenüber der Urinalkalisierung ohne Volumenbelastung ausschließlich für Chlorphenoxykarbonsäuren nachgewiesen werden. Für alle anderen Vergiftungen gelten alle Diureseverfahren wegen des vergleichsweise ungünstigen Nutzen-Risiko-Verhältnisses heute als kontraindiziert.

Wiederholte Aktivkohlegabe

Neben der Anwendung zur Absorptionsverminderung (s. oben) wird die orale Gabe von Aktivkohle in wässriger Suspension bei einer kleinen Zahl von Stoffen eingesetzt, um die Elimination zu beschleunigen. Dazu wird die Kohle 2-stündlich in einer Dosis von 500 mg/kg KG oral verabreicht. Bei der 1. Dosis wird bei erwachsenen Patienten der Suspension ein Laxans, z. B. Natriumsulfat, zugesetzt, um eine Obstipation zu vermeiden. Der Wirkmechanismus besteht in der Elimination der Stoffe durch Rückdiffusion in den Darm entlang eines Konzentrationsgefälles, das durch die niedrige freie Konzentration des Stoffes in der Umgebung der Kohle erzeugt wird.
Die wiederholte Gabe von Aktivkohle gilt nach aktueller Datenlage klinischer Studien als indiziert nach Aufnahme toxischer Dosen von Carbamazepin, Phenobarbital, Dapson, Chinin und Theophyllin. Bei diesen Vergiftungen hat die wiederholte Kohlegabe hinsichtlich der Beschleunigung der Elimination eine ähnliche Wirksamkeit wie eine Hämoperfusion.
Cave
Kontraindiziert ist die wiederholte Kohlegabe bei gestörten Schutzreflexen der Atemwege sowie bei Darmobstruktion.

Kontrollierte Hyperventilation

Die Verteildauer von Stoffen im Körper, insbesondere von leichtflüchtigen organischen Lösungsmitteln, die wegen ihres hohen Dampfdrucks bei Körpertemperatur zu einem erheblichen Anteil abgeatmet werden, kann durch eine kontrollierte Hyperventilation unter vermindertem Sauerstoffpartialdruck in der Inspirationsluft verkürzt werden.
Klinische Studien zu dieser nur selten indizierten Behandlung liegen nicht vor. Viele organische Lösemittel lösen mitunter lebensbedrohliche Herzrhythmusstörungen aus. Da die kontrollierte Hyperventilation mit erhöhtem Sympathotonus einhergehen kann, der das Auftreten von Herzrhythmusstörungen begünstigt, wird die Anwendung meist kritisch bewertet.

Hämodialyse

Viele Fremdstoffe sind dialysierbar, die Wirksamkeit einer Hämodialyse zur wirksamen Beschleunigung der Elimination ist jedoch nur für wenige Stoffe überzeugend gesichert. Als kontraindiziert gilt die Hämodialyse heute bei allen Vergiftungen mit Stoffen, die ein hohes virtuelles Verteilungsvolumen besitzen (wie die meisten Psychopharmaka).
Die Hämodialyse stellt zudem ein invasives Behandlungsverfahren dar, das den Körper erheblich belastet (Blutungsrisiko nach Heparinisierung, Verbrauchskoagulopathie, arterielle Hypotonie, Infektionsrisiko). Die Indikation zur Dialyse zum Zweck der Eliminationsbeschleunigung sollte daher selbst bei gesicherter toxikokinetischer Wirksamkeit nur zurückhaltend gestellt werden (Beispiel: sehr selten indiziert bei akuter Ethylalkoholvergiftung).
Auch heute noch unzweifelhaften Stellenwert hat die Hämodialyse bei der Vergiftung mit Lithiumsalzen und mit Salicylaten sowie bei schweren Vergiftungen mit „toxischen“ Alkoholen. Für die Behandlung der Methanol- und Ethylenglykolvergiftung, für die die Hämodialyse über Jahrzehnte als Standardbehandlungsmethode galt, steht mit Fomepizol heute ein gut wirksames Antidot zur Verfügung. Eine Dialyse gilt bei diesen Vergiftungen nur noch als indiziert, wenn Fomepizol nicht verfügbar ist oder die medizinische Behandlung erst begonnen werden kann, nachdem bereits toxische Mengen von Methanol- oder Glykolmetaboliten im Stoffwechsel gebildet wurden.

Hämoperfusion

Im Gegensatz zur Hämodialyse kann mit Hämoperfusion die Elimination auch solcher Stoffe beschleunigt werden, die zu einem hohen Anteil plasmaproteingebunden vorliegen. Auch die Hämoperfusion ist ein invasives Behandlungsverfahren, das den Kreislauf und das Gerinnungssystem erheblich belastet (Blutungsrisiko nach Heparinisierung, Leukozytopenie, Thrombozytopenie, Verbrauchskoagulopathie, arterielle Hypotonie, Infektionsrisiko).
Prinzipiell gilt die Wirksamkeit der Hämoperfusion bei schweren Vergiftungen mit Barbituraten (in Ergänzung zur Urinalkalisierung), Carbamazepin und Theophyllin als gesichert. Kontraindiziert ist die Hämoperfusion z. B. bei Knollenblätterpilz- und Paraquatvergiftung sowie in gleicher Weise wie die Hämodialyse bei allen Vergiftungen mit Stoffen, die ein hohes virtuelles Verteilungsvolumen besitzen.
Die noch junge Erkenntnis der letzten Jahre, dass die weniger invasive, wiederholte orale Gabe von Aktivkohle in ihrem Wirksamkeitsspektrum und ihrer Effektivität der Hämoperfusion nicht nachzustehen scheint, lässt eine Hämoperfusion möglicherweise zukünftig nur noch dann als indiziert erscheinen, wenn eine wiederholte Kohlegabe indiziert, aber nicht durchführbar wäre.

Antidottherapie

Die Gabe eines Antidots gilt von je her als die wichtigste spezifische Behandlung einer Vergiftung. Die Vorstellung, die Wirkung eines Giftes durch ein Gegengift schnell und vollständig aufheben zu können, faszinierte die Menschheit seit mehr als 2000 Jahren (Valle et al. 2009). Antidote, die in ihrer Wirkung diesem Idealbild entsprechen, gibt es heute für wenige Vergiftungen.
Der modernen Intensivmedizin steht nur eine gut überschaubare Zahl von Arzneimitteln als Antidote zur Verfügung. Bei weitem nicht jede Vergiftung lässt sich mit einem verfügbaren Antidot behandeln, wobei eine Abschätzung des Anteils der mit Antidoten behandelbaren Vergiftungen von der Antidotdefinition abhängt.
Fasst man im weiten Sinne alle bei Vergiftungen symptomorientiert wirkenden Arzneimittel wie etwa Benzodiazepine, Sympathotonika (z. B. Clonidin), Natriumhydrogenkarbonat (zur Alkalisierung von Blut und Urin), Atropin oder Sauerstoff (zur Verdrängung von Kohlenmonoxid) unter den Antidotbegriff, so kann die Mehrzahl der Vergiftungen mit Antidoten behandelt werden. Beschränkt man den Begriff auf Arzneimittel, die ausschließlich zur Behandlung einer spezifischen Vergiftung angewandt werden (z. B. Digitalis-Antitoxin oder Naloxon), so kann nur ein geringer Teil aller Vergiftungen als antidotbehandelbar gelten.
Zurzeit sind knapp 40 zugelassene Arzneimittel als Antidote (im weiteren Sinne) zur Vergiftungsbehandlung in Deutschland verfügbar. In Tab. 3 werden diese Arzneimittel zusammen mit Beispielindikationen aufgelistet. Ferner ist in dieser Tabelle angegeben, welche Antidote für den Notarzt, in jeder Klinik, die Vergiftungen behandelt, oder in einem Klinikverbund vorrätig gehalten werden sollten.
Tab. 3
Antidota zur Behandlung von Vergiftungen und Empfehlung zu ihrer Bevorratung in Notarztkoffer, Klinik oder Klinikverbund. (Empfehlung des Giftinformationszentrums-Nord)
Antidot
Toxische Agenzien (Beispiele)
Notarzt
Klinik
Klinikverbund
Acetylcystein
 
+
 
Aktivkohle
Diverse
+
+
 
Atropin (100 mg)
Alkylphosphate, Methylcarbamate
+
+
 
Beclometasondipropionat
Reizgase
+
+
 
Biperiden
 
+
 
Botulinum-Antitoxin
Botulinumtoxin
  
+
Kalziumglukonat
Flusssäure
(+)
+
 
Dantrolen
Inhalationsnarkotika (maligne Hyperthermie)
 
+
 
Eisensalze
 
+
 
Diazepam
+
+
 
Digitalisantitoxin Fab (Digitalisantidot)
 
+
 
Dimethylaminophenol (4-DMAP)
Blausäure, Zyanide
+
+
 
Dimercaptopropansulfonsäure (DMPS)
 
+
 
Eisen(III)-hexacyanoferrat(II)
  
+
Flumazenil
+
+
 
Folinsäure
 
+
 
Methanol, Formiat
 
+
 
Fomepizol
Methanol, Ethylenglycol
 
+
+
Glucagon
 
+
 
Hydroxocobalamin
Blausäure, Zyanide
(+)
(+)
 
Kreuzotterantitoxin oder -antiserum
Kreuzotter-Venin
  
+
Levocarnitin
Valproat
 
+
 
Magnesiumsulfat
Terfenadin, Aconitin
+
+
 
Naloxon
+
+
 
Natriumsulfat
Bariumsalze
 
+
 
Natriumthiosulfat
Blausäure, Zyanide
(+)
+
 
Obidoxim
Alkylphosphate
(+)
+
 
Physostigmin
Scopolamin
+
+
 
Phytomenadion
Antikoagulanzien
 
+
 
Polyethylenglycol-400
Phenole (dermal)
(+)
+
 
Protamin
Heparin
 
+
 
Pyridoxin
Isoniazid
 
+
 
Sauerstoff
Kohlenmonoxid
+
+
 
Silibinin
  
+
Simethicon
Schaumbildner
+
+
 
Toloniumchlorid
Methämoglobinbildner
+
+
 
Tosylchloramid-Natrium (Chloramin T)
Lost-Kampfstoffe
  
+
Tranexamsäure
Fibrinolytika
(+)
+
 

Rolle der Giftinformationszentren

Rund 80 staatliche Giftinformationszentren (GIZ, Giftnotrufe) wurden seit Mitte des letzten Jahrhunderts in Europa eingerichtet. In den deutschsprachigen Ländern sind neun GIZ rund um die Uhr mit toxikologisch qualifizierten Ärztinnen und Ärzten besetzt (Tab. 4).
Tab. 4
Giftinformationszentren in Deutschland, Österreich und der Schweiz
GIZ
geographische Zuständigkeit
Telefon
Berlin
BE, BB
030/19 240
München
BY
089/19 240
Göttingen
HB, HH, NI, SH
0551/38 31 80 (Fachpersonal)
0551/19 240
Bonn
NW
0228/19 240
Mainz
RP, HE, SL
06131/19 240
Erfurt
TH, SN, ST, MV
0761/730 730
Freiburg
BW
0761/19 240
Wien
Österreich
+43 1 406 43 43
Zürich
Schweiz
+41 44 251 51 51
Wesentlicher Inhalt der Giftnotrufberatung ist die toxikologische Risikobewertung des Einzelfalls als Beitrag zur Diagnostik und daraus abgeleitet Empfehlungen zur bestmöglichen medizinischen Behandlung nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft. Oft werden die GIZ sehr früh nach einem Expositionsereignis von Betroffenen selbst oder von Begleitpersonen kontaktiert. Dadurch können Ersthelfende sinnvoll angeleitet und auf diese Weise Fehlverhalten mit Komplikationen (Sekundärprävention) und viele unnötige medizinischen Behandlungen vermieden werden
Alle Beratungsfälle werden in den GIZ dokumentiert, einschließlich der die Vergiftung auslösenden Noxen (Produkte). In einem Teil der Fälle werden der weitere klinische Verlauf und der Ausgang der Vergiftung verfolgt und ebenfalls dokumentiert. Dieser Datenbestand an Humankasuistiken wird zur Verbesserung der Beratungsgrundlagen fortlaufend ausgewertet. Dabei werden zur schnelleren Bewertung der Humantoxizität neuer Wirkstoffe, Produkttypen oder sehr seltener Noxen oft die Falldaten mehrerer GIZ zusammengeführt. Die Falldokumentation der GIZ wird zudem in steigendem Maße genutzt, um neu auftretende Vergiftungsrisiken oder Trendentwicklungen frühzeitig zu erkennen und zu verifizieren (auf Veranlassung von oder in Zusammenarbeit mit verschiedenen Überwachungsbehörden).
Literatur
American Academy for Clinical Toxicology, European Association of Poisons Centres and Clinical Toxicologists (1997/2004/2013) The AACT/EAPCCT Position Statements on Gastrointestinal Decontamination. J Toxicol Clin Toxicol 35 (7): 695–762 (1997); J Toxicol Clin Toxicol 43 (2004); Clin Toxicol 51 (3): 134–146 (2013)
Jaeger A (2004) Changes in the approaches to drug elimination in poisoning over the last 40 years. J Toxicol Clin Toxicol 42(4):412–414
Lewin L (1920) Giftentfernung bei der Behandlung Albrecht I. von Habsburg (1255–1308); zit. nach Lewin L: Gifte in der Weltgeschichte, Berlin 1920, S 49
Maurer HH (2012) How can analytical diagnostics in clinical toxicology be successfully performed today? Ther Drug Monit 34(5):561–564CrossRefPubMed
Persson HE, Sjöberg GK, Haines JA, de Pronczuk GJ (1998) Poisoning severity score. Grading of acute poisoning. J Toxicol Clin Toxicol 36(3):205–213CrossRefPubMed
Valle G et al (2009) Mithridates VI Eupator, Father of empirical toxicology. Clin Toxicol 47:433CrossRef