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Die Intensivmedizin
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Publiziert am: 21.01.2023

Möglichkeiten und Grenzen der Intensivmedizin

Verfasst von: Uwe Janssens
Intensivmedizin ist eine relativ junge Disziplin, die sich in den vergangenen Jahrzehnten zu einem eigenständigen Fachgebiet entwickelt hat (Vincent et al. 2010). Die heutige Intensivmedizin hat nur noch wenig mit den Anfängen zu Zeiten der Polioepidemie in den 50er-Jahren gemeinsam (Vincent und Singer 2010). Sie stellt einen unverzichtbaren Bestandteil der stationären Krankenversorgung mit enger Anbindung an Notfallaufnahme, Operationseinheiten und die initial oder weiterversorgenden Normalstationen dar (Janssens und Graf 2011).

Einleitung

Intensivmedizin ist eine relativ junge Disziplin, die sich in den vergangenen Jahrzehnten zu einem eigenständigen Fachgebiet entwickelt hat (Vincent et al. 2010). Die heutige Intensivmedizin hat nur noch wenig mit den Anfängen zu Zeiten der Polioepidemie in den 50er-Jahren gemeinsam (Vincent und Singer 2010). Sie stellt einen unverzichtbaren Bestandteil der stationären Krankenversorgung mit enger Anbindung an Notfallaufnahme, Operationseinheiten und die initial oder weiterversorgenden Normalstationen dar (Janssens und Graf 2011).
Prinzipiell werden Patient:Innen auf eine Intensivstation (ITS) mit einem kurativen Therapieansatz aufgenommen. Die Intensivtherapie stellt medizinische sowie medizintechnische Verfahren, fachliches Wissen und eine hohe Personaldichte zur Verfügung, um Zeit für das Wiedererlangen gestörter oder verlorener Körper- und Organfunktionen zu gewinnen. Die betroffenen Patient:Innen sollen in eine Situation versetzt werden, in der sie mit den verbleibenden Defekten ein Leben unabhängig von der ITS führen können. Somit überbrückt und ermöglicht die Intensivmedizin im Erfolgsfall das Überleben und die Rückkehr der Patient:Innen in ein unabhängiges und selbstbestimmtes Leben (Quintel 2012).
Immer wieder kommt es jedoch zu einer kompletten, teilweise irreversiblen Abhängigkeit der Patient:Innen von lebensunterstützenden Apparaturen. In anderen Fällen wird die intensivmedizinische Behandlung nur mit schweren neurologischen und somatischen Defiziten überlebt, die für die Patient:Innen nach Entlassung eine erhebliche Einschränkung seiner Lebensqualität bedeuten können (DeVita et al. 2003; Janssens 2010).
Die Veränderung der allgemeinen Altersstruktur (Abb. 1) und der gleichzeitig nachweisbar zunehmende Anteil sehr alter Patient:Innen auf der ITS (Bagshaw et al. 2009) stellt die Intensivmediziner vor neue Herausforderungen. Dabei spielt die altersabhängig wachsende Anzahl an Komorbiditäten eine besondere Rolle. Chronische Erkrankungen wie Herzinsuffizienz, Diabetes oder Niereninsuffizienz sind für die Prognose – neben dem Alter – von herausragender Bedeutung. Die natürlichen Grenzen des Lebens werden durch eine effektive Intensivmedizin tatsächlich immer weiter verschoben – die Hochleistungsmedizin scheint keine Grenzen mehr zu kennen. Neben dem Wunsch vieler Menschen nach einem langen und möglichst gesunden Leben macht sich aber auch eine Angst vor einer inhumanen Apparatemedizin breit, die ein Sterben nicht zulässt und einen Sterbeprozess unnötig und qualvoll verlängert.
Auch wenn Intensivmediziner:Innen traditionell Krankheiten heilen und Gesundheit und funktionellen Status der Patient:Innen wiederherstellen möchten, muss die Intensivmedizin den Patient:Innen mit entsprechend schlechter Prognose auch einen guten und würdigen Tod ermöglichen und garantieren können (Truog et al. 2008). Im gleichen Umfang wie der technologische Fortschritt Therapieerfolge in der Intensivmedizin sichert, verfügen wir über genügend Kenntnisse und Fähigkeiten einen würdigen und schmerzfreien Tod zu unterstützen (Truog et al. 2008). Dieser Spagat zwischen kurativ ausgerichteter Maximaltherapie und Therapiezieländerung mit dem Ziel einer optimierten palliativen Behandlung (siehe Kap. 14) sterbender Patient:Innen ist sicherlich für Ärzt:Innen und das gesamte Behandlungsteam eine der zentralen Herausforderungen einer modernen und humanen Intensivmedizin (Janssens 2004).
Die Intensivmedizin befindet sich im Spannungsfeld zwischen Heilen und Sterben. Diesen scheinbaren Widerspruch gilt es zu überbrücken und zu verbinden.

Sterben auf der Intensivstation

Sterben auf der ITS ist häufig und kommt selten unerwartet. Die Anzahl der Sterbefälle auf ITS nach Beendigung lebensunterstützender Maßnahmen nimmt international deutlich zu (Truog et al. 2008; Truog et al. 2001). In einer französischen Studie konnte gezeigt werden, dass 53 % der Sterbefälle auf ITS nach Therapielimitierung (Tab. 1) auftreten (Ferrand et al. 2001).
Tab. 1
Formen der Begrenzung intensivmedizinischer Maßnahmen (nach (Scheffold et al. 2009))
Primärer Therapieverzicht
Verzicht auf die Aufnahme einer Patient:In auf die Intensivstation
Therapiebegrenzung („withholding treatment“)
Instrument der Limitation therapeutischer Maßnahmen auf einem zuvor definierten Umfang
Therapiebeendigung („withdrawing treatment“)
Aktive Beendigung jeglicher lebenserhaltender Maßnahmen
Therapiereduktion/Therapieminimierung
Rücknahme begonnener intensivmedizinischer Maßnahmen
In der europäischen ETHICUS-Studie wurden lebensverlängernde Maßnahmen bei 9,8 % aller Intensivaufnahmen (3068 von 31.417 Patient:Innen) bzw. bei 76 % aller sterbenden Patient:Innen (n = 4056) eingestellt (Sprung et al. 2003). Amerikanische Daten gehen hierbei sogar von 90 % aus (Prendergast und Luce 1997). Die mediane Zeitdauer von der ersten Entscheidung zur Therapielimitierung bis zum Tod der Patient:Innen lag in der ETHICUS-Studie bei 14,7 (2,9–54,7) Stunden (Sprung et al. 2003). Die ETHICUS-2 Studie untersuchte zwischen 2015 und 2019 die Praktiken am Lebensende auf 199 ITS in 36 Ländern weltweit (Avidan et al. 2021). Eine Limitation lebenserhaltender Behandlungen wurde bei 10.401 Patient*Innen registriert (11,8 % aller Aufnahmen auf der ITS und 80,9 % von 12.850 Patient*Innen der Studienpopulation. Die häufigste Einschränkung war das Unterlassen einer lebenserhaltenden Behandlung (5661 [44,1 %]), gefolgt von Beendigung der lebenserhaltenden Behandlung (4680 [36,4 %]). In einer retrospektiven Beobachtungsstudie wurde die deutschlandweite fall-pauschalenbezogene Krankenhausstatistik (DRG-Statistik; DRG, „diagnosis related groups“) zwischen 2007 und 2015 ausgewertet (Fleischmann-Struzek et al. 2019). Dabei wurden Hospi-talisierungen, Anzahl der Todesfälle und die Inanspruchnahme einer Inten-sivtherapie untersucht. Die jährlichen bevölkerungsbasierten Inzidenzen wurden auf die Alters- und Geschlechtsverteilung der deutschen Bevölkerung standardisiert. Die standardisierten Krankenhausbehandlungsraten stiegen jährlich um 0,8 % (von 201,9 auf 214,6 pro 1000 Einwohner), während die Krankenhausbehandlungsraten mit Inanspruchnahme einer Intensivtherapie jährlich um 3,0 % (von 6,5 auf 8,2 pro 1000 Einwohner) stiegen. Unter allen Todesfällen in der deutschen Bevölkerung nahm der Anteil der Todesfälle im Krankenhaus mit Inanspruchnahme einer Intensivtherapie jährlich um 2,3 % zu (von 9,8 auf 11,8 %). Unter den Krankenhaustodesfällen erhöhte sich der Anteil der Patient*Innen, die eine Intensivtherapie erhielten, jährlich um 2,8 % von 20,6 % (2007) auf 25,6 % (2015). In der Altersgruppe ab 65 Jahre stieg die Zahl der im Krankenhaus Verstorbenen, die eine Intensivtherapie erhielten, dreimal so schnell wie die der Krankenhaustodesfälle.

Ethische Grundlagen – Autonomie der Patient:Innen

Den Entscheidungen zur Therapieausrichtung am Lebensende sind in der Regel sehr komplexe Diskussionen vorgeschaltet, die neben enormen medizinischen Sachverstand dem Intensivmediziner auch juristische Kenntnisse abverlangen und eine hohe soziale Kompetenz und Kommunikationsfähigkeit erfordern. Dabei spielt die Medizinethik eine zentrale Rolle.
Beauchamp und Childress entwickeln die Grundprinzipien, die sich schon im Hippokratischen Eid finden, weiter und schlagen als Kernelemente medizinethischer Prinzipien folgende Punkte vor (Beauchamp und Childress 2013; Nauck 2011):
  • Respekt vor der Autonomie.
    • Das Prinzip der Autonomie schließt den Respekt vor den Wertvorstellungen und dem Willen der Patient:Innen ebenso ein wie die Verpflichtung der Ärzt:Innen, die informierte Willensbildung zu fördern
  • Fürsorge („beneficence“)
    • Das Prinzip der Fürsorge bedeutet durch Handeln das Wohlergehen der Patient:Innen zu fördern.
  • Nichtschaden („nonmaleficence“)
    • Das Prinzip der Schadensvermeidung entspricht dem ärztlichen Grundsatz des primum nil nocere.
  • Gerechtigkeit
    • Das Prinzip der Gerechtigkeit bezieht sich auf die Vorstellungen von fairer Ressourcenverteilung im Gesundheitswesen.
„Primun non nocere“ (Nicht-Schaden) und das Recht auf Selbstbestimmung sind Kernelemente einer ethisch ausgerichteten Entscheidungsfindung.
Das Autonomieprinzip ist in der westlichen Welt als eine medizinethische, rechtlich und gesellschaftspolitisch nicht mehr ernsthaft strittige Grundforderung aufzufassen (Neitzke 2014): Der Wille der Patient:Innen ist das höchste Gebot.
Das am 01.09.2009 in Kraft getretene Dritte Gesetz zur Änderung des Betreuungsrecht (Bundesgesetzblatt 2009) implementiert erstmalig auf gesetzlicher Grundlage das Instrument der Patient:Innenverfügung und stellt somit sicherlich eine unzweifelhafte Verbesserung der ärztlichen Versorgung schwerstkranker und nicht einwilligungsfähiger Patient:Innen dar.

Terminologie

Begriffsverwirrungen und Fehlinformationen zu ethischen oder rechtlichen Termini können zu problematischen Handlungen in der Versorgung und Betreuung schwer Kranker und Sterbender führen (Wallner 2008). Es bestehen erhebliche Unsicherheiten in Bezug auf die Differenzierung zwischen ‚aktiver‘ und ‚passiver‘ sowie ‚direkter‘ und ‚indirekter‘ Sterbehilfe/Euthanasie. Im deutschen Rechtsraum sind aktive und direkte Sterbehilfe verboten, wohingegen die passive Sterbehilfe gestattet ist (z. B. Verzicht auf eine Reanimation), da hierbei nicht in den Sterbeprozess eingegriffen wird. Erlaubt ist ebenfalls die indirekte Sterbehilfe, bei der die Hauptintention eine andere als der Tod der Patient:Innen ist (z. B. Schmerztherapie).
Der Nationale Ethikrat (Ethikrat 2006) schlägt vor, die eingeführte, aber missverständliche und teilweise irreführende Terminologie von aktiver, passiver und indirekter Sterbehilfe aufzugeben. Entscheidungen und Handlungen am Lebensende, die sich mittelbar oder unmittelbar auf den Prozess des Sterbens und den Eintritt des Todes auswirken, können angemessen beschrieben und unterschieden werden (Tab. 2) (Ethikrat 2006).
Tab. 2
Terminologie Therapie am Lebensende (nach (Ethikrat 2006))
Begriff
Vorgang
Maßnahmen zur Pflege und Betreuung von Todkranken und Sterbenden.
Körperliche Pflege, Löschen von Hunger- und Durstgefühlen, Mindern von Übelkeit, Angst, Atemnot, aber auch menschliche Zuwendung und seelsorgerlicher Beistand
Therapie am Lebensende
Maßnahmen in der letzten Phase des Lebens mit dem Ziel, Leben zu verlängern und Leiden zu lindern.
Dazu zählen auch Maßnahmen mit der Möglichkeit einer Verkürzung des natürlichen Sterbeprozesses (hochdosierte Schmerzmedikation, starke Sedierung).
Tod der Patient:In ist weder direkt noch indirekt das Ziel des Handelns
Sterbenlassen
Lebensverlängernde Maßnahme wird unterlassen bzw. nicht eingeleitet oder nicht weiter fortgeführt oder beendet. Der durch den Verlauf der Krankheit bedingte Tod tritt früher ein.
Beihilfe zur Selbsttötung
Ärzt:Innen oder andere Personen verschaffen jemandem ein todbringendes Mittel oder unterstützen ihn auf andere Weise bei der Vorbereitung oder Durchführung einer eigenverantwortlichen Selbsttötung.
Die Mitwirkung von Ärzt:Innen bei der Selbsttötung ist keine ärztliche Aufgabe (Avidan et al. 2021).
Tötung auf Verlangen
Verabreichung einer tödlichen Spritze oder Überdosis an Medikamenten, um den Tod eines Betroffenen auf dessen ernsthaften Wunsch hin herbeizuführen, der krankheitsbedingt noch nicht eintreten würde. Ein Anderer und nicht der Betroffene führt die tödliche Handlung aus.
Von Begriffen wie „Therapieabbruch“ oder „Therapieeinstellung“ oder „Therapiebegrenzung“ sollte zu Gunsten des Begriffs „Therapiezieländerung“ Abstand genommen werden. Auch Begriffe wie „DNR“ (do not resuscitate) sind negativ belegt und können entsprechende Emotionen hervorrufen, da hier ein Im-Stich-Lassen der Patient:innen suggeriert wird (Venneman et al. 2008). Vor diesem Hintergrund wurde der Vorschlag gemacht, den Begriff „Allow natural death“ („AND“) in diesem Kontext in den klinischen Alltag einzuführen (Cohen 2004; Venneman et al. 2008). Auch wenn dieser Begriff etwas freundlicher erscheint und auf eine höhere Akzeptanz im Behandlungsteam treffen mag, darf unter keinen Umständen übersehen werden, dass die Prozesse und Inhalte die zu einer AND Anordnung führen, den gleichen Anforderungen bezüglich Indikation und PatientInnenwille standhalten müssen (siehe weiter unten) wie bei der Verzicht auf Wiederbelebung (DNR Anordnung).
Zwischen dem Abbruch einer Behandlung („withdrawal“) und dem Vorenthalten (Therapieverzicht) („withholding“) bestehen prinzipiell keine ethischen Unterschiede.
Die Beendigung einer Behandlung ist für die verantwortlichen Ärzt:Innen und das Behandlungsteam jedoch emotional belastender (Vincent 2001).

Entscheidungen am Lebensende

Im Zentrum aller ärztlichen Bemühungen um eine optimale Therapie schwerkranker Patient:Innen, in der Behandlung von Patient:Innen mit palliativem Therapieansatz oder in der Betreuung von Patient:Innen am Lebensende stehen zwei unumstößliche Grundsätze:
  • Die medizinische Indikation
  • Der Patient:innenwille (Borasio et al. 2009)
Erfüllt die jeweils geprüfte Behandlungsmaßnahme beide Voraussetzungen, muss die Behandlung eingeleitet oder fortgeführt werden. Liegt eine der beiden Voraussetzungen nicht vor, ist eine Therapiezieländerung und Begrenzung der Therapie nicht nur erlaubt, sondern sogar geboten (Jaarsma et al. 2009).

Indikation

Die Indikationsstellung fällt in die alleinige Kompetenz des Arztes (Verrel 2018). Dazu sind zwei Fragen zu beantworten:
(1)
Welches Therapieziel wird mit der zur Diskussion stehenden Maßnahme angestrebt?
 
(2)
Ist das angestrebte Therapieziel durch diese Maßnahme mit einer realistischen Wahrscheinlichkeit zu erreichen?
 
Die Festlegung eines vernünftigen Therapieziels ist die Grundvoraussetzung vor Durchführung diagnostischer und therapeutischer Maßnahmen. Allgemein akzeptierte Therapieziele sind z. B. Heilung, Lebensverlängerung, Rehabilitation oder Erhaltung der Lebensqualität (Janssens und Karg 2012).
Eine Indikation kann nur gestellt werden, wenn zuvor ein Therapieziel definiert wurde (Jaarsma et al. 2009).
In der konkreten Situation muss also wie folgt vorgegangen werden (Janssens et al. 2012):
(1)
Der behandelnde Arzt überprüft anhand der wissenschaftlichen Evidenz, ob die geplante Maßnahme prinzipiell geeignet ist, das angestrebte Therapieziel zu erreichen.
 
(2)
Anschließend wird überprüft, ob die geplante Maßnahme auch geeignet ist, den individuellen Patient:Innen in ihrer konkreten Situation zu helfen. Hier werden die aktuelle Erkrankung, aber auch der Schweregrad, die Prognose sowie vorliegende Begleiterkrankungen berücksichtigt
 
Eine Maßnahme, bei der im konkreten Fall das angestrebte Ziel nicht oder nur mit einer verschwindend kleinen Wahrscheinlichkeit erreicht werden kann, ist nicht medizinisch indiziert (Borasio et al. 2009). Die ärztliche Indikationsstellung sollte in jedem Fall kritisch zwischen dem potenziellen Nutzen einer Maßnahme („beneficence“) und der mit ihr verbundenen Belastung oder gar Schädigung, die es zu vermeiden bzw. zu minimieren gilt („nonmaleficence“) abwägen (Beauchamp und Childress 2013).
Ist eine Maßnahme für die Patient:Innen im Hinblick auf das angestrebte Behandlungsziel ohne Nutzen oder steht der Nutzen in keinem medizinisch vertretbaren Verhältnis zu dem zu befürchtenden Schaden, so ist die Maßnahme medizinisch sinnlos (engl. „futile“). Für ihre Durchführung gibt es keine medizinische Begründung und damit auch keine Rechtfertigung. Sie darf den Patient:Innen nicht angeboten werden bzw. muss – sofern sich die Sinnlosigkeit erst im Laufe der Behandlung herausstellt – abgebrochen werden (Simon 2010).
Erst wenn die Indikation bejaht oder zumindest mit ausreichender Wahrscheinlichkeit angenommen werden kann, wird die Patient:In oder der Vertreter darüber informiert und der Patient:Innenwille ermittelt.
Bei fehlender Indikation ist die Überprüfung des Patient:Innenwillens – und damit auch die Einrichtung einer Betreuung – entbehrlich.
Diese Prozesse der Indikationsstellung sind unabhängig von der Art der zu treffenden Entscheidung. Sie gelten sowohl für die Einleitung einer Therapie, für den Therapieverzicht, aber auch im Zusammenhang mit der regelmäßigen Überprüfung der Indikation zur Fortführung einer Therapie (Janssens und Karg 2012).

Der Patientenwille

Vor dem Hintergrund der Patientenautonomie hat allein die Patient:In das Recht zu entscheiden, ob und ggf. wie lange wie lange er behandelt wird. Dieses Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper gilt unabhängig von der Art und dem Stadium der Erkrankung (Janssens und Karg 2012; Verrel 2018). Dabei spielt es keine Rolle, ob die Ablehnung aus der Sicht anderer unvernünftig oder sogar lebensbedrohlich ist (Simon 2010).
In der Intensivmedizin werden häufig Patient:Innen behandelt, die aufgrund ihrer schweren Erkrankung nicht oder nur unzureichend ihre Einwilligung zu diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen erteilen können (Abb. 2).
Das Selbstbestimmungsrecht der Patient:Innen geht nicht – wie viele vermuten – auf die Ärzt:Innen oder die Angehörigen über, sondern es bleibt bei dem Primat des Patient:Innenwillens (Janssens und Karg 2012; Verrel 2018).
Wurde vor dem Eintritt der Einwilligungsunfähigkeit ein entsprechender Wille geäußert und dokumentiert und erfasst dieser die dann eingetretene Situation, muss dem Patient:Innenwille im Sinne einer fortwirkenden Einwilligung bzw. Einwilligungsverweigerung gefolgt werden (Simon 2010). Ist eine Betreuer:In oder Bevollmächtigter eingesetzt, liegt es in der Verantwortung dieser Person den Patient:Innenwillen umzusetzen (Verrel 2018).
Eine Patient:Innenverfügung gilt bezogen auf die mögliche Reichweite unabhängig von Art und Stadium einer Erkrankung der Patient:Innen.
In der aktuellen Entscheidungssituation prüft der gesetzliche Betreuer, ob die Festlegungen der Patient:Innenverfügung auf die „aktuelle Lebens- und Behandlungssituation zutreffen“ (May 2018).
Im klinischen Alltag ist eine 100 %ige Übereinstimmung der in der Patient:Innenverfügung niedergeschriebenen Vorgaben mit der aktuellen klinischen Situation nicht zu erwarten. Zusätzlich muss der Arzt sich über Wünsche, Einstellungen und Präferenzen der Patient:Innen ein genaues Bild machen um die Patient:Innenverfügung ausreichend genau auslegen zu können (Janssens 2010). In Notfällen, in denen keine Zeit zur Einholung einer Vertreterentscheidung oder einer Eilentscheidung des Betreuungsgerichts über eine Betreuerbestellung oder unmittelbar über die Vornahme der konkreten Behandlung bleibt, entscheiden die Ärzt:Innen auf der Grundlage des (mutmaßlichen) Patient:Innenwillens (Fleischmann-Struzek et al. 2019).
Wenn die Patient:In nicht einwilligungsfähig ist, keine wirksame Patient:Innenverfügung vorliegt und kein Stellvertreter (Bevollmächtigter oder Betreuer) bekannt ist, muss umgehend eine Betreuung beantragt werden (Janssens et al. 2012).
Die Ärzt:In ist an die Vertreterentscheidung nur dann nicht gebunden, wenn sich die Vertreter:In in offensichtlichen Widerspruch zum Patient:Innenwillen setzt. Das Betreuungsgericht sollte immer dann von der Ärzt:In angerufen werden, wenn dieser Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Vertreterhandelns hat.

Exkurs Sinnhaftigkeit von Intensivmedizin

Im Rahmen von Behandlungsprozessen muss immer wieder die Frage nach dem Sinn der Behandlung gestellt werden. Dies bezieht sich auf den Sinn eines Therapieziels und die davon abhängenden diagnostischen, therapeutischen oder pflegerischen Maßnahmen. Die Frage nach der Sinnhaftigkeit ist nicht objektiv zu klären, sondern bedarf des Rückgriffs auf individuelle und subjektive Bewertungen, etwa zur Bedeutung von Leben, Sterben und Leid, zur Einschätzung von Lebensqualität oder zu Lebenszielen und Lebensentwürfen. Dieser Rückgriff erfolgt sowohl intuitiv „aus dem Bauch heraus“ als auch in Form eines reflektiert rationalen Prozesses (Neitzke et al. 2016).
Die Frage nach der Sinnhaftigkeit enthält zwei Komponenten: die Zweckrationalität und die Wertrationalität. Beide können getrennt voneinander betrachtet und diskutiert werden.
Zweckrationalität beschreibt die Eignung einer Maßnahme, ein bestimmtes Ziel erreichen zu können (Bsp.: „Es ist sinnvoll, diese Infektion mit Antibiotika zu behandeln.“). Sinnvoll in diesem Sinne ist eine ärztliche oder pflegerische Maßnahme dann, wenn ausreichend Erfahrung oder Evidenz vorliegt, dass diese Maßnahme mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit einen Behandlungserfolg herbeiführen kann.
Wertrational ist eine Maßnahme hingegen, wenn sie in geeigneter Weise bestimmte moralische Grundwerte ausdrückt oder zur Geltung bringt (Bsp.: „Es ist sinnvoll, einem infektiös erkrankten Patienten zu helfen.“).
Wenn die Sinnhaftigkeit einer Maßnahme geprüft werden soll, müssen also unter anderem Fragen nach dem Wert der angestrebten Behandlungsziele, der Bedeutung von Leid und Krankheit, den subjektiven Faktoren der Lebensqualität, dem Stellenwert von professioneller und familiärer Hilfe und Unterstützung geklärt werden (Neitzke et al. 2016).
„Medical futility“ beschreibt in diesem Zusammenhang die Aussichtslosigkeit und Sinnlosigkeit einer medizinischen Intervention, die aller Voraussicht nach nicht zum Ziel führen wird (Becker und Blum 2004). Der Begriff „Futility“ ist schillernd (vergeblich ist nicht gleich sinnlos) und entzieht sich einer eindeutigen Definition. Der Begriff ist unzureichend definiert und wird häufig auf eine ökonomische Kosten-Nutzen-Bewertung reduziert. Im Rahmen einer Behandlung muss der Sinn von diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen ohne Beachtung der ökonomischen Auswirkungen geklärt werden (Neitzke et al. 2016). In der Futility-Debatte zeigt sich exemplarisch das ethische Dilemma der modernen Medizin. Dieses kann nicht dadurch gelöst werden, dass bei jedem Behandlungsfall die Maximaltherapie angestrebt wird im Sinne eines „macht man alles, versäumt man nichts“. Die optimale Therapie ist nicht die maximale, sondern die adäquate (Becker und Blum 2004).

Indikation für intensivmedizinische Therapie ist nicht mehr gegeben

In folgenden Situationen muss die Indikation zur Therapiezieländerung zeitnah überprüft werden:
  • Die Patient:In befindet sich im unmittelbaren Sterbeprozess
  • Nach ärztlicher Erkenntnis wird die Patient:In in absehbarer Zeit sterben
  • Die Patient:In oder seine Stellvertreter:In wünscht eine Therapiezieländerung
  • Es haben sich relevante medizinische Veränderungen ergeben, die eine Therapiezieländerung erforderlich machen
Es ist in vielen Behandlungssituationen schwierig, die Sinnhaftigkeit von Behandlungskonzepten und Behandlungsmaßnahmen zu belegen und zu begründen. Die Sinnlosigkeit von Behandlungsbemühungen lässt sich hingegen einfacher erkennen.
Zur Prüfung der Sinnlosigkeit von Behandlungskonzepten oder Behandlungsmaßnahmen ist zu klären:
  • Kann das angestrebte Therapieziel nach professioneller Einschätzung erreicht werden?
  • Wird dieses Therapieziel von der Patient:In gewünscht?
  • Sind die Belastungen während der Behandlung durch die erreichbare Lebensqualität/Lebensperspektive aus Patient:Innensicht gerechtfertigt?
Behandlungskonzepte oder Behandlungsmaßnahmen sind sinnlos, wenn
  • das angestrebte Therapieziel nicht erreicht werden kann,
  • dieses Therapieziel vom Patient:Innenwillen nicht gedeckt ist,
  • die dadurch erreichbare Lebensqualität/Lebensperspektive die Belastungen während der Behandlung aus Patient:Innensicht nicht rechtfertigt.
Wenn ein Therapieziel nach professioneller Einschätzung faktisch nicht erreicht werden kann, sind die darauf ausgerichteten Behandlungsmaßnahmen sinnlos.
Wenn ein Therapieziel aus professioneller Einschätzung nur mit sehr geringer Wahrscheinlichkeit erreicht werden kann, sind die darauf ausgerichteten Behandlungsmaßnahmen nicht von vornherein sinnlos, sondern nur fraglich oder zweifelhaft indiziert (Janssens et al. 2012; Neitzke 2014).
Die Beurteilung, ob ein Therapieziel erreicht werden kann oder nicht, ist professionelle Aufgabe. Ob die erreichbaren Therapieziele auch gewünscht oder angestrebt werden, kann nur die Patient:In entscheiden. Hier spielen unter anderem ihre Werte, weltanschaulichen/religiösen Bindungen, Lebensentwürfe, Zukunftspläne, Hoffnungen und Ängste eine Rolle. Damit die Patient:In oder ggf. die juristische Stellvertreter:In eine Bewertung der grundsätzlich erreichbaren Therapieziele vornehmen kann, ist eine eingehende ärztliche Beratung über den zu erwartenden Zustand nach Erreichen des Therapieziels geboten (Neitzke et al. 2016).

Therapiebegrenzung

Wird die kurative Zielsetzung verlassen, müssen sämtliche diagnostische, therapeutische und pflegerische Maßnahmen überprüft werden. Eine zusätzliche Belastung Sterbender durch Verzicht auf diese Maßnahmen muss allerdings immer vermieden werden (Janssens et al. 2012).
Maßnahmen, die ausschließlich zu einer Verlängerung des Sterbeprozesses führen, sind unzulässig (Janssens et al. 2012). Dazu zählen (Sold und Schmidt 2018):
  • Herz- und kreislaufstabilisierende Medikamente
  • Antibiotikagabe (zum Beispiel bei Pneumonie)
  • Künstliche Beatmung
  • Parenterale Ernährung
  • Ernährung über Sonde
  • Parenterale Flüssigkeitszufuhr
Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr sind einzustellen, wenn sie den sterbenden Patienten erkennbar belasten (Sold und Schmidt 2018).
Eine Therapiebegrenzung darf nicht ohne eine zielgerichtete Optimierung der lindernden (palliativen) Therapie erfolgen (Sold und Schmidt 2012). Dazu zählen Maßnahmen der Basisbetreuung (Bundesärztekammer 2011) wie:
  • Menschenwürdige Unterbringung
  • Menschliche Zuwendung
  • Körperpflege
  • Lindern von Schmerzen, Luftnot, Übelkeit und anderen subjektiv belastenden Symptomen
  • Stillen von subjektiv vorhandenem Hunger und Durst
Unter allen Umständen muss der Eindruck von Patient:Innen und Angehörigen vermieden werden, die behandelnden Ärzt:Innen hätten die Patient:In angesichts fehlender oder mangelhafter kurativer Ziele aufgegeben.
Dies ist insbesondere dann zu bedenken, wenn die Entscheidung für eine Therapielimitation fällt (Salomon 2006).

Dokumentation

Therapiezielvereinbarungen und -änderungen bei Patient:Innen müssen in allen Versorgungsbereichen einer Klinik bekannt sein, da sie vom gesamten behandelnden Team beachtet werden sollen. Die rasch überschaubare Dokumentation der getroffenen Vereinbarungen sorgt für Klarheit in den unterschiedlichen Versorgungsstrukturen einer Klinik und verhindert die Einleitung bzw. die Fortführung nicht (mehr) indizierter oder nicht (mehr) gewollter Maßnahmen. Hierzu wurde ein Dokumentationsbogen entwickelt (Abb. 3), der Vereinbarungen zur Therapiebegrenzung im klinischen Alltag unmittelbar verfügbar macht (Janssens et al. 2018; Neitzke et al. 2017). Die auf dem Bogen dokumentierten Entscheidungen sollen die Ergebnisse eines multiprofessionellen und interdisziplinären Dialogs sein.
Die wesentlichen Entscheidungsgrundlagen sollen in der (digitalen) Krankenakte klar und nachvollziehbar hinterlegt sein. Der Dokumentationsbogen fasst diesen Entscheidungsprozess an zentraler Stelle in übersichtlicher Form zusammen. Er bietet eine verlässliche Entscheidungsgrundlage, sofern keine Anhaltspunkte für eventuelle Veränderungen erkennbar sind. Insoweit entbindet er aber das behandelnde Team nicht von seiner Verantwortung für die zu treffenden Entscheidungen in der konkreten Situation. Es wird empfohlen, das vorliegende Dokument an die lokalen Gegebenheiten der jeweiligen Klinik anzupassen, um die getroffenen Entscheidungen klar und nachvollziehbar in Papierform und/ oder elektronisch zu dokumentieren. Es sollte Teil der Patientenakte sein und den Patienten durch alle Funktionsbereiche des Krankenhauses begleiten. So kann es von den Beteiligten jederzeit eingesehen und umgesetzt werden.
Die Einführung und Anwendung dieses Dokumentationsbogens erfordert eine angemessene Schulung aller ärztlichen und pflegerischen Mitarbeiter.
Die Verlagerung von kurativen zu palliativen Maßnahmen bedeutet in der Regel eine Begrenzung kurativ ausgerichteter Maßnahmen oder den Verzicht darauf. Daher trägt das Dokument den Titel „Dokumentation Therapiebegrenzung“. Maßnahmen der Basisbetreuung, z. B. Symptomkontrolle, Pflege und Zuwendung/Begleitung sowie palliativmedizinische und -pflegerische Maßnahmen werden dadurch nicht eingeschränkt.

Patientenangehörige

Dem Sterben der Patient:Innen gehen komplexe Prozesse voraus, die jenseits der eigentlichen Intensivtherapie die Patient:Innen und Angehörigen vor enorme Herausforderungen stellen (Janssens und Graf 2010). Das Behandlungsteam muss in dieser Phase nicht nur den medizinischen Bedürfnissen der Patient:Innen („patient centered care“) entsprechen, sondern sich in gleicher Weise den Angehörigen zuwenden: Diese befinden sich in einer Ausnahmesituation und leiden oftmals erheblich unter der technologisch ausgerichteten, „unmenschlich“ wirkenden Medizin. Die Patientenangehörigen erleben während und auch nach der Intensivbehandlung eine erhebliche Belastung, die zu einem langanhaltenden Psychotrauma führen kann (McAdam und Puntillo 2009). Das Dritte Gesetz zur Änderung des Betreuungsrechts weist den nahen Angehörigen und sonstigen Vertrauenspersonen der Patient:Innen bei der Feststellung des Patient:Innenwillens, der Behandlungswünsche oder des mutmaßlichen Willens eine wichtige Rolle zu.
Hier kommt der Angehörigenbesprechung als weiteres wichtiges Strukturmerkmal eine elementare Rolle zu. Die oben dargestellten Prozesse, die in eine Therapiezieländerung münden und schließlich eine Therapieminimierung nach sich ziehen, müssen sorgsam, empathisch, rechtzeitig und in einem fortlaufenden Prozess kommuniziert werden (Janssens und Graf 2010). Eine Therapiezieländerung bedeutet keinesfalls, dass die Patient:In aufgegeben wird. Dieses sollte explizit den Angehörigen verständlich und nachdrücklich vermittelt werden. Linderung von Schmerzen und Leiden als zentrales Therapieziel, Sicherstellung einer angehörigennahen Pflege sind als Komponenten einer palliativen Intensivtherapie in solchen Situationen herauszustellen (Janssens und Graf 2010). Die Angehörigen müssen detailliert auf den Prozess der Therapieminimierung vorbereitet werden; sie sollen wissen und verstehen was mit der sterbenden Patient:In geschieht (Tab. 3).
Tab. 3
Vorbereitung und Durchführung einer Familienbesprechung Im Rahmen der Behandlung einer Intensivpatient:In am Lebensende (nach (Curtis et al. 2001; Janssens und Graf 2010))
Vorbereitung der Familienbesprechung
Überprüfung der Vorkenntnisse der Patient:In und/oder der Familie.
Überprüfung der vorbekannten familiären Handlungs- und Reaktionsmuster.
Überprüfung der eigenen Kenntnis zur Erkrankung, Prognose, Behandlungsoptionen.
Überprüfung der eigenen Gefühle, Haltungen, Befangenheit.
Planung des Besprechungsraumes: Ruhig und abgeschirmt.
Information der Familie über die Teilnehmer der Familienbesprechung.
Durchführung der Familienbesprechung
Vorstellung aller Teilnehmer.
Wenn angebracht, folgende offene Einleitung wählen: „Diese Besprechung führen wir mit allen Familienangehörigen durch …“.
Das Ziel der Besprechung erläutern.
Herausfinden, was die Familie versteht und verstehen kann.
Den Behandlungsverlauf resümieren, darstellen wie es der Patient:In geht.
Die Prognose der Patient:In offen und aussagekräftig darstellen.
Unsicherheiten in der Prognose einräumen.
Das Grundprinzip erläutern, welches hinter den Entscheidungsprozessen steht: „Was würde die Patient:In wollen und wünschen?“
Die Entscheidung der Familie unterstützen.
Nicht alle Hoffnung zerstören; die Hoffnung in Richtung eines erträglichen und würdevollen Tod lenken (wenn angebracht).
Dem Versuch widerstehen, zu detailliert medizinische Sachverhalte darzustellen.
Vorenthaltung lebensverlängender Maßnahmen bedeutet nicht Reduktion der Pflege und Fürsorge
Klare Darstellung der symptomatischen Behandlungsverfahren, wo und wie sie durchgeführt werden, wie und wann die Angehörigen Zugang zur Patient:In erhalten.
Wenn lebensverlängernde Maßnahmen nicht durchgeführt werden bzw. abgesetzt werden erläutern, dass der Tod des Patienten in der Folge auftreten kann.
Wiederholt zeigen, dass die Patient:In oder die Angehörigen verstanden werden.
Angehörige in ihren Emotionen unterstützen und bestärken, dass Patient:In und Familien über diese Gefühle sprechen sollen.
Schweigen tolerieren und ertragen.
Abschluss der Familienbesprechung
Allgemeines Verständnis über Erkrankung und Behandlung besteht bei allen Angehörigen.
Explizit nachfragen, ob noch weitere Unklarheiten und Fragen bestehen.
Konsens in allen wichtigen Fragen betonen.
Den weiteren Behandlungsplan sicherstellen und verlässlich vereinbaren; Ansprechpartner benennen, eigene Erreichbarkeit garantieren.

Kommunikation und Interaktion

Die Prozesse, die zu den oben dargestellten Entscheidungen führen, sind außerordentlich komplex und benötigen neben einer verständlichen und empathischen Kommunikation organisatorische und strukturelle Rahmenbedingungen (Janssens et al. 2012).
Entscheidungen zum medizinischen Vorgehen wie Maximaltherapie, Therapieverzicht, Therapiebegrenzung oder Therapiezieländerung müssen verständlich kommuniziert werden.
  • Die Ziele müssen klar formuliert werden.
  • Das Handeln sollte präzisiert werden (z. B. Abstellen des Beatmungsgerätes oder der Dialyse, ausreichende Sedierung).
  • Die Entscheidung muss begründet und dokumentiert werden (Janssens et al. 2012).
Entscheidungen zur Therapiezieländerung und Therapiebegrenzung können nur sinnvoll getroffen und umgesetzt werden, wenn sie sich auf die Einschätzung aller an der Behandlung beteiligten Ärzt:Innen und das multiprofessionelle Behandlungsteam stützen.
Eine Teambesprechung ist insbesondere bei Unklarheiten über die Prognose und die anzustrebenden Therapieziele hilfreich, oder wenn die Behandlungssituation als besonders belastend empfunden wird. Hierbei sollten die unterschiedlichen Standpunkte und Erfahrungen aller in die Behandlung eingebundenen Berufsgruppen erarbeitet und diskutiert werden.
Bleibt ein Dissens bestehen, ist eine Ethik-Fallberatung angeraten. Diese kann nicht nur vom Team, sondern auch von Patient:Innen, vom Betreuer oder von den Angehörigen angefordert werden.
Stellungnahmen einer ethischen Fallberatung sind für die verantwortlichen Ärzt:Innen nicht verbindlich sondern Empfehlungen, die sie und das Behandlungsteam in ihrer Entscheidung unterstützen sollen (Sold und Schmidt 2018).
Der Beratungsschwerpunkt liegt auf den Bewertungen von Heilungschancen, Therapiezielen, Lebensqualität und Belastungen. Dies trägt dazu bei, dass das weitere Vorgehen sich nicht am medizinisch Machbaren, sondern an den individuellen Behandlungspräferenzen, Lebensplänen und Wertvorstellungen der Patient:In orientiert (Janssens et al. 2012).

Exkurs: Zeitlich begrenzter Therapieversuch

Für das Behandlungsteam auf einer ITS ist es häufig schwierig zu entscheiden, ob Patient:Innen von einer Aufnahme auf eine ITS oder im Verlauf einer Intensivtherapie von der Fortführung einer intensivmedizinischen Behandlung profitieren. Es bestehen häufig Unsicherheiten, die sowohl auf patienten- aber auch behandlerbezogene Faktoren zurückzuführen sind (Ghosh 2004). Diese Unsicherheiten beziehen sich auf die aktuelle Prognose aber auch auf das angestrebte patientenzentrierte langfristige Therapieziel, das Ansprechen auf die Behandlung sowie das Risiko von Komplikationen. Ein zeitlich begrenzter Therapieversuch (ZTB) kann in diesen Situationen hilfreich sein, um für die Behandler, Patient:Innen sowie deren Angehörigen mehr Sicherheit für zu treffende Entscheidungen zu erlangen und somit eine unangemessene, belastende oder sogar sinnlose Behandlung zu vermeiden. Ein ZTB beschreibt eine Vereinbarung zwischen dem Behandlungsteam und dem Patienten bzw. seinen Angehörigen zum Einsatz einer genau festgelegten Therapie über einen bestimmten Zeitraum, der dem individuellen Krankheitsbild angepasst wird. Innerhalb dieser Zeitspanne wird überprüft, ob sich der Patient gemäß der zuvor vereinbarten Kriterien verbessert oder verschlechtert. Verbessert sich der Patient wird die zielgerichtete Therapie weiter fortgeführt. Tritt innerhalb dieses Zeitraums eine weitere Verschlechterung ein oder bleibt der Zustand unverändert schlecht wird eine Therapiezieländerung vorgenommen und die Behandlung palliativ ausgerichtet. Bei fortbestehender Unsicherheit über die Prognose kann ein erneuter TLT vereinbart werden (Quill und Holloway 2011). Wichtig ist, dass das Therapieziel unter Berücksichtigung der zu erwartenden Lebensqualität und die zur Beurteilung herangezogenen Parameter klar definiert sowie offen und engmaschig kommuniziert werden (Riessen et al. 2020).

Beispiel Herzinsuffizienz

Die Herzinsuffizienz wird mittlerweile als das führende Krankheitsbild des 21. Jahrhunderts angesehen. Sie ist durch einen chronischen Krankheitsverlauf gekennzeichnet. Hocheffektive medikamentöse Therapiekonzepte sowie die Entwicklung neuer komplexer Schrittmacherverfahren und auch die Weiterentwicklung mechanischer Kreislaufunterstützungssysteme haben in den vergangenen Jahren das Überleben und auch die Symptomatik schwer herzinsuffizienter Patient:Innen trotz rückläufiger Transplantationszahlen deutlich verbessert. Dennoch sind regelhaft im Verlauf der Erkrankung stationäre Behandlungen erforderlich, die durch akute Dekompensationen bis hin zu lebensbedrohlichen Komplikationen der Grunderkrankungen verursacht werden (Janssens 2012).
Angesichts eines voraussehbaren langfristigen Behandlungsverlaufs (Abb. 4) sollten die Ärzt:Innen im ambulanten aber vor allem auch im stationären Bereich die Patient:Innen und ihre Angehörigen eingehend beraten und auf die möglichen Szenarien der Erkrankung im Sinne einer vorbereitenden Planung hinweisen (Janssens und Reith 2013). Die Intensivmediziner:Innen nehmen hier eine besondere Stellung ein, da sie die Patient:Innen in sehr schwierigen, zum Teil lebensbedrohlichen Krankheitsphasen behandeln. An diesen Schnittstellen werden häufig einschneidende und prognosebestimmende Entscheidungen getroffen. Die Intensivmediziner:Innen sollten die Weichen für die postintensivmedizinische Phase stellen und entsprechende Hilfe und Unterstützung anbieten und vorbereiten. Nur eine sehr weitreichende Aufklärung ermöglicht es den Betroffenen, die Zustimmung oder Ablehnung zu einem Therapieangebot mit der gebotenen Sicherheit vorzunehmen.
Patient:Innen mit einer fortgeschrittenen Herzinsuffizienz und/oder in der Endphase ihrer Erkrankung benötigen zwingend auch eine begleitende palliativ ausgerichtete Behandlung (Allen et al. 2012; Jaarsma et al. 2009). Maßnahmen in der Umsetzung einer palliativen Behandlung bei Patient:Innen mit Herzinsuffizienz sind u. a. (Jaarsma et al. 2009):
  • Optimierung der evidenzbasierten Therapie
  • Empathische und sensible Kommunikation einer schlechten Nachricht
  • Vorbereitende patientenzentrierte Planung und Dokumentation der Behandlungspräferenzen der Patient:Innen
  • Aufklärung und Beratung zum Selbstmanagement
  • Organisation einer multidisziplinären Unterstützung
  • Erkennen der terminalen Herzinsuffizienz
  • Regelmäßige Reevaluation der Therapieziele
  • Optimiertes Symptommanagement am Lebensende
  • Unterstützung der Angehörigen bei der Trauerarbeit
Das sorgsame Abwägen einer maximalen Therapie unter Einbeziehung aller Möglichkeiten der modernen Medizin gegen ein eher palliativ ausgerichtetes Vorgehen ist eine grosse Kunst und bedarf einer immensen Erfahrung des Intensivmediziners. Die Autonomie der Patient:Innen bleibt hier höchstes Gebot.
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