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Die Urologie
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Verfasst von:
Stefan Zettl
Publiziert am: 03.12.2022

Bedeutung der Psychoonkologie für die Rehabilitation

Der oft beschriebene angstvolle „Sturz aus der Wirklichkeit“ im Zusammenhang mit einer Krebserkrankung setzt in vielen Fällen erst nach Abschluss der Primärtherapie und der Entlassung nach Hause ein. Zusätzlich erschweren Rezidivängste sowie Nebenwirkungen und Spätfolgen der Behandlung eine erfolgreiche Rückkehr in den Alltag und das Berufsleben. Nur darauf zu hoffen, dass sich der Patient schon wieder stabilisiert und seine Ängste zunehmend in den Hintergrund treten, erscheint nicht sinnvoll. Die in Deutschland verfügbaren Angebote einer ambulanten und stationären Rehabilitation können hier einen wichtigen Beitrag zur erfolgreichen Krankheitsbewältigung leisten.

Das Schlimmste vorbei?

Viele Patienten und deren Angehörige gehen davon aus, dass nach dem Abschluss einer Krankenhausbehandlung wieder der „normale Alltag“ einkehrt. Oft ist jedoch das Gegenteil der Fall. Mit der Rückkehr in den Alltag tauchen Ängste auf, die in der Phase der Diagnostik und Therapie zunächst erfolgreich verdrängt wurden. Erinnerungen an angsterfüllte Situationen tauchen einbruchsartig immer wieder auf, in nächtlichen Träumen wird das Geschehen erneut erlebt. Phasen von Optimismus wechseln sich mit depressiven Einbrüchen ab. Dazu kommt die Konfrontation mit Nebenwirkungen, Spätfolgen der Behandlung und funktionellen Einschränkungen wie Erektionsstörungen, Fertilitätsstörungen, Inkontinenz oder das Fatigue-Syndrom. Das Ausmaß an Angst ist allerdings unterschiedlich ausgeprägt. Dabei spielen lebensgeschichtliche Erfahrungen, Vorerfahrungen mit Krankheiten und die aktuelle Lebenssituation eine bedeutsame Rolle. Knapp jeder 3. Krebspatient (32 %) entwickelt im Verlauf seiner Krebserkrankung eine psychische Störung, wobei eine deutliche Varianz zwischen unterschiedlichen Tumorentitäten zu beobachten ist. Tumore der Niere und des Urogenitalsystems weisen dabei eine hohe Prävalenzrate von komorbiden psychischen Störungen auf. Patienten mit einem Prostatakarzinom zeigen dagegen eine eher niedrige Prävalenzrate (Mehnert et al. 2014). Jeder 3. Krebspatient (33 %) äußert auf Nachfrage den Wunsch nach einer professionellen psychoonkologischen Unterstützung (Ernstmann et al. 2009; Faller et al. 2016). Es sind aber nicht nur die Patienten, sondern auch deren Partner und Familien, die durch die Diagnosemitteilung in Angst versetzt werden. So weist in Studien fast die Hälfte aller Partner von Krebspatienten erhöhte Angstwerte auf (Bergelt et al. 2009). Die ambulante und stationäre Rehabilitation spielt bei der Unterstützung der Krankheitsverarbeitung und Verbesserung der Lebensqualität eine bedeutsame Rolle. Darauf wird auch in der S3-Richtlinie „Psychoonkologische Diagnostik, Beratung und Behandlung von erwachsenen Patienten“ (2014) explizit hingewiesen.

Anpassungsstörungen

Als Anpassungsstörung werden nach der International Classification of Diseases (WHO) Zustände von subjektiver Bedrängnis und emotionaler Beeinträchtigung beschrieben, die im Allgemeinen soziale Funktionen und Leistungen behindern und während des Anpassungsprozesses nach einer entscheidenden Lebensveränderung oder nach belastenden Lebensereignissen (z. B. einer schwerwiegenden körperlichen Erkrankung) auftreten. Hauptsymptome einer Anpassungsstörung sind depressive Verstimmungen, Angst und soziale Verhaltensstörungen im leichten bis mittleren Bereich. Krebspatienten mit einer angstgetönten Anpassungsstörung fallen in der Phase der Nachsorge durch eine vorherrschende Ängstlichkeit, Panikattacken, Übererregbarkeit, Unruhe und Besorgnis auf. Ein erhöhtes Risiko zur Entwicklung einer Anpassungsstörung zeigen dabei Patienten mit
  • instabilen zwischenmenschliche Beziehungen
  • mangelhafter sozialer Unterstützung
  • unzureichenden sozialen Kompetenzen
  • unterentwickelten Kommunikationsstrategien
  • Neigung zu katastrophisierendem oder Schwarz-Weiß-Denken
  • Tendenz zur Selbstzuschreibung von Problemen („Ich bin schuld!“) sowie
  • unzureichend verfügbare und erprobte Copingstrategien.
Entwickelt der Patient Symptome einer Anpassungsstörung, sollte – soweit verfügbar – der psychoonkologische Dienst angefordert werden bzw. der Patient und seine Angehörigen auf die Möglichkeit einer stationären Rehabilitation hingewiesen werden, während der gezielte psychoonkologische Unterstützung angeboten wird. Erscheint eine Rehabilitationsmaßnahme z. B. aus familiären oder beruflichen Gründen nicht möglich, ist auf bestehende ambulante Krebsberatungsstellen und/oder niedergelassene Psychoonkologen hinzuweisen, die der Patient nach seiner Klinikentlassung aufsuchen kann.

Damokles-Syndrom

Ein besonderes Problem in der Rehabilitation von Krebspatienten stellt die Angst vor einem Fortschreiten oder einer Ausbreitung der Krankheit dar. Mehr als die Hälfte aller Tumorpatienten fürchtet das erneute Auftreten eines Tumors und fühlt sich durch das Gefühl der Ungewissheit hinsichtlich des weiteren Krankheitsverlaufs bedroht. Während viele Alltagsängste (z. B. vor Spinnen) oder Angsterkrankungen (z. B. Agoraphobie) im Grundsatz irrational sind, gilt dies für die Progredienzangst nicht: sie ist real und berechtigt – auch nach kurativer Erstbehandlung („Heilung“). Spätrezidive können noch Jahrzehnte nach der Ersterkrankung auftreten, in einigen Fällen kommt es durch die toxischen Nebenwirkungen der Erstbehandlung Jahre später zu Zweitmalignomen.
In einer Arbeit von Herrschbach und Berg (2009) werden als Ergebnis einer Studie von den befragten Tumorpatienten folgende Ängste besonders häufig genannt:
1.
Vor Arztterminen oder Kontrolluntersuchungen bin ich ganz nervös
 
2.
Wenn ich an den weiteren Verlauf meiner Erkrankung denke, bekomme ich Angst
 
3.
Ich habe Angst vor drastischen medizinischen Maßnahmen im Verlauf der Erkrankung
 
4.
Mich beunruhigt, was aus meiner Familie wird, wenn mir etwas passieren sollte
 
5.
Ich habe Angst vor Schmerzen
 
6.
Es beunruhigt mich, dass ich im Alltag auf fremde Hilfe angewiesen sein könnte
 
7.
Ich mache mir Sorgen, dass meine Medikamente meinem Körper schaden könnten
 
8.
Die Frage, ob meine Kinder meine Krankheit auch bekommen könnten, beunruhigt mich.
 
Viele Patienten verlieren durch ihre Krebserkrankung das bis dahin selbstverständliche Vertrauen in den eigenen Körper und ihre Gesundheit. Gerade in den Fällen, in denen im Rahmen von ärztlichen Routineuntersuchungen eine Krebserkrankung „zufällig“ erkannt wurde, entsteht dadurch das Empfinden, sich nicht mehr auf den eigenen Körper und die Selbstwahrnehmung verlassen zu können. Diese Erfahrung löst häufig eine ängstlich getönte Selbstbeobachtung des eigenen Körpers aus, die auch nach erfolgreicher Erstbehandlung andauern kann. Jedes körperliche Symptom – und sei es aus medizinischer Sicht vollkommen harmlos – löst dann die Angst aus, dass die Krebserkrankung fortschreitet. Ebenso können geringfügige Schwankungen von im Rahmen der Tumornachsorge gemessenen Tumormarkern (z. B. PSA) verunsichern. Die ängstlich getönte Erwartungshaltung und erhöhte Aufmerksamkeit gegenüber dem eigenen Körper können sich dabei bis zu einer Hypochondrie steigern. Die Betroffenen stellen sich dann bei geringsten Beschwerden immer wieder in der ärztlichen Praxis oder Klinik vor und fordern Untersuchungen wie die Messung von Tumormarkern oder ein MRT, um die Ängste zu bannen. Andere Patienten versuchen ihre Gefühle dadurch zu unterdrücken, indem sie ihre Nachsorgetermine ausfallen lassen, die eigentlich ihrer Sicherheit dienen sollen („Dann können sie auch nichts finden!“). In beiden Fällen erscheint das Angebot einer psychotherapeutischen Unterstützung sinnvoll. Ein strukturiertes Programm zur Behandlung von Progredienzängsten findet sich bei Waadt et al. (2011). Die Patienten lernen dabei, dass sie ihren Ängsten etwas entgegensetzen können, ihnen also nicht nur ausgeliefert sind.

Partner und Familien in Angst

Wenn Menschen an Krebs erkranken, sind nicht nur die Betroffenen selbst, sondern auch deren Angehörige durch die Krankheit und ihre Folgen einer Vielzahl von Belastungen ausgesetzt. Auch deren Alltag verändert sich, die Anforderungen steigen, Kräfte werden gebraucht und bisher vertraute Lebenspläne durchkreuzt. Krebs ist daher nicht nur im medizinischen Sinn eine „systemische Erkrankung“, da sie auch das soziale Umfeld beeinträchtigt und dadurch den Status einer „Wir-Erkrankung“ erlangt (Ernst und Weißflog 2016). Wissenschaftliche Studien belegen, dass der Grad der psychosozialen Belastung von Angehörigen mindestens genauso hoch, wenn nicht sogar höher ist als der der Patienten.
Die Sorgen und Ängste der Angehörigen werden leider im klinischen Alltag häufig zu wenig berücksichtigt. Gleichzeitig erhalten sie deutlich weniger Unterstützungsangebote als die Patienten. Bisher liegt der Schwerpunkt vor allem auf der Unterstützung des Patienten – Angehörige werden häufig eher als Ressource angesehen. Das Angebot psychosozialer Hilfen für krebsbetroffene Familien im Rahmen der Rehabilitation erscheint daher dringend erforderlich – schon allein deshalb, weil die spürbare Belastung der Angehörigen wiederum auch den Patienten belastet („Wie kommen die Angehörigen mit der neuen Situation zu Recht? Was können wir für sie tun?“). Viele Rehabilitationskliniken bieten inzwischen die Möglichkeit an, Angehörige als Begleitperson in die Klinik mit aufzunehmen. Partner, die den Patienten zur Rehabilitation begleiten, weisen anschließend eine deutliche Verbesserung ihrer psychischen Verfassung auf (Bergelt et al. 2009). Die zunehmende Ökonomisierung des Gesundheitswesens führt allerdings leider u. a. auch dazu, dass der Bereich ambulanter Rehabilitationsangebote immer weiter ausgebaut wird. Leider wird in diesem Rahmen nur selten eine psychoonkologische Unterstützung angeboten, daher ist eine stationäre Behandlung zu bevorzugen.

Psychotherapeutische Unterstützung

Zeigen sich Hinweise auf das Vorliegen ausgeprägter Ängste oder einer Anpassungsstörung, sollte der Patient und seine Angehörigen auf die Möglichkeit einer begleitenden psychoonkologischen Behandlung hingewiesen werden. Die meisten zertifizierten Krebs- und Organzentren verfügen heute über psychoonkologische Dienste, die bei Bedarf angefordert werden können. Ergänzend können auch Psychopharmaka verordnet werden – allerdings nur dann, wenn der zu erwartende positive Effekt die zu erwartenden Nebenwirkungen bei weitem übersteigt. Dies gilt insbesondere bei einer längerfristigen Verordnung und der damit möglicherweise einhergehenden zunehmenden Abhängigkeit des Patienten von der Medikamenteneinnahme.
Benötigt der Patient und/oder dessen Angehörige wegen ausgeprägter krankheitsassoziierter Ängste eine ambulante psychotherapeutische Begleitung, kann über die Homepage der Deutschen Arbeitsgemeinschaft für Psychosoziale Onkologie www.dapo-ev.de ein nach Postleitzahlen geordnetes Register aller ambulanten Krebsberatungsstellen sowie der von der Deutschen Krebsgesellschaft zertifizierten Psychoonkologen aufgerufen werden. In den letzten Jahren gewinnen dabei Achtsamkeitsbasierte Verfahren (z. B. Carlson und Speca 2013) und die Akzeptanztherapie (z. B. Geuenich 2012) an Bedeutung. Die Kosten einer psychotherapeutischen Begleitung von Krebspatienten werden in der Regel von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen, wenn der Behandler von der zuständigen Kassenärztlichen Vereinigung als ärztlicher oder psychologischer Psychotherapeut zugelassen ist. Bei den Privatversicherungen hängt dies von dem Versicherer und dem jeweils vereinbarten Tarif ab.
Ein wichtiger Aspekt der Rehabilitation stellt auch die Unterstützung bei der Rückkehr an den Arbeitsplatz dar. Das Risiko für Arbeitslosigkeit, Frühberentung und damit verbundene zum Teil bedrohliche finanzielle Einbußen ist bei Krebspatienten signifikant erhöht. In den Rehabilitationskliniken stehen deshalb Sozialdienste zur Verfügung, die Patienten und ihre Familien bezüglich sozialrechtlicher Fragen beraten und unterstützen.

Bewegung hilft – auch der Psyche!

Körperliche Aktivitäten werden sowohl zur Prävention als auch zur Behandlung verschiedener psychischer Störungen erfolgreich eingesetzt. Sie bewirken in gleicher Weise eine Minderung von Angst und Depression bei Krebserkrankungen und dadurch eine Verbesserung der subjektiven Befindlichkeit. Psychologisch kann der in der Rehabilitationsmedizin angebotene Sport auch als „Auszeit“ von den täglichen Sorgen und Ängsten betrachtet werden. Möglicherweise sind für diese stimmungsaufhellende Wirkung u. a. die nach sportlicher Betätigung erhöhten Plasmakonzentrationen von Endorphinen verantwortlich. Darüber hinaus führt Sport zu einer Erhöhung der wahrgenommenen Selbstwirksamkeit und des Selbstvertrauens, wobei dies ebenso zu einer Angstminderung beiträgt.
Zahlreiche Studien weisen außerdem darauf hin, dass regelmäßige sportliche Betätigung die Prognose einer Krebserkrankung, z. B. beim Prostatakarzinom, positiv beeinflussen kann (Kenfield et al. 2011). Dabei scheinen bereits zehnminütige Einheiten sportlicher Aktivität pro Tag zu den gesundheitlichen Verbesserungen beitragen – es geht also nicht um lange und damit häufig als unlustvoll erlebte Trainingsintervalle. Der Patient entwickelt dadurch auch das Empfinden, selbst etwas zu seiner Heilung beitragen zu können – nicht nur behandelt zu werden. Körperliche Aktivität fördert deshalb Heilungserwartungen!

Zusammenfassung

Psychoonkologische Behandlungsangebote stellen einen wichtigen Bestandteil rehabilitativer Angebote für Patienten mit urologischen Tumoren dar. Zentrale Ziele sind dabei
  • Verbesserung der psychischen Befindlichkeit (Bsp. Angst, Depression, Selbstwerterleben)
  • Unterstützung bei der Krankheitsverarbeitung, insbesondere der Affektregulation
  • Förderung der verbleibenden Gesundheit und der individuellen Ressourcen
  • Die Förderung bei der Problembewältigung in Partnerschaft und Familie (Bsp. Kommunikation, Rollenveränderungen, Sexualität)
Literatur
Bergelt C, Lehmann C, Welk H-J, Barth J, Gaspar M, Ghalehie S, Günzel K, Kauffmann C, Kiehne U, Rotsch M, Schmidt R, Steimann M, Koch U (2009) Geschlechtsspezifische psychische Belastungen und Lebensqualität bei Partnern von Krebspatienten in der onkologischen Rehabilitation. In: Koch U, Weis J (Hrsg) Psychoonkologie. Hogrefe, Göttingen, S 80–93
Carlson LE, Speca M (2013) Krebs bewältigen mit Achtsamkeit. Wie Ihnen MBSR hilft, das Leben zurückzugewinnen. Hans Huber, Bern
Ernst J, Weißflog G (2016) Familie, Partnerschaft und Krebs. In: Mehnert A, Koch U (Hrsg) Handbuch Psychoonkologie. Hogrefe, Göttingen, S 284–295
Ernstmann N, Neumann M, Ommen O, Galushko M, Wirtz M, Voltz R, Hallek M, Pfaff H (2009) Determinants and implications of cancer patients’ psychosocial needs. Support Care Cancer 17:1417–1423CrossRefPubMed
Faller H, Weis J, Koch U et al (2016) Perceived need for psychosocial support depending on emotional distress and mental comorbidity in men and women with cancer. J Psychosom Res 81:24–30CrossRefPubMed
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Herrschach P, Berg P (2009) Diagnose und Therapie von Progredienzangst. In: Koch U, Weis J (Hrsg) Psychoonkologie. Hogrefe, Göttingen, S 199–211
Kenfield SA, Meir J, Stampfer EG, Chan JM (2011) Physical activity and survival after prostate cancer diagnosis in the health professionals follow-up study. J Clin Oncol 28:726–732CrossRef
Mehnert A, Brähler E, Faller H et al (2014) Four-week prevalence of mental disorders in patients with cancer across major tumor entities. J Clin Oncol 32:3540–3546CrossRefPubMed
Waadt S, Duran G, Berg P, Herrschbach P (2011) Progredienzangst: Manual zur Behandlung von Zukunftsängsten bei chronisch Kranken. Schattauer, Stuttgart