Einführung
„Geschlecht“ umfasst die Aspekte der biologischen Geschlechtsmerkmale, der sozialen Geschlechterrolle und der subjektiven geschlechtlichen Identifizierung. Biologische Geschlechtsmerkmale sind nicht immer eindeutig, Geschlechterrollen unterliegen einem starken gesellschaftlichen und kulturellen Wandel, und das empfundene Geschlecht passt nicht immer zu den Körpermerkmalen oder der zugewiesenen Rolle. Neben Menschen, die sich (trans-)männlich oder (trans-)weiblich identifizieren, gibt es auch solche, die sich als non-binär oder „genderqueer“ identifizieren. Dies kann sowohl weiblich als auch männlich, weder weiblich noch männlich, „genderfluid“ heißen, oder dass jemand die Kategorie „Gender“ gänzlich für sich ablehnt.
In den letzten Jahren hat sich auch im psychologisch-medizinischen Diskurs ein grundlegender Paradigmenwechsel hin zu einer Akzeptanz vielfältiger geschlechtlicher Lebenswirklichkeiten vollzogen. In den Neufassungen der diagnostischen Manuale wurden „Transsexualismus“ und „Störungen der Geschlechtsidentität“ durch „Geschlechtsdysphorie“ (
DSM-5) und „Geschlechtsinkongruenz“ (ICD-11) ersetzt, welche auch in der S3-Leitlinie „Geschlechtsinkongruenz, Geschlechtsdysphorie und Trans-Gesundheit“ (AWMF
2019) verwendet werden. Geschlechtsinkongruenz
(GI) ist durch eine ausgeprägte und anhaltende Diskrepanz zwischen der subjektiven geschlechtlichen Identifizierung und dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht charakterisiert. Ein fortdauerndes Leiden an eigenen körperlichen Geschlechtsmerkmalen und/oder der zugewiesenen Geschlechterrolle wird als Geschlechtsdysphorie
(GD) bezeichnet.
Geschlechtsinkongruent oder gender-nonkonform zu sein, bedeutet nicht zwangsläufig, dass eine Dysphorie vorhanden sein muss oder ein Individuum eine Behandlung benötigt (Moser
2017). Von einer Behandlungsnotwendigkeit ist dann auszugehen, wenn bereits ein geschlechtsdysphorischer krankheitswertiger Leidensdruck besteht oder zu erwarten ist. Nicht jede Person, die an einer GD/GI leidet, sieht körpermodifizierende Maßnahmen als den richtigen Weg zur Verringerung des Leidensdrucks an (Güldenring und Sauer
2017). Die GI/GD kann fluide sein, in ihrer Ausprägung zu- oder abnehmen und im Zuge einer erfolgreichen Behandlung auch vollständig remittieren (Moser
2017).
Prävalenz
Vorhandene Daten zur
Prävalenz unterscheiden sich je nach zugrunde gelegtem Definitionskriterium (Nieder et al.
2016). Es finden sich entweder Angaben zur Inanspruchnahme medizinischer Leistungen in klinischen
Stichproben oder Angaben zum Selbsterleben in Bevölkerungsstichproben. Die Zahlen sind umso höher, je jüngeren Datums die Studie ist. Collin et al. (
2016) berechnen in ihrem Review von 32 klinischen Studien die Häufigkeit in Anspruch genommener körpermodifizierender Behandlungen zur Geschlechtsangleichung auf 9,2/100.000 und die Selbsteinschätzung einer Person als trans
auf 355/100.000. Gemäß dem LGBTI-Report der European Union Agency for Fundamental Rights ordnen sich 32 % derjenigen, die sich selbst als trans einschätzen, als non-binär oder genderqueer ein (FRA
2020). Die Zahl transidenter Menschen, die Behandlung suchen, ist in den letzten Jahrzehnten stark gestiegen. Aus den Niederlanden wird von 1980 bis 2015 ein Anstieg um das 20-fache berichtet (Wiepjes et al.
2018). Dieser Anstieg betrifft in besonderem Maße auch Kinder und Jugendliche (Kaltiala et al.
2020). Außerdem wird eine Inversion des Geschlechterverhältnisses beschrieben mit mehr Jugendlichen, die sich als trans-männlich bezeichnen (Aitken et al.
2015). Die Ursachen für den Anstieg der Behandlungs- und Beratungssuchenden bedürfen weiterer Klärung. Kritisch diskutiert wird, welche Konsequenzen daraus abgeleitet werden können, welche medizinischen und psychotherapeutischen Angebote für betroffene Kinder und Jugendliche angemessen sind und welche Herausforderungen sich daraus für die Behandelnden ergeben (Strittmatter und Holtmann
2020).
Therapeutische Haltung
Fundament jeder erfolgreichen Behandlung einer GI/GD ist eine therapeutische Grundhaltung, die von Respekt und Akzeptanz gegenüber den vielfältigen geschlechtlichen Lebensrealitäten der behandlungssuchenden Personen gekennzeichnet ist (AWMF
2019; WPATH
2012). Viele Patient*innen mit einer GI/GD leiden aufgrund von Mobbing, Diskriminierungen und unstimmigen Zuschreibungen an „Minderheitenstress“ (Meyer
1995). Eine respektvolle therapeutische Haltung ist unter anderem dadurch gekennzeichnet, dass sich die Anrede nach den Wünschen der Person richtet. Auch der Deutsche Ethikrat weist darauf hin, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht das Recht umfasst, ein Leben entsprechend der eigenen subjektiv empfundenen geschlechtlichen Identität zu führen und in dieser Identität anerkannt zu werden (Deutscher Ethikrat
2020). Ein Vorgehen, das auf die Veränderung der Geschlechtsidentität oder ihres Ausdruckes abzielt, wird als unethisch kritisiert (APA
2015; WPATH
2012). Wichtig ist zudem die Transparenz im Umgang mit der behandlungssuchenden Person, insbesondere wenn man als Behandelnde mit bestimmten Behandlungswünschen nicht übereingeht. Auf Seiten der Behandelnden ist eine
Reflexion der eigenen Grundannahmen über Geschlecht als unabdingbar anzusehen.
Diagnostik
Dauer und Zeitaufwand für die initiale Diagnostik sind fallbezogen variabel. Eine längere Verlaufsbeobachtung ist für die Feststellung, ob eine GI/GD vorliegt, in der Regel nicht erforderlich (AWMF
2019). Ziel der Diagnostik ist es, das Ausmaß und die Persistenz des gegebenen oder zu erwartenden Leidensdrucks durch die GD einzuschätzen. Die subjektive geschlechtliche Identifizierung einer Person ist ein tiefes inneres, individuelles Erleben, dass nicht hinterfragbar und insofern auch nicht Gegenstand der diagnostischen Beurteilung ist. Die Diagnostik dient der Feststellung der Behandlungsnotwendigkeit und damit auch der Legitimation medizinischer Eingriffe.
Die erste Säule der Diagnostik ist die Anamnese der psychosexuellen Entwicklung. Typische Auslöser einer GD sind die unstimmig erlebte Zuweisung zu einer Geschlechterrolle, die körperlichen Veränderungen der
Pubertät sowie Mobbing und Diskriminierungserfahrungen wegen des gendernonkonformen Auftretens. Das innere Coming-out, an dessen Ende die eigene Gewissheit steht, trans oder non-binär zu sein, stellt häufig einen wichtigen Umschlagpunkt dar. Ängste vor negativen Reaktionen oder ein hohes Ausmaß an eigener, verinnerlichter Trans-Negativität können ein starkes Hindernis sein, die
Transition anzugehen. Die sexuelle Orientierung liefert keine diagnostisch relevante Information. Entgegen früherer Annahmen gibt es keinen empirisch nachweisbaren Effekt auf das Behandlungsergebnis (Nieder et al.
2016). Die zweite Säule der Diagnostik ist eine allgemeine Anamnese, die eine Sozialanamnese, eine biografische Anamnese und eine Anamnese sowohl somatischer als auch psychischer Vorerkrankungen und Vorbehandlungen umfasst. Dies schließt auch die Erhebung eines allgemeinen psychischen Befundes ein. Die Erfassung begleitender körperlicher und/oder psychischer Erkrankungen, die behandlungsrelevant sein können, ist notwendig (AWMF
2019).
Während nicht alle Kinder mit Geschlechtsvarianz im Erwachsenenalter als trans Menschen leben, hatten nicht alle trans Erwachsenen von Kindheit an geschlechtsvariantes Erleben (Drescher et al.
2016). Da das evidenzbasierte Wissen über die Entwicklungsverläufe von jungen Menschen mit GI/GD beschränkt ist und Faktoren, die die Persistenz bzw. Desistenz der GD sicher vorhersagen könnten (Steensma et al.
2011), nicht bekannt sind, wird im Kindes- und Jugendalter eine ergebnisoffene Begleitung mit Verlaufsbeobachtung empfohlen (Möller et al.
2018). Ferner ist die Ausbildung von Einsichts- und Urteilsfähigkeit einzuschätzen, welche stark von der kognitiven Reife, dem emotionalen Entwicklungsstand sowie der prozesshaften und relationalen Auseinandersetzung mit der Umwelt abhängt. Die sorgeberechtigten Eltern werden in den Prozess und die Entscheidung miteinbezogen. Eine sorgfältige prognostische Einschätzung der Persistenz der GD ist notwendig, da sowohl die in Betracht gezogenen Behandlungsmöglichkeiten als auch deren Unterlassen schwerwiegende Folgen haben können (Deutscher Ethikrat
2020).
Differenzialdiagnostik und begleitende psychische Störungen
Es gibt keine Differenzialdiagnosen, die eine GD/GI automatisch ausschließen würden. Sonderfälle wie eine Psychose mit wahnhafter Verkennung der eigenen Geschlechtszugehörigkeit oder eine dissoziative Störung mit verschiedengeschlechtlichen „Ego States“ treten nur sehr selten auf. Größere Bedeutung haben begleitende
psychische Störungen, bei denen nicht immer auf Anhieb erkennbar ist, ob sie Folge der GD/GI sind oder unabhängig davon bestehen und andere Ursachen haben. Komplexe Wechselwirkungen erschweren mitunter die Beurteilung. Besonders häufig finden sich als Sekundärstörungen depressive Syndrome, soziale Ängste, selbstverletzendes Verhalten und
Suizidalität. Auch andere
Angststörungen, Substanzmissbrauch,
Autismus-Spektrum-Störungen und
Essstörungen sind nicht selten. Da bei körperdysmorphophen Störungen der Bezug zu der geschlechtlichen Identifizierung fehlt, ist die Abgrenzung in der Regel nicht schwierig. Intergeschlechtlichkeit stellt kein Ausschlusskriterium mehr für eine GD/GI dar. Bei strukturellen
psychischen Störungen mit einem geringen Integrationsniveau der Persönlichkeit, die mit einer wenig konstanten oder wenig kohärenten Selbstwahrnehmung einhergehen, besteht ein höheres Risiko für eine Re-Transition. Oftmals fehlen dann auch die nötigen psychischen Ressourcen, um Diskriminierungserfahrungen nach der
Transition adäquat bewältigen zu können. In solchen Fällen erscheinen daher eine besonders sorgfältige Diagnostik und intensivere therapeutische Begleitung ratsam (AWMF
2019). Im Jugendalter sind geschlechtliche und sexuelle Reifungskrisen zu beachten, bei deren Lösung es zu einer Desistenz des geschlechtsdysphorischen Erlebens kommen kann. Vorsicht ist geboten, wenn die GD erst nach
Pubertät neu auftritt, die Differenzierung zur sexuellen Orientierung noch unklar ist und Hinweise für eine allgemeine Identitätsunsicherheit bestehen (Preuss
2019).
Voraussetzungen zur Einleitung körpermodifizierenden Behandlungen
Voraussetzungen für die Durchführung körpermodifizierender Maßnahmen
sind der Abschluss der Diagnostik mit Sicherung der Diagnose einer GD/GI sowie die Abklärung eventuell vorhandener begleitender
psychischer Störungen. Die anschließende Planung eventueller medizinischer Maßnahmen zur Geschlechtsangleichung erfolgt in einem partizipativen, ergebnisoffenen Prozess. Die Behandlungssuchenden nehmen zur diagnostischen Einschätzung, Beratung und Entscheidungsfindung häufig die Unterstützung von Peer-Berater*innen, Psychotherapeut*innen und anderen ärztlichen Fachgruppen in Anspruch und informieren sich zudem selbstständig im Internet und anderen Medien. Es empfiehlt sich, bei der Behandlungsplanung schrittweise vorzugehen, da nicht immer von vornherein absehbar ist, welche Maßnahmen notwendig sein werden, um den Leidensdruck so gut wie möglich zu reduzieren (AWMF
2019). Alltagserfahrungen können eine wichtige Orientierung für die Planung des weiteren Entwicklungsprozesses sein. Ziele können dabei sein, sich in Ausprägung und Zielrichtung der
Transition sicher zu fühlen und den Entscheidungsprozess für oder gegen körpermodifizierende Behandlungen zu fördern (Garcia Nuñez und Nieder
2017).
Um bereits im Jugendalter die Indikation für körpermodifizierende Maßnahmen stellen zu können, sollte eine früh aufgetretene, persistierende und sich mit Beginn der
Pubertät verschlechternde GD gegeben sein. Die Indikation sollte nur gestellt werden, wenn eine Nicht-Behandlung den Leidensdruck verschlimmern und zu einem absehbar größeren seelischen Folgeschaden führen würde als die Folgen des Restrisikos einer sich möglicherweise später zeigenden Fehlindikation (Preuss
2019, S. 230). Für einen gelungenen Behandlungsprozess ist es wesentlich, dass alle Beteiligten (trans Jugendliche/r, sorgeberechtigte Eltern, behandelnde Ärzt*innen und Psychotherapeut*innen, pädiatrische Endokrinolog*innen) bezüglich notwendiger Behandlungsschritte zu einer Übereinstimmung gelangen. Da die Einschätzung des prospektiven Nutzens und Schadens in hohem Maße von der Bewertung der Betroffenen abhängt, sollte der therapeutische Prozess so gestaltet sein, dass der Heranwachsende an die mit zunehmendem Alter folgenreicher werdenden Entscheidungen herangeführt wird (Möller et al.
2018). Die Behandler*innen haben dabei die Aufgabe, Eltern und Kind durch ausgewogene Beratung und Aufklärung bestmöglich zu unterstützen (Deutscher Ethikrat
2020).
Während in der S3-Leitlinie für Erwachsene formale zeitliche Vorgaben zugunsten individueller inhaltlicher Voraussetzungen aufgegeben wurden, gibt es im Kindes- und Jugendalter derzeit noch entsprechende Empfehlungen. Eine pubertätsblockierende Hormontherapie
kann ab dem Erreichen des Tanner-II-Stadiums begonnen werden, um den Jugendlichen mehr Zeit zu geben, ihre Geschlechtsnonkonformität und andere Entwicklungsprobleme zu erkunden (WPATH
2012; Hembree
2011). Das empfohlene Mindestalter für eine partiell irreversible feminisierende bzw. maskulinisierende Hormontherapie liegt bislang bei 16 Jahren (WPATH
2012; Meyenburg
2020). Allerdings ergibt sich ein Problem bei sehr früh pubertätshemmend behandelten Jugendlichen. Bei sehr klarem Verlauf, positiven, mindestens einjährigen Alltagserfahrungen, altersgemäßem Entwicklungsstand, fehlender schwerer Psychopathologie, angemessenen Vorstellungen und realistisch kritischer Bewertung der Wirkungen und Nebenwirkungen (inkl. möglicher Infertilität) sowie vorhandener
Einwilligungsfähigkeit kann die empfohlene Altersgrenze unterschritten werden (Fahrenkrug und Wüsthoff
2018). Nach aktueller Empfehlung sollten geschlechtsangleichende, irreversible Operationen am Genitale erst erfolgen, wenn die Patient*innen volljährig sind (WPATH
2012; Hembree
2011; Meyenburg
2020). Als Ausnahme wird die Mastektomie bei trans-männlichen Jugendlichen ab 16 Jahren diskutiert. Es gibt allerdings einen Dissens, ob solche formalen Altersvorgaben bedarfsgerecht sind. In der Versorgungsrealität werden zunehmend häufig auch bei Minderjährigen genitalangleichende Operationen durchgeführt. Bei einer Umfrage unter amerikanischen Operateur*innen war die übereinstimmende Meinung, dass die psychische Reife und nicht das Alter ausschlaggebend ist (Milrod und Karasic
2017). Es zeichnet sich ab, dass es in den in Vorbereitung befindlichen Leitlinien (S2k-Leitlinie zu chirurgischen Maßnahmen bei GI/GD) und der 8. Version der internationalen Standards of Care der WPATH zu einem Paradigmenwechsel mit stärkerer Betonung der individuellen Voraussetzungen kommen wird.
Die Indikation für operative Maßnahmen zur Geschlechtsangleichung
stellt die Operateur*in auf der Grundlage einer voll informierten
Einwilligung. Voraussetzung für die Indikationsstellung von chirurgischer Seite ist neben der notwendigen
Einwilligungsfähigkeit der Betroffenen die von psychotherapeutischer Seite gestellte und gesicherte Diagnose einer persistierenden GD/GI sowie die Bestätigung, dass der jeweilige Eingriff dazu geeignet ist, den Leidensdruck signifikant zu reduzieren. Dies soll gemäß der S3-Leitlinie für Erwachsene in einem kurzen Empfehlungsschreiben dargelegt werden (AWMF
2019). Als Inhalt gibt die Leitlinie vor:
1.
die der Behandlung zugrunde liegende Diagnose
3.
die jeweils empfohlene Behandlung
4.
die Informiertheit des Behandlungssuchenden über die Diagnose und
5.
die Informiertheit des Behandlungssuchenden über alternative Optionen der Behandlung(en)
Die Anforderung eines zweiten psychotherapeutischen „Gutachtens“ ist im Erwachsenenalter im Allgemeinen nicht erforderlich. Von einigen Expert*innen wird empfohlen, bei Jugendlichen eine Zweitmeinung vor dem Beginn geschlechtsangleichender Behandlungen einzuholen (Preuss
2019; Fahrenkrug und Wüsthoff
2018). Auch wenn Operateur*innen trotz eines Empfehlungsschreibens Zweifel an der Notwendigkeit des vorgeschlagenen Eingriffs haben, kann die Veranlassung einer psychotherapeutischen Zweitsicht ratsam sein. Gutachten zur Vornamens- und Personenstandsänderung nach dem „Transsexuellengesetz“ haben keinen Aussagewert, ob ein medizinischer Eingriff notwendig ist oder nicht. Bei non-binären Behandlungssuchenden können im Erwachsenenalter neben feminisierenden und maskulinisierenden Maßnahmen auch eher experimentelle Eingriffe zur Veruneindeutigung körperlicher Geschlechtsmerkmale eine Berechtigung haben (Löwenberg
2020).
Beratung und Psychotherapie
Informative Beratung und Interventionsberatung können für Behandlungssuchende mit einer GD/GI
eine gute Unterstützung bei der
Transition bieten. Beratung dient dem „Empowerment“ der transidenten Menschen und der Förderung des Zugangs zur Gesundheitsversorgung (Singh und Burnes
2010). Im Idealfall koordinieren sich Selbsthilfe, psychosoziale Beratung, psychotherapeutische Unterstützung und Begleitung, somatische Behandlungen und ergänzende Hilfsmittel (Nieder et al.
2016). Die Vernetzung und der Austausch mit anderen trans Personen kann dabei helfen, eine gute Selbstwirksamkeit zu erleben und sich eingebunden zu fühlen (Günther et al.
2019). Die Vernetzung der Behandelnden mit der zunehmend professionalisierten Community-basierten Beratung ist für eine bedarfsgerechte Versorgung hilfreich. Besonders hervorzuheben ist zudem die Notwendigkeit, Behandlungssuchende vor Beginn körpermodifizierender Maßnahmen über die Möglichkeiten, Grenzen und Risiken fertilitätskonservierender Maßnahmen der Reproduktionsmedizin zu informieren (AWMF
2019). Bei Heranwachsenden erfolgt ein noch stärkerer Einbezug des gesamten Umfeldes, da sowohl die Familie als auch Gleichaltrige und Freunde eine essenzielle Rolle für die
psychische Gesundheit und das Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen spielen (Brill und Pepper
2008; Strittmatter
2017).
Psychotherapie ist gemäß der S3-Leitlinie (AWMF
2019) keine obligatorische Voraussetzung für körpermodifizierende Behandlungen, sollte aber angeboten werden. Psychotherapeutische Maßnahmen, die eine
Transition begleiten, können in vielen Fällen hilfreich sein. Die Handlungsspielräume der behandlungssuchenden Person sollen erweitert werden, damit sie gute Entscheidungen für sich treffen können (Günther et al.
2019). Ziele einer Psychotherapie können die Verbesserung der Selbstakzeptanz, der Abbau von Scham- und Schuldgefühlen, der Aufbau eines stabilen Selbstbildes, der Abbau problematischer Verhaltensweisen, eine Unterstützung bei Coming-out-Prozessen, die Bewältigung transitionsbedingter Anpassungsleistungen, die Auslotung der Grenzen, Risiken und Perspektiven geschlechtsangleichender Maßnahmen sein, aber auch die Unterstützung bei persistierender GD nach der Angleichung (Löwenberg und Ettmeier
2014). Im Kindes- und Jugendalter ist es in noch stärkerem Maße angeraten, soziale Veränderungen und körperliche Interventionen psychotherapeutisch zu begleiten. Neben der Unterstützung bei anstehenden Entwicklungsaufgaben ist die Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper und der Sexualität bedeutsam. Eltern sollen unterstützt werden, Unsicherheiten und Ängste bezüglich der psychosexuellen Entwicklung des Kindes/Jugendlichen auszuhalten. Nutzen und Schaden von medizinisch-therapeutischen Maßnahmen müssen gerade bei Jugendlichen in jedem individuellen Einzelfall sorgfältig abgewogen werden (Deutscher Ethikrat
2020).