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Die Urologie
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Publiziert am: 17.09.2022

Hodentumor: Epidemiologie und Ätiologie

Verfasst von: Eva Erne und Jens Bedke
Entsprechend der pathologischen Klassifikation der World-Health-Organization (WHO) aus dem Jahr 2016 werden Hodentumoren in 4 Gruppen unterteilt. Der Begriff des Hodentumors wird oftmals fälschlicherweise als Synonym für die malignen Keimzelltumoren (KZT) benutzt, welche sich aus klinischer Sicht in die Gruppe der Seminome und der Nichtseminome unterteilen. Die Verwendung des Wortes Hodenkrebs umfasst formal alle malignen Tumoren des Hodens.
Die Inzidenz des Hodenkrebses zeigt eine geografische, ethnische und zeitliche Variabilität. Für Deutschland liegt das mittlere Erkrankungsalter bei 37 Jahren, die Neuerkrankungsrate bei 4120 Männern mit einer sehr geringen Mortalität von 140 Sterbefällen für das Jahr 2016.
Epidemiologische Risikofaktoren für die Entwicklung von Hodenkrebs sind das Vorhandensein eines kontralateralen KZT, eine positive Familienanamnese für KZT bei Verwandten 1. Grades, sowie u. a. Kryptorchismus, Hypospadie, Infertilität.

Klassifikation

Entsprechend der pathologischen Klassifikation der World-Health-Organization (WHO) aus dem Jahr 2016 werden Hodentumoren in 4 Gruppen unterteilt: (1) Keimzelltumoren (KZT), die aus einer Keimzellneoplasie in situ, (2) KZT, die nicht aus einer Keimzellneoplasie in situ hervorgehen, (3) Keimstrang-/Stroma-Tumoren und (4) Keimzellen und Keimstranganteile enthaltende Tumoren (Mikuz 2017) (siehe Tab. 1). Der Begriff des Hodentumors, der die oben genannten Entitäten umfasst, wird in diesem Zusammenhang oftmals fälschlicherweise als Synonym für die malignen KZT benutzt, welche sich aus klinischer Sicht in die Gruppe der Seminome und der Nichtseminome unterteilen. Die Verwendung des Wortes Hodenkrebs umfasst formal alle malignen Tumoren des Hodens. Primäre Malignome des Hodens, die nicht aus der Gruppe der KZT stammen, treten äußerst selten auf und sind Raritäten, so dass im allgemeinen Sprachgebrauch diese „feine“ Unterscheidung nicht immer erfolgt.
Tab. 1
Pathologische Klassifikation der Hodentumoren nach WHO 2016, deutsche Übersetzung nach (Mikuz 2017) und (S3-Leitlinie 2020)
(1) KZT, die aus einer Keimzellneoplasie in situ hervorgehen
Nichtinvasive KZT
Keimzellneoplasie in situ
Spezifische Formen von intratubulären Keimzellneoplasien
Tumoren von einem histologischen Typ (reine Formen)
Seminom
Seminom mit synzytiotrophoblastären Riesenzellen
Nichtseminomatöse KZT
Embryonales Karzinom
Dottersacktumor vom postpubertären Typ
Trophoblastische Tumoren: Chorionkarzinom
Nichtchorionkarzinomatöse trophoblastische Tumoren
– Trophoblastischer Plazentatumor
– Epitheloider trophoblastischer Tumor
– Zystischer trophoblastischer Tumor
Teratom vom postpubertären Typ
Teratom mit Entwicklung somatischer Neoplasien
KZT von mehr als einem histologischen Typ
Keimzellmischtumoren
KZT vom unbekannten Typ
Zurückgebildete KZT
(2) KZT, die nicht aus einer Keimzellneoplasie in situ hervorgehen
Spermatozytischer Tumor
Teratom vom präpubertären Typ
– Dermoidzyste
– Epidermoidzyste
– Hochdifferenzierter neuroendokriner Tumor (monodermales Teratom)
Mischtumor: Teratom mit Dottersacktumor vom präpubertären Typ
Dottersacktumor vom präpubertären Typ
(3) Keimstrang-/Stroma-Tumoren
Reine Tumore
Leydigzelltumor
- Maligner Leydigzelltumor
Sertolizelltumor
- Maligner Sertolizelltumor
- Großzelliger kalzifizierender Sertolizelltumor
- Intratubuläre großzellige hyalinisierende Sertolizell-Neoplasie
Granulosazelltumor
- Adulter Granulosazelltumor
- Juveniler Granulosazelltumor
Tumoren der Fibrom-Thekom-Gruppe
Gemischte und unklassifizierte Stromatumoren
Gemischte Stromatumoren
Unklassifizierte Stromatumoren
(4) Tumoren, die Keimzellen und Keimstranganteile enthalten
Gonadoblastome

Inzidenz

Der Hodenkrebs hat einen Anteil von etwa 1 % an allen neu diagnostizierten Krebserkrankungen bei Männern und macht einen Anteil von ca. 5 % der uroonkologischen Malignome aus (Park et al. 2018). Bei etwa 1–2 % der Patienten liegt bei Diagnose ein bilateraler Hodenbefall vor und insgesamt ist die vorherrschende Histologie die der KZT, die aus einer Keimzellneoplasie in situ hervorgehen (90–95 % der Fälle) (Laguna et al. 2020). In Deutschland erkrankten im Jahr 2016 etwa 4120 Männer an Hodenkrebs (siehe Tab. 2), für 2020 werden etwa 4200 Neuerkrankungen prognostiziert (RKI 2019). Trotz dieser im Vergleich zu anderen Krebsarten eher geringen Inzidenz ist der Hodenkrebs mit einem Anteil von 25 % der häufigste bösartige Tumor bei Männern zwischen dem 20. und 44. Lebensjahr, was seine onkologische Bedeutung in diesem Lebensalter unterstreicht (Bertz et al. 2017). Für Deutschland gibt das Robert Koch-Institut ein mittleres Erkrankungsalter von 37 Jahren an. Im Jahr 2016 blieb die altersstandardisierte Erkrankungsrate mit 10,2:100.000 nahezu konstant, wobei jedoch zuvor über Jahrzehnte ein leichter aber stetiger Anstieg zu beobachten war. Insgesamt werden etwa 90 % der Fälle im Stadium I oder II diagnostiziert (RKI 2019). Die höchste altersspezifische Neuerkrankungsrate haben Männer im Alter von 30–34 Jahren (ca. 26:100.000) (RKI 2019).
Tab. 2
Epidemiologische Daten des Hodenkrebses in Deutschland, erhoben vom Robert Koch-Institut unter Einbeziehung der regionalen Krebsregisterdaten der Bundesländer (RKI 2019)
 
2015
2016
Neuerkrankungen
4280
4120
Standardisierte Erkrankungsrate1
10,7
10,2
Mittleres Erkrankungsalter (Jahre)
37
37
Sterbefälle
145
140
Standardisierte Sterberate1
0,3
0,3
Absolute 5-Jahres-Überlebensrate (2015–2016) (%)
95 (87–98)
1altersstandardisiert nach alter Europaverteilung bezogen auf je 100.000 Einwohner
Die Inzidenz von Hodentumoren zeigt eine geografische, ethnische und zeitliche Variabilität. In den letzten Jahrzehnten kam es weltweit zu einem Anstieg der Inzidenz der Hodentumore, im Besonderen in Industrieländern wie Nordamerika, Europa und Ozeanien (Park et al. 2018).
In einer aktuellen Untersuchung der International Agency for Research on Cancer (IARC) aus dem Jahr 2018 wird die altersstandardisierte Inzidenz des Hodentumors weltweit auf 1,7 Neuerkrankungen pro 100.000 Einwohner geschätzt (Ferlay et al. 2019). Es zeigen sich jedoch große regionale Unterschiede sowohl zwischen den Kontinenten (Europa 5,6; Nordamerika 5,0; Australien/Neuseeland 6,8; Asien 0,7; Afrika 0,4), als auch innerhalb der einzelnen Regionen. So besteht in Europa ein Nord-Süd- sowie ein West-Ost-Gefälle (Nordeuropa 7,2, Südeuropa 5,9; Westeuropa 8,7, Ost- und Zentraleuropa 3,2:100.000) (siehe Tab. 3) (Park et al. 2018).
Tab. 3
Geografische Verteilung der Inzidenz- und Mortalitätsraten des Hodenkrebses entsprechend den Daten der International Agency for Research on Cancer. Die jeweiligen Inzidenz- und Mortalitätswerte sind interpoliert aus den Erhebungen des GLOBOSCAN-Reports (Park et al. 2018)
Region
Inzidenz
Sterbefälle
Fälle (n)
altersstandardisiert1
Fälle (n)
altersstandardisiert1
Weltweit
55.266
1,5
10.351
0,3
Nordamerika
8965
5,0
484
0,2
Zentral-, Südamerika und Karibik
7197
2,2
1504
0,5
 
Zentralamerika
1951
2,3
511
0,6
Südamerika
5024
2,4
974
0,4
Karibik
222
1,0
46
0,2
Europa
21.548
5,6
1612
0,4
 
Nordeuropa
3635
7,2
119
0,2
Südeuropa
4783
5.9
265
0,3
Westeuropa
8217
8,7
327
0,3
Zentral- und Osteuropa
4193
3,2
901
0,5
Australien/Neuseeland
953
6,8
27
0,2
Afrika
1529
0,4
864
0,3
Asien
15.053
0,7
5849
0,3
1altersstandardisierte Rate pro 100.000 Personen
Interessanterweise besteht bezüglich der Inzidenz keine Immigrationstendenz. So nahm die Inzidenz bei einer Immigrationspopulation in ein Land mit einer höheren Inzidenz nicht zu, anders als dieses für den Brust- und Magenkrebs beschrieben ist (Bray et al. 2018). Das heißt, dass z. B. ein Amerikaner mit afrikanischem Migrationshintergrund ein gleichartiges Risiko hat, an einem Hodenkrebs zu erkranken, wie ein nicht immigrierter einheimischer Afrikaner (Park et al. 2018). Diese Tatsache verdeutlicht, dass eine mögliche genetische Prädisposition als Risikofaktor für die Entstehung eines Hodenkrebses zu Grunde liegt.
Für die testikulären Keimstrang-/Stromatumoren (u. a. Leydigzell-, Sertolizelltumoren) sind keine Inzidenzraten separat beschrieben; ihr prozentualer Anteil an den Hodentumoren beträgt unter 5 % und davon sind etwa 10 % maligne (Banerji et al. 2016). Leydigzelltumoren machen ca. 1–3 % der Hodentumoren aus. Für diese Tumoren ist eine zweigipflige Häufigkeitsverteilung um das 5. Lebensjahr (3.–9. Lebensjahr) und um das 35. Lebensjahr (30.–60. Lebensjahr) zu verzeichnen (Kao und Mooney 2018; S3-Leitlinie 2020). Die Bedeutung der Leydigzelltumoren liegt vor allem darin begründet, dass ca. 10 % der diagnostizierten Tumoren ein malignes Verhalten aufweisen (Luckie et al. 2019). Als Risikofaktoren für ein malignes Verhalten werden u. a. eine Tumorgröße >5 cm, ein Alter >40 Jahre und endokrine Veränderungen beschrieben (Genov et al. 2020).
Der Anteil der Sertolizelltumoren an allen Hodentumoren liegt unter 1 %, jedoch tritt auch bei dieser Entität eine Malignitätsrate von 10–22 % auf (S3-Leitlinie 2020). Das mittlere Erkrankungsalter liegt bei 45 Jahren. Assoziationen der Sertolizelltumoren zu den genetischen Syndromen des Carney-Komplexes (Krankheitsbild im Rahmen dessen es zur Ausbildung multipler Myxome, Pigmentflecken und hormoneller Regulationsstörungen kommt) (Freire et al. 2017) und des Peutz-Jeghers-Syndroms (Krankheitsbild charakterisiert durch mukokutane Pigmentanomalien und eine generalisierte Polyposis des Gastrointestinaltraktes) sind beobachtet worden (S3-Leitlinie 2020). Die weiteren in der WHO-Klassifikation aufgeführten Tumoren stellen Raritäten dar, mit nur wenigen in der Literatur beschriebenen Fällen.

Mortalität

Obwohl die Rate der Neuerkrankungen zunimmt, bleibt die Mortalität gering. Insbesondere die Einführung des Chemotherapeutikums Cisplatin in den 1970er-Jahren hat die Mortalität entscheidend gesenkt. So beträgt die relative 5-Jahres-Überlebensrate in Deutschland über alle Tumorstadien verteilt 97 %. Für das Jahr 2016 werden vom Robert Koch-Institut für Deutschland 140 Sterbefälle (2015: 145) (siehe Tab. 2) angegeben. Dieses entspricht einer rohen Sterberate von 0,3:100.000 (RKI 2019).
Die altersstandardisierte Mortalitätsverteilung wird von Zentralamerika mit 0,6:100.000 angeführt, gefolgt von Zentral- und Osteuropa mit 0,5:100.000. Dem gegenüber stehen die niedrigsten altersstandardisierten Mortalitätsraten von 0,2:100.000 in Nordamerika, Nordeuropa und Australien/Neuseeland. Folglich zeigt sich in Ländern mit hoher Inzidenz eine eher geringe Mortalität, während hingegen Länder mit einer eher geringen Inzidenz wie z. B. Afrika (altersstandardisierte Inzident 0,4:100.000) eine vergleichsweise hohe Mortalität aufweisen (0,3) (siehe Tab. 3) (Park et al. 2018). Ob hier für die erhöhte Mortalität eine hohe Dunkelziffer an nicht diagnostizierten Fällen, ein im Vergleich eventuell schlechteres Gesundheitswesen oder andere Faktoren wie eine genetische Prädisposition oder Umweltfaktoren ursächlich sind, ist nicht abschließend geklärt.

Ätiologie

Die Histopathogenese der KZT ist bisher nur in groben Zügen aufgeklärt. Es wird davon ausgegangen, dass die postpubertären KZT sich aus defekten Gonozyten entwickeln, welche bereits intrauterin angelegt sind. Diese „schlummern“ nach der Geburt im Hoden, bis sich durch weitere Faktoren histologisch erkennbare In-situ-Neoplasie entwicklen, aus denen dann nachfolgend die KZT entstehen. Eine Ausnahme bilden hierbei die kindlichen präpubertären KZT und die spermatozytären Tumoren, da diese nicht auf dem Weg der sog. In-situ-Neoplasie entstehen (Mikuz 2017). Durch fehlende Tiermodelle und die relative Seltenheit dieser Tumore, die sich nicht aus der Keimzellneoplasie entwickeln, ist die Ursachenerforschung deutlich erschwert. Die komplette Ätiologie einer Hodenkrebsentstehung konnte bisher nicht abschließend aufgeklärt werden. Es konnten jedoch mehrere Risikofaktoren durch klinische und epidemiologische Beobachtungen gesichert werden (Dieckmann und Pichlmeier 2004) (S3-Leitlinie 2020).

Familiäre (Genetische) Prädisposition

Hodentumoren treten familiär gehäuft auf, etwa 1–3 % aller Betroffenen berichten von einem Verwandten 1. Grades mit einem diagnostizierten Hodentumor. Dieses ist weitaus häufiger, als es bei anderen Tumorentitäten beschrieben wird (Zhang et al. 2018). Besonders häufig ist die Hodenkrebserkrankung zwischen zwei Brüder zu beobachten, etwas geringer ist das Risiko in der Vater-Sohn-Konstellation. In einer skandinavischen Studie von Kharazmi et al. zeigte sich bei Brüdern von Betroffenen ein kumulatives Lebenszeitrisiko von 2,3 %, dies entspricht rechnerisch einem 4-fach erhöhten Risiko im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung.
Bei der Vater-Sohn-Konstellation ist das Risiko 2-fach erhöht (kumulatives Lebenszeitrisiko von 1,2 %). Wurde bei zwei oder mehr Familienmitgliedern ein KZT diagnostiziert, betrug das kumulative Lebenszeitrisiko für Verwandte 10,3 %. Für Zwillingsbrüder von an KZT-erkrankten Personen wird ein 56 % Lebenszeitrisiko beschrieben, um ebenfalls an einem KZT zu erkranken (Kharazmi et al. 2015). Im Allgemeinen geben Zwillingsstudien mit homo- und heterozygoten Zwillingen Aufschluss darüber, ob diese besondere genetische Konstellation auch mit einem erhöhten Karzinomrisiko einhergehen. Aufgrund von meist geringen Studienpopulationen konnten bisher keine abschließenden Ergebnisse aufgezeigt werden. In der Arbeit von Swerdlow et al. (Swerdlow 1993) wurden Zwillingsbrüder von Männern mit einem Hodentumoren identifiziert. In dieser Gruppe lag das relative Erkrankungsrisiko für monozygote Zwillinge, wenn bereits ein Bruder erkrankt war, bei 76,5 % und damit fast doppelt so hoch wie für dizygote Zwillingspärchen (Greene et al. 2010). Daher scheint eine genetische Komponente in der Entstehung von Hodentumoren von hoher Bedeutung zu sein.
Diese Ergebnisse sowie die o. g. Inzidenzdaten zur Populationsmigration deuten auf den Einfluss von exogenen Umweltfaktoren, insbesondere von Östrogen hin. Die erhöhte Einwirkung von Östrogen auf die Gebärmutter, während der Embryonalzeit kann zu einer gestörten Spermiogenese führen und somit die Entstehung von Hodentumoren begünstigen (Greene et al. 2010). Insgesamt legt die familiäre Häufung von Hodenkrebserkrankungen den Verdacht nahe, dass nicht nur exogene Faktoren, sondern auch eine genetische Prädisposition ursächlich sein kann. Gestützt wird diese Vermutung durch Segregationsuntersuchungen von Chromosomen bei familiär gehäuft auftretenden Fällen. Im Rahmen dieser Segregationsuntersuchungen erfolgt der Häufigkeitsvergleich einer Erkrankung anhand der statistischen Wahrscheinlichkeit eines festgelegten Erbganges, z. B. autosomal-rezessive Vererbung und den Wahrscheinlichkeiten einer Vererbung anhand der Mendelschen Regeln, was beim Hodenkrebs für eine familiäre Häufung spicht.

Genetische Ursachen

In sogenannten „genome-wide association studies“ (GWAS) wurden durch Hochdurchsatzverfahren mögliche genetische Veränderungen bzw. Mutationen im Erbgut untersucht. Diese Studien konnten bislang 19 Gen-loci (single-nucleotide polymorphism: SNPs) identifizieren, die mit der Erkrankung eines KZT assoziiert sind. Durch diese Erkenntnisse konnten umfassende Einblicke in mögliche Mechanismen (u. a. im Bereich der Telomerasefunktion, Mikrotubuli-Assemblierung und Reparatur von DNA-Schäden) der Onkogenese von KZT erhalten werden (Litchfield et al. 2015). Insgesamt wird jedoch eher von einem polygenen Pathogenesemodell ausgegangen, bei dem mehrere Gene mit geringer Penetranz die Erkrankungswahrscheinlichkeit triggern (S3-Leitlinie 2020).
Unabhängig von der familiären Prädisposition führen auch veränderte Karyotypen gehäuft zu testikulären Neoplasien. Patienten mit Morbus Klinefelter (47,XXY) haben ein erhöhtes Risiko, an einem (extragonadalen) Hodentumor zu erkranken (Sundararajan und Carter 2020). Die extragonadale Ausbreitung ist vermutlich auf die sehr geringe bis fehlende Keimzelldichte der Hoden schon kurz nach der Geburt zurückzuführen. Ebenso haben Patienten mit einer testikulären XY-Dysgenesie (Hoei-Hansen et al. 2003) sowie einer Trisomie 21 (Rethore et al. 2020) ein erhöhtes Erkrankungsrisiko.

Vorerkrankung mit einem einseitigen Keimzelltumor

Ein bereits auf einer Seite aufgetretener KZT stellt ebenfalls einen bedeutenden Risikofaktor für die Entwicklung eines Zweittumors auf der Gegenseite dar. In einer niederländischen Studie konnte gezeigt werden, dass die standardisierte Inzidenzquote bis zu 20 Jahre lang erhöht blieben und die kumulative Inzidenz nach 20 Jahren 2,2 % betrug (Schaapveld et al. 2012).

Testikuläres Dysgenesie-Syndrom

Unter dem testikulären Dysgenesie-Syndrom werden die Erkrankungsbilder des Hodenkrebses, des Hodenhochstands, der Hypospadie sowie auch Infertilitätsprobleme, welche gemeinsam gehäuft auftreten, zusammengefasst. Gerade die Infertilität führt im Rahmen der andrologischen Abklärung häufiger zur Detektion eines Hodentumors.
Ein sehr bedeutender epidemiologischer Risikofaktor ist der Kryptorchismus. Patienten mit einem Kryptorchismus haben ein deutlich erhöhtes Risiko, an Hodenkrebs zu erkranken. In der Literatur wird ein 2–5 fach erhöhtes Risiko im Vergleich zur Normalbevölkerung beschrieben (Rodprasert et al. 2019).
Insgesamt ist die Frage, ob eine frühzeitige operative Korrektur des maldeszendierten Hodens vor einem KZT schützt nicht abschließend geklärt. Die Daten eines systematischen Reviews legen nahe, dass bei einer operativen Korrektur vor dem Ende des ersten Lebensjahres signifikant weniger Fälle von KZT auftreten als nach Korrekturen zu einem späteren Zeitpunkt (Chan et al. 2014). Dementsprechend sind eine frühzeitige Diagnose und Therapie von großer Bedeutung für die Heranwachsenden.
Für die Hypospadie, die inguinalen Hernien und andere genitale Malformationen sind ebenfalls erhöhte relative Risiken für die Entstehung eines Hodentumors zu verzeichnen. Diese liegen jedoch unter dem relativen Risiko des Kryptorchismus (Hypospadie: RR 2,41; inguinale Hernie: RR 1,37; andere genitale Malformationen RR 2,19) (Ruf et al. 2014).

Virale Faktoren

In den letzten Jahren wurden zunehmend Viren als auslösende Faktoren für Tumoren nachgewiesen. Der am besten gesicherte Zusammenhang besteht für die virale Krebsentstehung durch humane Papillomaviren (HPV) und die Entstehung des Gebärmutterhalskrebses. Daher wurde eine mögliche virale Ätiologie des Hodentumors durch HPV, Epstein-Barr-Virus (EBV), Zytomegalievirus (CMV) und humanes Immundefizienzvirus (HIV) in Studien in Betracht gezogen.
Die Ergebnisse einer Metaanalyse zeigten eine signifikante Assoziation einer HIV-Infektion mit einem KZT mit einer Odds Ratio (OR) von 1,71 (p < 0,00001). Zudem zeigte sich ein deutlich erhöhter Seminomanteil (75,17 %) bei HIV-Patienten mit einem diagnostizierten Keimzelltumor. Des Weiteren zeigte sich in dieser Metaanalyse ebenfalls ein signifikant erhöhtes Risiko für einen KZT nach EBV-Infektion (OR 7,38, p = 0,004), nicht jedoch für eine Parvovirus-B19-Infektion (OR 1,85, p = 0,45), eine CMV- (OR 1,81, p = 0,09) oder HPV-Infektion (OR 2,79, p = 0,09) (Garolla et al. 2019).

Zusammenfassung/Key Facts

  • Die Inzidenz zeigt eine geografische, ethnische und zeitliche Variabilität. Für Deutschland liegt das mittlere Erkrankungsalter bei 37 Jahren, die Neuerkrankungsrate liegt bei 4120 Männern mit einer sehr geringen Mortalität von 140 Sterbefällen für das Jahr 2016. Für das Jahr 2020 werden etwa 4200 Neuerkrankungen prognostiziert.
  • Die Ätiologie der Hodenkrebsentstehung konnte bisher nicht komplett aufgeklärt werden, jedoch bestehen verschiedene Risikofaktoren, welche sich aus klinischen und epidemiologischen Beobachtungen ergeben.
  • Hodentumore treten familiär gehäuft auf, es zeigt sich erhöhtes Risiko für die Hodenkrebsentwicklung bei Erkrankung des Vaters oder Bruders.
  • In „genome-wide association studies“ (GWAS) konnten bislang 19 Gen-loci (single-nucleotide polymorphism: SNPs) identifiziert werden, die mit der Erkrankung eines KZT assoziiert sind. Insgesamt wird jedoch von einem polygenen Pathogenesemodell ausgegangen.
  • Ein bereits auf einer Seite aufgetretener KZT stellt einen bedeutenden Risikofaktor für die Entwicklung eines Zweittumors auf der Gegenseite dar.
  • Der unbehandelte oder zu spät behandelte Kryptorchismus ist ein Risikofaktor für die Entstehung des Hodenkrebses.
  • Weitere Risikofaktoren: Hypospadie, inguinale Hernien, genitale Malformationen und virale Infektion (HIV und EBV).
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