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Die Urologie
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Publiziert am: 30.11.2021

Overactive-Bladder-Syndrom bei Frauen

Verfasst von: Rainer Hofmann und Jeremias Hartinger
Die internationale Kontinenzgesellschaft bezeichnet die überaktive Blase („overactive bladder“, OAB, Reizblase) als einen Zustand mit Symptomen des erhöhten Harndrangs begleitet von Pollakisurie und Nykturie, mit oder ohne Dranginkontinenz, ohne Vorhandensein eines Harnwegsinfektes oder anderweitiger Pathologien. Die überaktive Blase stellt, nach Überprüfung organischer und psychischer Ursachen, eine Ausschlussdiagnose dar. Die Diagnostik sollte eine ausführliche Anamnese, körperliche Untersuchung, Urindiagnostik, Erhebung des Hormonstatus, Ultraschall und evtl. invasive diagnostische Verfahren wie etwa eine Zystoskopie oder eine Urodynamik enthalten. Die erste Therapieoption sollte die Verhaltenstherapie darstellen, gefolgt von Medikamenten (antimuskarinerge/anticholinerge Substanzen). In der Drittlinientherapie kommen die sakrale Neuromodulation, die perkutane tibiale Nervenstimulation und Botulinumtoxin A zum Einsatz.

Epidemiologie und Ätiologie

Die internationale Kontinenzgesellschaft bezeichnet die überaktive Blase („overactive bladder“, OAB, Reizblase) als einen Zustand mit Symptomen des erhöhten Harndrangs begleitet von Pollakisurie und Nykturie, mit oder ohne Dranginkontinenz, ohne Vorhandensein eines Harnwegsinfektes oder anderweitiger Pathologien.
Die Prävalenz der überaktiven Blase liegt bei Männern und Frauen bei 16–43 % (Bartley et al. 2013). Die betroffenen Patienten sind meist 40 Jahre oder älter. Die Ätiologie der Reizblase muss multifaktoriell gesehen werden und ist noch nicht vollständig geklärt. Eine Theorie zur Erklärung einer neurogenen überaktiven Blase erklärt die Symptomatik über eine fehlende Inhibition des Miktionsreflexes nach stattgehabten zentralen oder peripheren Infarkten des Gehirns oder der Leitungsbahnen. Eine Theorie zur Entstehung einer myogenen Reizblase beinhaltet die pathologische partielle Denervierung der glatten Muskelzellen der Blase, was zu einer Unterbrechung der muskulären Struktur mit veränderter und dadurch erhöhter spontaner Erregbarkeit führt.

Klinik

Die häufigsten Symptome der überaktiven Blase sind mit etwa 85 % die Pollakisurie, gefolgt von imperativem Harndrang mit 54 % und der Dranginkontinenz mit 36 % (Milsom et al. 2001). Die Symptome der Reizblase verursachen den Patienten nicht nur in Bezug auf die Miktion Beschwerden, es wurde auch ein negativer Einfluss auf Bereiche wie Lebensqualität, Arbeitskraft oder die sexuelle Zufriedenheit nachgewiesen.

Diagnostik

Die überaktive Blase stellt, nach Überprüfung organischer und psychischer Ursachen, eine Ausschlussdiagnose dar.
Eine genaue Anamnese mit Angaben über das Ess- und Trinkverhalten, im Idealfall mit Trink- und Miktionsprotokoll, sind zur Einschätzung der Situation notwendig. Körperliche Untersuchung, Ultraschall mit Restharnbestimmung, Urinstatus und Urinkultur, Hormonprofil, die orientierende neurologische Untersuchung, endoskopische Diagnostik mit Spülzytologie zum Ausschluss von Tumoren, radiologische Darstellungen des Harntraktes zur morphologischen und funktionellen Beurteilung sowie die urodynamische Untersuchung helfen, organische Ursachen auszuschließen und die Symptomatik zu klassifizieren. Einen möglichen Leitfaden für eine praxisnahe diagnostische Abklärung und Therapie von Patienten mit der Verdachtsdiagnose „überaktive Blase“ stellt Abb. 1 dar.

Differenzialdiagnostik

Zu den Differenzialdiagnosen der überaktiven Blase gehören Harnwegsinfekte, eine Hormoninsuffizienz, Obstruktionen des Harntraktes jedweder Genese, Fremdkörper, Konkremente, Tumoren, neurologische Ursachen oder auch psychische Störungen.

Therapie

Erstlinientherapie

Die erste Therapieoption sollte die Verhaltenstherapie darstellen. Eine Diätberatung der Patientin, eine adäquate Trinkhygiene, die Reduzierung von diuretisch wirksamen Substanzen wie koffein-, alkohol- und kohlensäurehaltigen Getränken sowie eine Gewichtsreduktion bei adipösen Patienten sollte primär angestrebt werden. Die Einleitung eines Beckenbodentrainings kann begleitend erfolgen und erzielt gute Ergebnisse, ähnlich der medikamentösen Therapie. Miktionstechniken wie die „Miktion nach der Uhr“, die „zweizeitige Miktion“ oder die „verzögerte Miktion“ können ebenfalls helfen, einen normalen Alltag zu führen. Bei der „Miktion nach der Uhr“ ermittelt der Patient im Rahmen seines Miktionsprotokolls, wie lange die Zeitperiode nach einer Miktion bis zum Beginn des Dranggefühls dauert, und entleert die Blase regelmäßig, bevor dieses Dranggefühl entsteht. Anschließend wird versucht, den Zeitraum ohne Dranggefühl langsam zu erweitern. Bei der „zweizeitigen Miktion“ entleert der Patient die Blase in einem kurzen Abstand zur ersten Miktion erneut, um bei der Erstmiktion eventuell verbleibenden Restharn zu beseitigen. Bei der „verzögerten Miktion“ hält der Patient, sobald das Dranggefühl eintritt, den Urin noch für kurze Zeit ein, bevor er die Miktion zulässt. Anschließend wird versucht, diesen Zeitraum des Einhaltens langsam zu steigern. Das Erlernen dieser Techniken kann mit anderen Verfahren wie z. B. dem Biofeedback oder auch mit Unterstützung durch einen Therapeuten erfolgen.

Zweitlinientherapie

Medikamente stellen den nächsten Schritt in der Therapie der überaktiven Blase dar. Zum Einsatz kommen primär antimuskarinerge (anticholinerge) Substanzen (Tab. 1), welche als kompetitive Antagonisten von Acetylcholin an den M2- und M3-Rezeptoren der Blase für eine Hemmung des Parasympathikus und damit der Detrusorkontraktion sorgen.
Tab. 1
Medikamentöse Therapie bei überaktiver Blase
Medikament
Dosis
Applikation
Anticholinergikum
  
Oxybutynin-Gel
100 mg/g
1 g, 1-mal täglich
Oxybutynin-Pflaster
36 mg Pflaster, 3,9 mg/Tag
Wechsel 2-mal wöchentlich
Oxybutynin
5–20 mg
maximal 20 mg täglich, 1- bis 3-mal täglich
Fesoterodin
4 oder 8 mg
1-mal täglich
Trospiumchlorid
15–45 mg
maximal 45 mg täglich, 1- bis 3-mal täglich
Darifenacin
7,5 oder 15 mg
1-mal täglich
Solifenacin
5 oder 10 mg
1-mal täglich
Tolterodin
4 mg
1-mal täglich
β3-Rezeptor-Agonist
  
Mirabegron
25–100 mg
1- bis 2-mal täglich
Die Medikation kann entweder oral oder transdermal, mittels Gel oder Pflaster, verabreicht werden. Applikationsformen mit retardierter Freisetzung des Wirkstoffes erhöhen die Effizienz und Sicherheit und reduzieren die Nebenwirkungen im Vergleich zu solchen mit sofortigem Wirkeintritt. Studien haben gezeigt, dass Anticholinergika die Miktionsfrequenz und Inkontinenzepisoden signifikant vermindern, während die Miktionsvolumina signifikant erhöht werden, jeweils im Vergleich mit Placebo (Chapple et al. 2008). Ansprechraten nach 2-monatiger Therapie liegen bei etwa 95 %. Nach 6 Monaten erreichen ca. 70 % der Patienten eine subjektiv gute Symptomkontrolle (Visco et al. 2012). Keines der einzelnen Medikamente kann sich besonders hervorheben und auch vom Nebenwirkungsspektrum sind die Therapeutika ähnlich: trockene Schleimhäute, Akkommodationsschwierigkeiten, Verstopfung, Blasenentleerungsstörungen sowie kognitive Einschränkungen zählen zu den typischen Nebenwirkungen. Aufgrund dieser im Alltag häufig störenden Begleiterscheinungen oder eines ausbleibenden Therapieerfolgs wird die Therapie innerhalb eines Zeitraums von 12 Monaten in bis zu 80 % der Fälle abgebrochen oder die Substanz gewechselt.
Eine neue Wirkstoffklasse stellen die selektiven Agonisten der β3-Adrenozeptoren dar. Diese Rezeptoren sind direkt für die Relaxation der Detrusormuskulatur verantwortlich. Eine Therapie mit diesem Wirkstoff erhöht die Blasenkapazität ohne eine Einschränkung der Kontraktionsfähigkeit während der Miktion (Chapple et al. 2013). Daten zur Anwendung dieser Wirkstoffe zeigen eine signifikante Verbesserung der Miktionshäufigkeit, der Inkontinenzepisoden und des Miktionsvolumens unter Therapie. Nebenwirkungen sind Bluthochdruck, Kopfschmerzen, Harnwegsinfekte und gastrointestinale Beschwerden ähnlich denen der Anticholinergika. In Studien zeigte sich ein nach Absetzen der Medikation reversibler und klinisch nicht relevanter Anstieg der Herzfrequenz. Langzeitdaten bezüglich einer kardialen Beeinträchtigung durch die Substanzen müssen noch erhoben werden, wobei sich in den bisherigen Studien keine negative kardiale Beeinflussung zeigte (Nitti et al. 2013; Andersson 2013). Erste Studien einer Kombinationstherapie von Anticholinergikum und β3-Adrenozeptor-Agonist zeigen bessere Ergebnisse als eine Monotherapie. Langzeitdaten sind noch nicht vorhanden (Chapple et al. 2013).

Drittlinientherapie

Sakrale Neuromodulation

Bei diesem Verfahren werden in Lokalanästhesie über die Neuroforamina Nadelelektroden zur Erregung der Spinalnervenwurzeln auf Höhe S3 platziert und anschließend ein elektrischer Impulsgeber angeschlossen. Der elektrische Impuls erregt afferente und efferente Leitungsbahnen des quer gestreiften Sphinkters und Beckenbodens, nozizeptive Leitungsbahnen jedoch nur unterschwellig, was zu einer schmerzlosen reflektorischen Hemmung der Detrusoraktivität führt. Dieses Verfahren kann mit temporär platzierten Elektroden ambulant durchgeführt und vom Patienten über einen Zeitraum von bis zu 14 Tagen getestet werden. Die korrekte Lage der Elektroden wird dabei über das sensomotorische Feedback bei Erregung der Nerven überprüft (periphere Nervenevaluation): Der Patient sollte bei Stimulation ein perianales Kribbeln oder perianale Kontraktionen ohne motorische Antwort der unteren Extremitäten bemerken. Stellt sich in der Zeit der Testphase eine Besserung der Beschwerden von über 50 % ein, wird die permanente Elektrode implantiert.
Eine andere Möglichkeit stellt die operative Platzierung von potenziell permanenten Elektroden dar. Inkorrekte Platzierungen der Elektroden und Elektrodenmigration mit Fehlstimulationen sind bei dieser Methode seltener vorzufinden. Sollte sich der Patient nach der Testphase allerdings gegen eine sakrale Neuromodulation entscheiden, ist die erneute operative Entfernung der Elektroden vonnöten.
Langzeitresultate für dieses Verfahren fallen überwiegend positiv aus mit deutlicher Reduktion der Dranginkontinenz in knapp 70 % sowie des Dranggefühls und der Miktionsfrequenz in etwa 55 % der Fälle, jeweils nach 5 Jahren (Bartley et al. 2013).
Langzeitkomplikationen dieser Therapie sind z. B. ein Funktionsverlust der Stimulation, Fremdkörperinfektionen, schmerzhafte oder auch zu starke Stimulation mit Erregung der Beinmuskulatur. Dies führt zu Explantationen in bis zu 21 % und operativen Revisionen des Systems in bis zu 40 % der Patienten innerhalb von 5 Jahren (van Kerrebroeck et al. 2007).

Perkutane tibiale Nervenstimulation

Auf dem gleichen Prinzip wie die sakrale Neuromodulation fußt die perkutane tibiale Nervenstimulation (PTNS). Mittels Nadelelektrode wird der Nervus tibialis posterior aktiviert, welcher Leitungsbahnen aus den Segmenten L4 bis S3 führt, aus welchen auch die Blase innerviert wird. Die Nadel wird passager 3 Finger breit über dem medialen Malleolus 3 cm tief in der Haut platziert. Die Amplitude des elektrischen Pulsgebers wird so eingestellt, dass die Zehen leichte Motilität zeigen. Eine Sitzung beinhaltet einen Zeitraum von 30 min. Zwölf Sitzungen pro Woche zeigen die besten Ergebnisse. Diese Methode erzielt eine subjektiv signifikante Verbesserung der Symptomatik in 55–80 % der Fälle. Studien zeigen eine moderate Verbesserung der Symptome, bei monatlicher Anwendung, nach 24 Monaten bei 82 % und nach 36 Monaten bei 77 % der Patienten (Bartley et al. 2013). Nebenwirkungen sind selten und lokal beschränkt: leichte Blutungen, leichte Schmerzen und leichte Entzündungen der Haut.

Botulinumtoxin A

Botulinumtoxin A blockiert die Freisetzung von Acetylcholin aus den präsynaptischen Nervenenden und damit die Kontraktion der Muskulatur. Initial ins Bewusstsein der Öffentlichkeit getreten durch seinen Nutzen im Rahmen der Schönheitschirurgie ist dieses Medikament nun auch für die Behandlung der überaktiven Blase zugelassen.
Die Applikation erfolgt entweder in Lokalanästhesie oder in Vollnarkose. Das Botulinumtoxin wird in 10 ml Natrium-Chlorid-Lösung gegeben und es werden unter antibiotischer Prophylaxe 20 Injektionen von je 0,5 ml in der gesamten Blasenschleimhaut getätigt. Initiale Bedenken, dass Injektionen im Bereich des Trigonums zu erhöhten Raten von vesikoureteralem Reflux führen könnten, haben sich nicht bestätigt.
Es sollte mindestens eine Dosis von 100 U (Unit, im deutschen Sprachgebrauch auch AE = Allergan-Einheiten) Botulinumtoxin A genutzt werden. Niedrigere Dosen zeigen in Studien schlechtere Ergebnisse im Hinblick auf die Symptomreduktion. Eine Steigerung der Dosis zeigt nur noch minimale Verbesserungen der Symptomatik, jedoch steigt die Rate an Blasenentleerungsstörungen mit der Erhöhung der Dosis (8,9 % bei 50 U bis 25,5 % bei 300 U, Robinson et al. 2013).
Bis zu 61 % der Patienten erfahren subjektiv eine deutliche Besserung der gesamten Symptomatik und bis zu 23 % der Patienten erlangen durch die Therapie eine vollständige Kontinenz. Häufigste Nebenwirkung der Therapie ist eine erhöhte Rate an Harnweginfektionen von bis zu 33 %, eine Harnretention mit der Notwendigkeit eines intermittierenden Selbstkatheterismus ist mit bis zu 6 % eine eher seltene Komplikation.
14 Tage nach Therapie sollte eine Bestimmung der Rest-Harnmenge erfolgen. Liegt diese über 200 ml, sollte den Patienten ein intermittierender Selbstkatheterismus empfohlen werden. Die Wirkung der Injektion lässt mit der Zeit nach und hält zwischen 2 und 12 Monaten an.

Zusammenfassung

  • Ätiologie des Overactive-Bladder-Syndroms unklar (myogene und neurogene Entstehungstheorie).
  • Häufiges Krankheitsbild mit einer Prävalenz von 16–43 %.
  • Klinik: Pollakisurie, imperativer Harndrang, Dranginkontinenz, negativer Einfluss auf Lebensqualität, Arbeitskraft, sexuelle Zufriedenheit.
  • Ausschlussdiagnose.
  • Diagnostik: Anamnese (Trink-/Miktionsprotokoll) und körperliche Untersuchung (u. a. orientierend neurologisch), Sonografie, Urinstatus und Urinkultur, Hormonprofil, endoskopische Diagnostik mit Spülzytologie, ggf. radiologische Diagnostik.
  • Therapie:
  • medikamentös (Anticholinergika, β3-Rezeptor-Agonist),
  • perkutane tibiale Nervenstimulation,
Literatur
Andersson KE (2013) New developments in the management of overactive bladder: focus on mirabegron and onabotulinumtoxinA. Ther Clin Risk Manag 9:161–170CrossRef
Bartley JM et al (2013) Understanding clinic options for overactive bladder. Curr Urol Rep 14:541–548CrossRef
Chapple CR et al (2008) The effects of antimuscarinic treatments in overactive bladder: an update of a systematic review and meta-analysis. Eur Urol 54(3):543–562CrossRef
Chapple CR et al (2013) Mirabegron in overactive bladder: a review of efficacy, safety, and tolerability. Neurourol Urodyn 33(1):17–30. [Epub vor Druck]CrossRef
Gormley EA et al (2012) Diagnosis and treatment of overactive bladder (non-neurogenic) in adults: AUA/SUFU guideline. J Urol 188(6 Suppl):2455–2463CrossRef
Kerrebroeck PE van et al (2007) Results of sacral neuromodulation therapy for urinary voiding dysfunction: outcomes of a prospective, worldwide clinical study. J Urol 178(5):2029–2034
Milsom I et al (2001) How widespread are the symptoms of an overactive bladder and how are they managed? A population-based prevalence study. BJU Int 87(9):760–766CrossRef
Nitti VW et al (2013) Results of a randomized phase III trial of mirabegron in patients with overactive bladder. J Urol 189(4):1388–1395CrossRef
Robinson D et al (2013) The management of overactive bladder refractory to medical therapy. Maturitas 75(1):101–104CrossRef
Visco AG et al (2012) Anticholinergic therapy vs. onabotulinumtoxina for urgency urinary incontinence. N Engl J Med 367(19):1803–1813CrossRef