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Die Urologie
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Publiziert am: 20.07.2022

Physiologie der weiblichen Kontinenz und Miktion

Verfasst von: Carsten Frohme
Harnspeicherung und Blasenentleerung sind komplexe physiologische Funktionen. An der Steuerung von Speicher- und Entleerungsphase sind der autonome, also sympathische und parasympathische, der somatische und der afferente Bereich des Nervensystems beteiligt. Es können jeweils zentrale und periphere Komponenten unterschieden werden. Um die glatte Muskulatur der Blase sowie die glatte und quergestreifte Muskulatur im Bereich der Harnröhre zu steuern, ist die Koordination aller 3 efferenten Bereiche erforderlich. Hierbei sind Neurotransmitter auf allen Ebenen der nervalen Steuerung beteiligt. Komplexität und neurale Eigenständigkeit des unteren Harntrakts bieten ein weites Spektrum an Fehlfunktionen und Schädigungsmöglichkeiten, die zu unterschiedlichsten Formen von Blasenspeicher- und Entleerungsstörungen führen können.

Zentrale Steuerung

Die autonomen und somatischen Systeme werden durch höhere Ebenen des zentralen Nervensystems gesteuert und moduliert. Das Großhirn erlaubt die bewusste Kontrolle durch das in Lobus frontalis und Corpus callosum gelegene motorische zerebrokortikale Zentrum. Dieses ist für die willkürliche Detrusorsteuerung verantwortlich und steht in direkter Verbindung mit dem Thalamus. Vom pontinen Miktionszentrum zieht das motorische Neuron entlang der Seitenstränge des Rückenmarks im Tractus reticulospinalis zum sakralen Miktionszentrum (S2–S4). Dort wird der zerebral kontrollierte Befehl einer koordinierten Blasenkontraktion und Sphinkterrelaxation umgesetzt und über viszero- und somatomotorische Nervenfasern weitergeleitet. Über die afferenten Leitungsbahnen der Hinterstränge des Rückenmarks sowie über die nicht umgeschalteten Bahnen des Tractus spinothalamicus gelangen sowohl die exterozeptiven als auch die propriozeptiven Reize der Rezeptoren der Blasenwand zum Thalamus und informieren über Blasenfüllungsgefühl und Harndrang. Der mit der motorischen Großhirnrinde in direktem axonalen Kontakt stehende Thalamus initiiert den Detrusorreflex, der im pontinen Miktionszentrum weiter moduliert wird, bevor die Impulse an das sakrale Miktionszentrum weitergeleitet werden (Braun und Jünemann 2012).
Der Kortex ist für die hemmenden Einflüsse verantwortlich. Informationen über die quergestreifte Beckenbodenmuskulatur und den Harnröhrensphinkter steigen in den Hintersträngen des Rückenmarks zum Hirnstamm und Kleinhirn auf bzw. werden bereits auf sakraler Ebene umgeschaltet. Der Hirnstamm leitet diese Informationen über Axone an den Thalamus weiter, welcher mit der Area pudendalis kommuniziert. Von hier aus gelangen efferente, motorische Nervenfasern durch die innere Kapsel, die Hirnstammregion und über die Seitenstränge des Rückenmarks zu den Vorderhörnern des Sakralmarks (S2–S4) (Braun und Jünemann 2012).

Periphere Innervation

Die periphere Innervation des unteren Harntrakts läuft sowohl über viszerale als auch über somatische Nervenfasern (Abb. 1). Dabei führt der dem sakralen Miktionszentrum entspringende Plexus pelvicus parasympathische Fasern, während die sympathische Innervation über die dem thorakalen Grenzstrang aus Th10–L2 entstammenden Nn. hypogastrici erfolgt. Die somatischen Leitungsbahnen verlaufen sowohl über den N. pudendus aus den Segmenten S2–S4 als auch über separate somatomotorische Fasern aus S2 und S3 über den pelvinen Nervenplexus zum Zielorgan (Braun und Jünemann 2012).
Die präganglionären parasympathischen Nervenfasern entspringen dem sakralen Miktionszentrum und werden im Plexus pelvicus oder auch erst in der Blasenwand auf postganglionäre cholinerge Neurone umgeschaltet.
Detrusorkontraktion und Detrusorspannung sind parasympathisch kontrollierte Funktionszustände.
Die vom thorakalen Grenzstrang entspringenden sympathischen Nervenfasern gelangen über den N.hypogastricus an Blasenwand, Blasenhalsregion und proximale Harnröhre. Über β-adrenerge Rezeptoren in der Blasenwand wird eine Hemmung der Detrusoraktivität erreicht. Selektive α-adrenerge Rezeptoren stimulieren den Blasenhals, wodurch bei zunehmender Blasenfüllung einerseits eine Ruhigstellung des Detrusors, andererseits eine zunehmende Druckerhöhung im Bereich des Blasenhalses und der proximalen Harnröhre als Teil des Kontinenzmechanismus erreicht wird (Braun und Jünemann 2012).
Beckenbodenmuskulatur und Harnröhrensphinkter werden ebenfalls aus den Sakralsegmenten S2–S4 innerviert. Neben separaten somatomotorischen Fasern aus S2 und S3, die zum M. levator ani ziehen, wird die Beckenbodenmuskulatur einschließlich des M. transversus perineus über den N. pudendus innerviert.

Neurotransmitter und Rezeptoren

Die den unteren Harntrakt versorgenden Nervensysteme beeinflussen die Blasenfunktion über verschiedene Neurotransmitter (Acetylcholin, Noradrenalin, ATP [Adenosintriphosphat], Tab. 1). Diese wirken auf lokal unterschiedlich verteilte Rezeptoren (muskarinische und nikotinische Rezeptoren, α- und β-adrenerge Rezeptoren sowie purinerge Rezeptoren) und sind altersspezifischen Veränderungen unterworfen.
Tab. 1
Neurotransmitter und Rezeptoren der 3 den Harntrakt innervierenden Nervensysteme (aus Hampel und Thüroff 2012)
Nervensystem
Spinalsegmente
Neurotransmitter
Rezeptoren
Sympathisch (N. hypogastricus)
L1–L3
Acetylcholin (präganglionär) Noradrenalin (postganglionär)
Nikotinische Rezeptoren α 1a, α 1b, α 1d, β 2, β 3
Parasympathisch (N. pelvicus)
S2–S4
Acetylcholin, ATP
Muskarinische Rezeptoren (M2, M3), P2X, P2Y
Somatisch (N. pudendus)
S2–S4
Acetylcholin
Nikotinische Rezeptoren
ATP Adenosintriphosphat, P purinerger Rezeptor
Als Reaktion auf chemische oder Dehnungsreize schütten die Urothelzellen selbst auch Mediatoren wie ATP, NO, Neurokinin A, Acetylcholin oder NGF aus, die Einfluss auf die Erregbarkeit benachbarter Nerven haben. Hierdurch können die lokale Perfusion verändert oder Kontraktionen des Detrusors vermittelt werden (Birder und Groat 2007).

Muskarinische Rezeptoren

Muskarinische Rezeptoren gehören zur Gruppe der G-Protein-gekoppelten Zellmembranrezeptoren. Bisher wurden 5 verschiedene Subtypen (M1–M5) identifiziert. Alle 5 Isoformen sind sowohl biochemisch, als auch pharmakologisch klar unterschieden. Während die Signalpropagation bei den Isoformen M1, M3 und M5 über die membranständige Phospholipase C zur Freisetzung intrazellulärer Second-Messenger sowie zur Mobilisierung intrazellulären Kalziums führt, inhibiert die Aktivierung der Subtypen M2 und M4 die zytoplasmatische Adenylatzyklase mit konsekutiver Verknappung des cAMP-Angebots (cyclo-AMP, zyklisches Adenosinmonophosphat). Über eine zusätzliche Hemmung ATP-abhängiger Kaliumkanäle durch Aktivierung der Proteinkinase C wird bei Muskarinrezeptoren spekuliert (Hampel und Thüroff 2012).
Auf menschlichen Detrusorzellen wurden Muskarinrezeptoren vom Typ M2 (80 %) und M3 (20 %) nachgewiesen, von denen aber nur die M3-Isoformen für die Detrusorkontraktion unmittelbar verantwortlich sind. Die Aufgabe der M2-Subtypen liegt vermutlich in einer Verstärkung der M3-induzierten Detrusorkontraktion über die Hemmung inhibitorischer β-adrenerger Impulse (Adenylatzyklaseinhibition), Kaliumkanalblockade oder Aktivierung unspezifischer Kationenkanäle.

Purinerge Rezeptoren

Nichtcholinerge, nichtadrenerge Neurotransmitter wie beispielsweise VIP (vasoaktives intestinales Polypeptid), NPY (Neuropeptid Y) oder Substanz P als Mediatoren sind für die Beeinflussung von Detrusorkontraktion und -relaxation von Bedeutung. Analog zu anderen glattmuskulären Organen wird Stickoxid (NO), als relaxierendes bioaktives Molekül an der Muskelzelle des Detrusors, eine Schlüsselfunktion an der Harnblase zugesprochen.
Eine nichtcholinerge, nichtadrenerge Blasenkontraktion wird durch eine direkte Interaktion von ATP mit purinergen Detrusorrezeptoren hervorgerufen. Die ATP-gesteuerten purinergen Rezeptoren zerfallen in 2 Klassen: die Ionenkanalfamilie der P2X-Rezeptoren und die G-Protein-gekoppelte Rezeptorfamilie (G-Protein, Guaninnucleotid-bindendes Protein) der P2Y-Rezeptoren. Die purinerge kontraktile Wirkung am Detrusor erfolgt biphasisch: schnell einsetzend, aber von kurzer Dauer, vermittelt über die ATP-gesteuerten P2X-Kationenkanalrezeptoren, und verzögert einsetzend, aber prolongiert, vermittelt über die UTP-gesteuerten (UTP, Uridintriphosphat) G-Protein-gekoppelten P2Y-Rezeptoren (Hampel und Thüroff 2012).

Adrenerge Rezeptoren

Im menschlichen Harntrakt finden sich vorwiegend α 1 -, β 2 - und β 3 -Adrenozeptorsubtypen (Abb. 2). β 2- und β 3-Rezeptoren wirken relaxierend auf den Detrusor, während α 1-Rezeptoren am Blasenhals konstringierenden Einfluss ausüben. α- und β-Adrenozeptoren gehören zur Gruppe der G-Protein-gekoppelten Rezeptoren. Der α 1 -Adrenozeptor bewirkt, wie der muskarinische M 3-Rezeptor, die Freisetzung von Kalzium aus dem endoplasmatischen Retikulum und somit eine Kontraktion der glatten Muskulatur. Biochemisch lassen sich hierbei 3 α 1-Adrenozeptorklone (α 1a, α 1b und α 1d) differenzieren, die sich in ihrer Affinität gegenüber dem physiologischen Neurotransmitter Noradrenalin unterscheiden. Diese 3 Rezeptorsubtypen treten in unterschiedlicher relativer Verteilung in verschiedenen Organsystemen auf. Selbst innerhalb des Harntrakts existieren regionale Unterschiede (Hampel und Thüroff 2012; Hampel et al. 2004; Ouslander 2004).
Der Second-Messenger des aktivierten β 2/3 -Adrenozeptors ist cAMP (wie beim M2-Muskarinrezeptor), welches durch G-Protein-vermittelte Aktivierung der Adenylatzyklase entsteht (im Gegensatz zum M2-Muskarinrezeptor) und über eine Phosphorylierung der Myosin-Leichtketten-Kinase und Inhibition der Myosinkinase schließlich die Relaxation der glatten Detrusorzelle bewirkt.

Harnspeicherung

Mit zunehmender Blasenfüllung tritt eine Dehnung des Detrusor vesicae ein, die den volumenbedingten Druckanstieg kompensiert und den intravesikalen Druck bis zum Erreichen der maximalen Blasenfüllungskapazität geringfügig bis maximal 15 cmH 2O ansteigen lässt. Die Dehnbarkeit der Harnblase ist direkt abhängig von der Wandspannung des Detrusors bzw. dem intravesikalen Druck. In Abhängigkeit vom Füllungsvolumen wird diese als errechneter Blasendehnungskoeffizient (Compliance) angegeben: C = Volumenerhöhung pro Erhöhung des applizierten Füllungsdruckes. Dieser Vorgang vollzieht sich initial nahezu unbemerkt, da die afferenten Signale intraspinal oder zerebral unterdrückt werden. Ab einem Füllungsvolumen von etwa 150–250 ml wird ein erstes Harndranggefühl registriert, das mit Erreichen der Blasenkapazität zwischen 350 und 450 ml als starker Harndrang wahrgenommen wird. Über die zentrale Kontrolle des pontinen Miktionszentrums kann durch willkürliche Hemmung des Miktionsreflexes die Detrusorkontraktion so lang unterdrückt werden, bis die äußeren Umstände eine Blasenentleerung zulassen.
Während der gesamten Speicherphase bleibt der Blasenhals geschlossen und die Muskelaktivität des Sphinkters nimmt kontinuierlich zu. Sowohl willkürliche als auch unwillkürliche intraabdominelle oder intravesikale Druckerhöhungen werden reflektorisch mit einer Aktivitätszunahme der Sphinktermuskulatur beantwortet und über den Anstieg des intraurethralen Drucks kompensiert. Der Harnröhrenverschlussdruck liegt bei intaktem System stets über dem intravesikalen Druck und gewährleistet die Kontinenz unter Ruhe- sowie Belastungsbedingungen (Braun und Jünemann 2012).

Harnblasenentleerung

Die Miktion ist ein aktiver, willkürlich eingeleiteter Vorgang. Die zerebralen, inhibitorischen Impulse auf das pontine Miktionszentrum werden reduziert, wodurch der Miktionsreflex freigegeben wird. Eingeleitet wird die Miktion durch die Relaxation der quergestreiften Harnröhren- und Beckenbodenmuskulatur, die zu einer trichterförmigen Öffnung des Blasenhalses und einem begleitendem Abfall des Harnröhrenverschlussdrucks führt.
Die simultane Detrusorkontraktion bewirkt einen intravesikalen Druckanstieg, der den Blasenauslasswiderstand übersteigt und eine ungestörte Entleerung der Harnblase ermöglicht. Der reine Detrusorkontraktionsdruck liegt bei ungestörten Abflussverhältnissen bei ca. 40 cmH2O (weiblich).
Am Ende der Miktion kontrahieren Harnröhrensphinkter- und Beckenbodenmuskulatur, die Detrusorkontraktion endet und der Blasenauslass wird in seinen Ausgangszustand angehoben und verschlossen. Das ungestörte Zusammenspiel aus Harnröhrenrelaxation und Detrusorkontraktion resultiert in einer restharnfreien Blasenentleerung. Die willkürliche Unterbrechung der Miktion durch Kontraktion der quergestreiften Sphinktermuskulatur (Kneifen) bedingt eine initiale intravesikale Druckerhöhung mit nachfolgendem Druckabfall aufgrund der reflektorischen Beendigung der Detrusorkontraktion (Feedback) (Braun und Jünemann 2012).

Zusammenfassung

  • Hemmung der Miktion über supraspinale Zentren (kortikale Steuerung).
  • Aktivierung des pontinen Miktionszentrums mit zunehmender Harnblasenfüllung: Hemmung des spinalen Haltereflexes, Kontrolle der periphere Innervation.
  • Periphere Innervation der Harnblase:
    • Unterscheidung zwischen autonomen und somatischen Anteilen.
    • Parasympathische Neurone (S2–S4): ziehen über Vorderwurzeln zu organnahen Ganglien im Detrusor und Beckenplexus.
    • Präganglionäre Nervenfasern des Sympathikus: Umschaltung im Truncus sympathicus, ziehen dann über N. hypogastricus ins kleine Becken.
    • N. pudendus (Plexus sacralis): kontrolliert quergestreiften Harnblasensphinkter.
    • Afferente Nervenfasern des N. pudendus: messen über Dehnung des Urothels die Blasenfüllung und über die Wandspannung den Tonus des Detrusors.
  • Signalübertragung auf molekularer Ebene:
    • cholinerg (muskarinerge Subtypen M2 und M3),
    • adrenerg (α1, α2, β1, β2 und β3),
    • purinerg (P2X, P2Y),
  • Füllungsphase: Kontrolle durch
    • Kontraktion des somatisch innervierten, quergestreiften Schließmuskels,
    • Kontraktion des sympathisch innervierten, glattmuskulären Schließmuskels,
    • sympathische Inhibition der Detrusoraktivität.
  • Miktion: erfolgt durch
    • somatisch vermittelte Relaxation des quergestreiften Schließmuskels,
    • sympathisch vermittelte Relaxation des glattmuskulären Schließmuskels und Öffnen des Harnblasenhalses,
    • parasympathisch vermittelte Detrusorkontraktion.
Literatur
Birder LA, de Groat WC (2007) Mechanisms of disease: involvement of the urothelium in bladder dysfunction. Nat Clin Pract Urol 4:46–54CrossRef
Braun PM, Jünemann KP (2012) Anatomie, Physiologie und Innervation des Harntraktes. In: Schultz-Lampel D, Goepel M, Haferkamp A (Hrsg) Urodynamik. Springer-Verlag, Berlin/Heidelberg, S 11–16. CrossRefCrossRef
Hampel C, Thüroff JW (2012) Pharmakologie des Harntraktes. In: Schultz-Lampel D, Goepel M, Haferkamp A (Hrsg) Urodynamik. Springer, Berlin/Heidelberg, S 19
Hampel C, Gillitzer R, Pahernik S, Melchior SW, Thüroff JW (2004) Veränderungen des Rezeptorprofils der alternden Blase. Urologe 43:535–541. CrossRef PubMedCrossRef
Ouslander JG (2004) Management of overactive bladder. N Engl J Med 350(8):786–799. CrossRef PubMedCrossRef