Die Urologie
Info
Verfasst von:
Hermann J. Berberich
Publiziert am: 08.01.2022

Psychosomatische Aspekte bei Fertilitätsstörungen

Unerfüllter Kinderwunsch kann eine erhebliche psychosoziale Belastung bewirken. Diese kann mit psychosomatischen körperlichen Beschwerden und Schwierigkeiten im Berufsleben einhergehen. Bei zwei Dritteln der Kinderwunschpaare kommt es im Verlauf der Kinderwunschbehandlung zu einer Beeinträchtigung ihres Sexuallebens und ihrer partnerschaftlichen Beziehung.

Unerfüllter Kinderwunsch

In den letzten Jahrzehnten war ein deutlicher Trend zur späten Familiengründung zu beobachten. Immer mehr Frauen bekommen ihr erstes Kind im vierten Lebensjahrzehnt. 2018 waren die Mütter von 48 % der insgesamt 366 000 Erstgeborenen zwischen 30 und 39 Jahren alt. Bei 3 % der ersten Kinder war die Mutter älter als 39 Jahre. Das Durchschnittsalter der Frauen bei der ersten Geburt betrug 30 Jahre. Die endgültige Kinderlosigkeit stieg zwischen 2008 und 2018 von 17 % auf 21 %.
Frauen mit akademischem Bildungsabschluss (Bachelor, Master, Diplom, Promotion) sind besonders oft kinderlos. Allerdings sank die endgültige Kinderlosenquote bei den Akademikerinnen zwischen 2008 und 2018 von etwa 28 % auf 26 % (Statistisches Bundesamt 2019). Von der allgemeinen Kinderlosigkeit ist die ungewollte Kinderlosigkeit zu unterscheiden.
Von den Paaren mit Kinderwunsch sind 3–9 % ungewollt kinderlos. Vom unerfüllten Kinderwunsch kann man frühesten sprechen, wenn nach 1 Jahr gezieltem Geschlechtsverkehr zu keiner Schwangerschaft kommt. Bei einem Viertel der ungewollt kinderlosen Paare bleibt die Ursache der Kinderlosigkeit ungeklärt (Glander 2005).

Psychosoziale Belastung bei unerfülltem Kinderwunsch

Der unerfüllte Kinderwunsch kann bei den betroffenen Paaren eine erhebliche psychosoziale Belastung bewirken. Bleibt der Kinderwunsch unerfüllt, zeigen sie gegenüber einem Vergleichskollektiv deutlich mehr psychosomatische Beschwerden, größere Schwierigkeiten im Berufsleben und in der Partnerschaft (Schulz-Ruthenberg 1980).
Männer leiden unter der Situation der ungewollten Kinderlosigkeit genauso wie Frauen und zwar unabhängig davon, wer der Verursacher der Sub- bzw. Infertilität ist (Peronance et al. 2007).
Inwieweit psychische Einflüsse verantwortlich für eine Fertilitätsstörung sind, wird kontrovers diskutiert. Stauber vertritt die Ansicht, dass dies bei jeder 4. Patientin der Fall sei Das gehäufte Auftreten von psychosomatischen Symptomen wie Amenorrhö, Anovulation oder Follikelinsuffizienz seien ein Hinweis dafür (Stauber und Frick-Bruder 2003).
Frauen zeigten durchschnittlich eine erhöhte Depressivität und Ängstlichkeit sowie etwas mehr Körperbeschwerden. Insbesondere die Depressivität nahm mit der Dauer der Kinderwunschbehandlung zu. Dies dürfte vor allem auf die mit der Behandlung verbundene psychosoziale Belastung zurückzuführen sein (Werling et al. 2016).
Beim Mann würde ebenfalls psychosozialer Stress mit hohen Schwankungen der Spermiogrammparameter bzw. subfertilen Befunden korrelieren.
Der Anteil von psychopathologisch auffälligen Persönlichkeiten bei Paaren mit unerfülltem Kinderwunsch ist jedoch nicht höher als in der Allgemeinbevölkerung. Goldschmidt et al. (2008)
Eine psychogene Infertilität liegt insbesondere vor,
  • wenn ein Paar trotz Aufklärung durch den Arzt weiter ein die Fruchtbarkeit schädigendes Verhalten praktiziert (z. B. Ernährungsweise, Hochleistungssport, Genussmittel- bzw. Medikamentenmissbrauch, extrem beeinträchtigender beruflicher Stress),
  • wenn ein Paar keinen Geschlechtsverkehr an den fruchtbaren Tagen praktiziert bzw. eine nicht organisch bedingte sexuelle Funktionsstörung vorliegt,
  • wenn ein Paar eine aus medizinischer Sicht notwendige Kinderwunschtherapie zwar bewusst bejaht, diese aber – auch nach längerer Bedenkzeit – doch nicht beginnt (Strauß et al. 2004).

Folgen für das Sexualleben

Bei mehr als der Hälfte der Paare, die sich in reproduktionsmedizinischer Behandlung befinden, kommt es zu einer Veränderung ihres Sexuallebens. Zwei Drittel berichten über eine Verschlechterung, ein Drittel über eine zumindest anfängliche Intensivierung (Wischmann 2009b).
Bei einer Befragung von Patientinnen in Kinderwunschbehandlung empfanden diese das monatliche Warten auf das Behandlungsergebnis als am meisten belastend, direkt gefolgt von dem Verlust der sexuellen Spontaneität (Benyamini et al. 2005). Selbst bei der Spermiogrammerstellung kann es zu Problemen kommen. Saleh et al. (2003) berichten, dass 11 % der Männer nicht in der Lage waren, ein zweites Spermiogramm zu erstellen, nachdem bei dem ersten Spermiogramm ein eingeschränkter Befund erhoben wurde. Noch 10 Jahre nach erfolgter Kinderwunschbehandlung gaben 10 % der Frauen an, dass die Infertilität immer noch einen negativen Einfluss auf ihr Sexualleben hätte. Eine Sexualanamnese sollte unbedingt am Beginn als auch während einer reproduktionsmedizinischen Behandlung erhoben werden. Das Gleiche gilt auch für jede andrologische Untersuchung. Die Paare sollten bei der Aufklärung auch über die Möglichkeit informiert werden, dass es im Behandlungsverlauf zu einer Beeinträchtigung ihres Sexuallebens kommen kann, damit dieser rechtzeitig entgegengewirkt werden kann.

Psychosoziale Beratung

15–20 % aller Paare erleben die reproduktionsmedizinische Behandlung als so belastend, dass sie eine psychosoziale Beratung benötigen (Wischmann 2009a; Boivin und Kentenich 2002; Domar und Prince 2011). Einer der Ursachen dürfte einerseits die Überschätzung der Erfolgsraten und andererseits die Unterschätzung einer der mit einer reproduktionsmedizinischen Behandlung verbundenen physischen und psychischen Belastung sein (Domar et al. 2012). Bei der Mehrzahl der Paare endet die Behandlung ohne Erfüllung des Kinderwunsches. Im deutschen IVF-Register wird für das Jahr 2016 bei einem Frisch-Embryonentransfer eine Schwangerschaftsrate von 32,3 % und im Auftauzyklus mit 27 % angegeben. 73,2 % der Schwangerschaften führten zu einer Geburt. Dies entspricht einer Baby Take Home-Rate von 23,5 % und pro Behandlung von 20 %. Die Fehlgeburtenrate lag bei 20 %. Bei einer 35-jährigen Frau liegt die Schwangerschaftsrate pro Embryonentransfer bei 36 %, während sie bei einer 40-jährigen auf 25 % deutlich abfällt.
Die altersabhängige Reduktion zeigt sich insbesondere auch bei den Geburtenraten, die bei einer 35-jährigen Patientin bei 27 % liegen, bei einer 40-jährigen Patientin bei 15 % und bei einer 44-jährigen Patientin lediglich bei 3,2 % pro Embryotransfer (deutsches-ivf-register 2016).
In ihren aktuellen Richtlinien zur „Entnahme und Übertragung von menschlichen Keimzellen im Rahmen der assistierten Reproduktion“ fordert die Bundesärztekammer über folgende Punkte ausführlich aufzuklären bzw. zu beraten.
  • Abbau von Schuld- und Schamgefühlen (vor genauen
    Erläuterungen sollte sich der behandelnde Arzt
    auch einen Überblick über das vorhandene Wissen
    der Betroffenen über biologische Zusammenhänge
    verschaffen),
  • psychische Belastungen während der Therapie (der
    durch die medizinische Behandlung verursachte psychische
    Stress kann belastender erlebt werden als die
    medizinische Behandlung),
  • möglichen Einfluss psychosozialer Faktoren im Sinne
    einer verhaltensbedingten Fertilitätsstörung
    (bspw. gestörtes Essverhalten, Hochleistungssport,
    Genuss- und Arzneimittelmissbrauch, kein Geschlechtsverkehr
    an den fruchtbaren Tagen, nicht organisch
    bedingte sexuelle Funktionsstörung),
  • mögliche Auswirkungen auf die Paarbeziehung und
    auf die Sexualität,
  • mögliche Steigerung des Leidensdrucks der Kinderlosigkeit
    bei erfolgloser Behandlung (mögliche depressive
    Reaktion bei Misserfolg),
  • Entwicklung alternativer Perspektiven (bspw. Adoption,
    Pflegekind, Verzicht auf Therapie). (Montgomery et al. 2018)

Zusammenfassung

  • Unerfüllter Kinderwunsch kann eine erhebliche psychosoziale Belastung bewirken.
  • Kann mit psychosomatischen körperlichen Beschwerden und Schwierigkeiten im Berufsleben einhergehen.
  • Bei zwei Dritteln der Kinderwunschpaare im Verlauf der Kinderwunschbehandlung Beeinträchtigung des Sexuallebens und der partnerschaftlichen Beziehung.
Literatur
Benyamini Y, Hozlam M, Kokia E (2005) Variability in the difficulties experienced by women undergoing infertility treatments. Fertil Steril 83:275–283. PubMed CrossRef
Boivin J, Kentenich H (2002) ESHRE monogrpahs. Guidelines for counseling in infertility. Oxford University Press, Oxford
Bundesärztekammer (2018) Richtlinie zur Entnahme und Übertragung von menschlichen Keimzellen im Rahmen der assistierten Reproduktion, Deutsches Ärzteblatt | 11.05.2018 | https://​doi.​org/​10.​3238/​arztebl.​2018.​Rili_​assReproduktion_​2018
Domar A, Gordon K, Garcia-Velasco J, La Matca A, Barriere P, Beligotti F (2012) Understanding the perceptions of and emotional barriers to infertility treatment: a survey in four European Countries. Hum Reprod 27:1073–1079CrossRef
Domar AD, Prince LB (2011) Impact of psychological interventions on IVF outcome. SRM-Journal 9:26–32
Glander HJ (2005) Unerfüllter Kinderwunsch. In: Schill WB, Bretzel RG, Weidner W (Hrsg) Männermedizin. Urban & Fischer, München, S 171
Goldschmidt S, Strauss B, Brähler E, Kentenich H (2008) Psychosomatische orientierte Diagnostik und Therapie bei Fertilitätsstörungen. In: Wollman-Wohlleben V, Nagel-Brotzler A, Kentenich H, Siedentopf F (Hrsg) Psychosomatisches Kompendium der Frauenheilkunde und Geburtshilfe. Marseille, München, S 71–82
Montgomery, F. U., der Bundesärztekammer, B., Nieschlag, E., des Wissenschaftlichen, F., Krässel, J. S., & Hepp, H. (2018). zur Entnahme und Übertragung von menschlichen Keimzellen im Rahmen der assistierten Reproduktion. Deutsches årzteblatt.
Peronance LA, Boivin J, Schmidt L (2007) Patterns of suffering and social interactions in infertile men: 12 months after unsuccesful treartment. J Psychosom Obstet Gynecol 28(2):105–114CrossRef
Saleh RA, Ranga GM, Raina R, Nelson DR, Agarwal A (2003) Sexual dysfunction in men undergoing infertility evaluation: a cohort observational study. Fertil Steril 79:909–912. PubMed CrossRef
Schulz-Ruthenberg (1980) Untersuchung über die Auswirkung eines nichterfüllten Kinderwunsches. Inauguraldissertation, Berlin
Stauber M, Frick-Burger V (2003) Geburtshilfe und Gynäkologie. In: Adler RH, Hermann JM, Köhle K, Langewitz W, Schonecke OW, von Uexküll T, Wesiack W (Hrsg) Uexküll – Psychosomatische Medizin. Urban & Fischer, München, S 1078
Strauß B, Brähler E, Kentenich H (2004) Fertilitätsstörungen – Psychosomatisch orientierte Diagnostik und Therapie, Leitlinie und Quellentext (Leitlinien Psychosomatische Medizin und Psychotherapie). Schattauer, Stuttgart
Werling M, Jank A, Kentenich H, Wischmann T (2016) Psychosomatische Diagnostik und Therapie von Fertilitätsstörungen. In Berberich H & Siedentopf F (Hrsg) Psychosomatische Urologie und Gynäkologie. Ernst Reinhardt Verlag, Stuttgart, S 221–222
Wischmann T (2009a) Implikationen der psychosozialen Unterstützung bei Fertilitätsstörungen – einen kritische Bestandsaufnahme. Reproduktionsmed Endokrinol 6(5):214–222
Wischmann T (2009b) Sexualstörungen bei Paaren mit unerfülltem Kinderwunsch. Sexuologie 16(3–4):111–121