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Die Urologie
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Publiziert am: 29.03.2022

Psychosomatische urologische Störungsbilder

Verfasst von: Hermann J. Berberich
Zu den psychosomatischen Störungsbildern in der Urologie gehören die sog. somatoformen Störungen, die somatoformen Schmerzstörungen sowie die sexuellen Funktionsstörungen. Viele dieser Störungen gehen mit chronischen Verspannungen der Becken- und Abdominalmuskulatur einher. Diese muskulären Verspannungen werden von psychischen Affekten wie Wut, Ärger und Angst ausgelöst. Hierfür gibt es sowohl unmittelbare als auch tieferliegende Auslösemechanismen. Bei den psychosomatischen urologischen Störungen besteht eine hohe Komorbidität mit anderen psychosomatischen Krankheitsbildern. Zahlreichen psychosomatischen urologischen Funktions- und Schmerzstörungen insbesondere bei Frauen geht nicht selten ein sexueller Missbrauch voraus.

Einteilung

Bei zahlreichen urologischen Funktionsstörungen handelt es sich um sog. somatoforme Störungen des Urogenitalsystems (ICD-10: F45.34), gehen diese mit Schmerzen einher, um sog. somatoforme Schmerzstörungen (F45.40). Im ICD-10 handelt es hierbei um körperliche Beschwerden, die nicht ausreichend organisch erklärt werden können. Beim Vorliegen von somatischen Beschwerden erklären diese nicht die Art und das Ausmaß der Symptome, das Leiden und die innerliche Beteiligung des Patienten (ICD10-GM-Version 2013).
Im DSM 5, der aktuellen Ausgabe des Diagnostical and Statistical Manual of Mental Disorders der Amerikanische Gesellschaft für Psychiatrie (APA) werden die genannten Störungen als somatische Belastungsstörungen (F45.1) bezeichnet (DSM5 2015) und wie folgt beschrieben:
A.
Eines oder mehrere somatische Symptome, die belastend sind oder zu erheblichen Einschränkungen in der alltäglichen Lebensführung führen.
 
B.
Exzessive Gedanken, Gefühle oder Verhaltensweisen bezüglich der somatischen Symptome oder der damit einhergehenden Gesundheitssorgen, die sich in mindestens einem der folgenden Merkmale ausdrücken:
1.
Unangemessene und andauernde Gedanken bezüglich der Ernsthaftigkeit der vorliegenden Symptome.
 
2.
Anhaltend stark ausgeprägte Ängste in Bezug auf die Gesundheit oder die Symptome.
 
3.
Exzessiver Aufwand an Zeit und Energie, die für die Symptome oder Gesundheitssorgen aufgebracht werden.
 
 
C.
Obwohl keines der einzelnen somatischen Symptome durchgängig vorhanden sein muß, ist der Zustand der Symptombelastung persistierend (länger als 6 Monate)
 
Demnach ist es nicht mehr entscheidend, ob die Beschwerden organisch erklärt werden können oder nicht, sondern wie stark der Patient durch die Beschwerden psycho-sozial belastet ist und wie er mit ihnen umgeht.
In der aktuellen S3-Leitlinie „Funktionelle Köperbeschwerden“ (AWMF Reg.Nr. 051-001)wird u. a. empfohlen die dichotome Einteilung in psychogen vs. somatogen zu verlassen und von Anfang an eine „Sowohl-als-auch-Perspektive“ einzunehmen, in der systematisch sowohl auf somatische als auch auf psychosoziale Beschwerdeaspekte geachtet wird (Roenneberg et al. 2019).
Diese Perspektive entspricht auch eher dem bio-psycho-sozialen Modell von Krankheit und Gesundheit.
Ein Großteil der somatoformen urologischen Funktionsstörungen geht mit chronischen Muskelverspannungen im Unterbauch und Beckenbereich einher. Dies gilt für den chronischen Beckenschmerz bei Mann und Frau, für die Reizblasensymptomatik, für das Urethralsyndrom, für die psychogenen Miktionsstörungen, die psychogene Harninkontinenz sowie für die psychogene Harnverhaltung. Auch die rezidivierende Blasenentzündung kann Folge einer psychosomatisch bedingten funktionellen Blasenentleerungsstörung sein.

Pathogenese der chronischen Muskelverspannung

Affekte wie Wut, Ärger, Enttäuschung und insbesondere Angst erzeugen ein Gefühl der inneren Anspannung. Diese Anspannung wird auf die Körpermuskulatur übertragen. Mit der Zeit entwickelt sich eine chronische Muskelverspannung bis hin zur Ausbildung schmerzhafter Myogelosen. Bei der Anspannung der Beckenbodenmuskulatur handelt es sich wahrscheinlich um eine unwillkürliche Reaktion zum Schutz der Urogenitalregion, die auch durch eine vorausgegangene Erkrankung in dieser Körperregion ausgelöst werden kann.
Das ständige Festhalten der Muskeln kommt aus den unteren, dem Bewusstsein nicht zugänglichen Teilen des Gehirns. Im sensomotorischen Kortex, in dem wir bewusst bewegen und spüren können, gibt es hingegen eine sensomotorische Amnesie. Das Gehirn hat vergessen, wie sich die betroffenen Muskeln anfühlen und bewegen lassen. Während schmerzhafte Verspannungen der Rücken- oder Bauchmuskulatur einer körperlichen Untersuchung leicht zugänglich sind, bedarf es etwas Übung, um solche Verspannungen auch im Bereich der Beckenbodenmuskulatur zu ertasten.
Diese muskulären Verhärtungen werden auch Triggerpunkte (Trigger = Auslöser) genannt, da diese nicht nur lokal druckempfindlich sind, sondern auch verantwortlich für die Auslösung von myofaszialen Schmerzen in den sog. Referenzzonen gemacht werden. Die Triggerpunkte (englisch: „trigger points“) wurden erstmals von dem amerikanischen Arzt Dudley J. Morton in den 1920er-Jahren beschrieben. Weltweit bekannt wurden sie schließlich durch die Arbeiten von Travell und Simons. In ihrem mehrbändigen Manual Myofascial Pain and Dysfunction (Travell und Simons 1998) beschreiben sie Triggerpunkte im Bereich der gesamten Skelettmuskulatur. Die Arbeitsgruppe um Shah et al. (2008) konnte im Gewebe der Triggerpunkte einen erniedrigten PH-Wert und eine erhöhte Konzentration von Bradykinin, (BK) Substanz P, „calcitonin G-related peptide“ (CGRP), Tumornekrosefaktor α (TNF-α), Interleukin-1β (IL-1β), Interleukin-6 (IL-6), Serotonin (SE) und Norepinephrin (NE) feststellen, was für entzündliche Vorgänge innerhalb der Triggerpunkte und das sie unmittelbar umgebende Gewebe spricht. Welche Beschwerden eine dauerhaft angespannte Muskulatur verursachen kann, lässt sich leicht selbst nachvollziehen. Man muss nur einmal 30 min lang eine Faust ballen und danach spüren, wie sich die Hand und die Finger anfühlen.
Häufig treten mehrere der oben aufgeführten somatoformen urologischen Störungsbilder gemeinsam auf oder gehen ineinander über. Aus didaktischen Gründen werden sie jedoch nachfolgend im Einzelnen abgehandelt.

Chronischer Beckenschmerz des Mannes (CPPS)

Epidemiologie und Symptomatik

Das chronische Beckenschmerzsyndrom („chronic pelvic pain syndrome“, CPPS ) zählt zu den häufigsten urologischen Diagnosen bei Männern unter 50 Jahren. Im Rahmen einer repräsentativen Befragung bei 770 Männern mit dem Gießener Prostatitissymptomscore erfüllten 60 (7,8 %) die Kriterien für das Vorliegen eines chronischen Beckenschmerzsyndroms (Beutel und Brähler 2004). Bei der Mehrzahl der Männer geht dieses mit anderen Beschwerden wie Rücken-, Gelenk- und Gliederschmerzen einher. Am stärksten korreliert der chronische Beckenschmerz allerdings mit sexuellen Funktionsstörungen (Brähler et al. 2002). Testpsychologische Untersuchungen gaben Hinweise auf vorhandene psychische Komorbiditäten wie Angststörungen, insbesondere Hypochondrie, depressive Störungen und Persönlichkeitsstörungen (Keltikangas-Järvinen et al. 1981; de la Rosette et al. 1993). Allein diese hohe Korrelation legt nahe, dass es sich hier um ein komplexes psychosomatisches Krankheitsbild handelt (Tab. 1 und 2).
Tab. 1
Korrelation des chronischen Beckenschmerzes mit anderen psychosomatischen Beschwerden bei Männern (Brähler et al. 2002)
 
1
2
3
4
5
6
1. Erschöpfung
.60
.45
.32
.35
.35
.23
2. Gliederschmerzen
  
.45
.33
.34
.21
3. Ausscheidungsbeschwerden
   
.74
.58
.29
4. Unterleibsbeschwerden
    
–38
.21
5. CPPS
     
.51
6. Sexualstörungen
      
Tab. 2
Der chronische Beckenschmerz (CPPS) und sexuelle Funktionsstörungen (Beutel und Brähler 2004)
Sexuelle Funktionsstörungen
Mit CPPS
Ohne CPPS
42 %
13 %
Sexuelle Unerregbarkeit
26 %
<10 %
Ejaculatio praecox
22 %
<10 %
Ejaculatio praecox ohne Steifigkeit des Gliedes
22 %
<10 %
Anstrengendes Krankheitsbild
Viele Urologen tun sich bei der Behandlung von Patienten mit einem chronischen Beckenschmerz schwer. Häufig wird der psychosomatische Hintergrund der Beschwerden nicht erkannt und der Patient ungezielt mit Medikamenten erfolglos behandelt. So kommt es zu einem häufigen Arztwechsel durch den Patienten.
Eine Befragung von vertragsärztlichen Urologen in Hessen und Sachsen zur medizinischen Versorgung von Patienten mit chronischem Beckenschmerzsyndrom, die 2002–2004 von der Universität Leipzig mit Unterstützung des Arbeitskreises Psychosomatische Urologie und Sexualmedizin der Akademie der deutschen Urologen durchgeführt wurde, ergab u. a. folgendes Bild: Die CPSS-Patienten sind zwar eine kleine Patientengruppe (15–60 Patienten pro Quartal). Sie haben jedoch einen relativ hohen Beratungsbedarf von durchschnittlich 3 Konsultationen (1–10) pro Quartal. 75 % der Urologen halten nur die Hälfte der Patienten für behandelbar, 86 % berichten über Schwierigkeiten im Umgang mit diesen Patienten, 50 % sehen die Ursache hierfür im Verhalten der Patienten (z. B: „skeptische“, „ungeduldige“, „fordernde“ Patienten) (Clewing et al. 2004).
Eine irreführende Klassifikation
Eine der Ursachen für die häufigen Fehldiagnosen ist die Tatsache, dass der chronische Beckenschmerz nach wie vor in der Prostatitisklassifikation des National Institute of Health (NIH) aufgeführt wird, und zwar unter der Kategorie IIIb. In den Erläuterungen heißt es, dass diese Kategorie dadurch gekennzeichnet ist, dass keine erhöhte Leukozytenzahl im Prostataexprimat bzw. Ejakulat nachweisbar ist (Ludwig 2004). Somit ist die Einordnung dieses Schmerzsyndroms in eine „Prostatitisklassifikation“ diagnostisch nicht gerechtfertigt und führt häufig therapeutisch in die Irre (frustrane Behandlung mit Antibiotika), Hinzu kommt, dass eine leichtfertig ausgesprochene unbewiesene Prostatitisdiagnose, wie dies leider im urologischen Alltag häufig geschieht, völlig unnötigerweise bei den Patienten Ängste auslösen kann (Angst vor Prostatakrebs, Potenzverlust usw.). Dies soll natürlich nicht heißen, dass die Abklärung einer Prostatitis (Viergläserprobe usw.) bei diffusen Beckenschmerzen nicht zu fordern ist. In der alltäglichen Praxis wird diese, als aufwändig empfundene, Untersuchung meist unterlassen.
In der aktuellen Leitlinie der Europäischen Gesellschaft zum Chronische Beckenschmerz wurde dieser prostatozentrierte Blickwinkel völlig verlassen.
Stattdessen werden neuroplastische und neuropathische Faktoren beim Entstehen und der Aufrechterhaltung des chronischen Beckenschmerzes betont. Bezüglich der Diagnostik und Therapie empfiehlt sie einen ganzheitlichen Ansatz, der auch psychosoziale Faktoren in den Blick nimmt und sich am bio-psycho-sozialen Modell orientiert. (EAU-Guidelines, Chronic Pelvic Pain 2020)
Eine diffuse Symptomatik
Die Patienten mit chronischem Beckenschmerz klagen über eines oder mehrere der folgenden Symptome:
  • Druckgefühl im Damm
  • Ziehende Beschwerden in den Leisten, die zum Teil in die Hoden ausstrahlen
  • Vermehrter Harndrang, mitunter erschwerte, verlangsamte Blasenentleerung
  • Brennen in der distalen Harnröhre
  • Nachträufeln von Harn
  • Druckgefühl oder Brennen hinter dem Schambein
  • Spannungsgefühl in der Dorsolumbal- sowie in der Sakralregion
Nach Engel (1959) lässt sich bereits aus der Symptombeschreibung ableiten, ob ein Schmerz eher somatischer oder eher psychogener Genese ist. Eine organische Schmerzgenese ist dann wahrscheinlich, wenn die Schmerzbeschreibung einfach und klar erfolgt oder mit den anatomischen Gegebenheiten übereinstimmt. Je bildhafter, plastischer und insgesamt vager der Schmerz dargestellt wird und je mehr er sich von organischen Gegebenheiten entfernt, desto eher ist eine psychogene Ursache zu vermuten. Setzt man bei den CPPS-Patienten einen objektiven Schmerzreiz, zeigen diese ein deutlich stärkeres Schmerzempfinden als gesunde Kontrollpatienten (Yang et al. 2003). Es darf vermutet werden, dass hierfür Veränderungen im sog. Schmerzgedächtnis verantwortlich sind.
Das bei psychosozialem Stress vermehrt ausgeschiedene Neuropeptid Substanz P steigert zudem die Sensitivität der Schmerzneurone im Rückenmark.

Diagnostik

Bei der Diagnostik des chronischen Beckenschmerzes sollten die in den folgenden Übersichten aufgeführten Untersuchungen erfolgen:
Schmerzanamnese
  • Zeitliches Auftreten der Beschwerden
  • Qualität
  • Intensität
  • Lokalisation und eventuelle Ausstrahlung
  • Zusammenhang mit anderen Beschwerden
  • Umstände, unter denen die Beschwerden auftreten
  • Umstände, unter denen sich die Beschwerden intensivieren oder abmildern
Wie bei anderen chronischen Schmerzen ist außerdem die Führung eines Schmerztagebuchs durch den Patienten ratsam.
Urologische Untersuchungen
  • Ausführliche körperliche Untersuchung
  • Suche nach Triggerpunkten, insbesondere im Bereich der Adduktoren, dem symphysären Ansatz der Recti abdomini und der Beckenbodenmuskulatur bei der digitalen rektalen Untersuchung
  • Urologische Sonografie einschließlich transrektaler Sonografie der Prostata
  • Uroflowmetrie einschließlich sonografischer Restharnbestimmung, IPSS (International Prostate Symptom Score)
  • 4-Gläser-Probe, Chlamydien, Mykoplasmen, Ureaplasmen, Pilze, TBC, Ejakulatkultur, prostataspezifisches Antigen (PSA)
  • Evtl. proktologische Untersuchung

Differenzialdiagnostik

Des Weiteren sind folgende Ursachen bei unklaren Beckenbeschwerden des Mannes differenzialdiagnostisch auszuschließen:

Therapie

Psychoedukation
Bereits die Vermittlung der psychophysiologischen Zusammenhänge (Angst-Spannungs-Zyklus) für die Entstehung einer Beckenbodenmyalgie kann für die Patienten eine entlastende Funktion haben und führt zu einer besseren Akzeptanz der Behandlungsvorschläge.
Entspannungsverfahren
Eine direkte Kompressionsbehandlung der Triggerpunkte wie sie z. B. von David Wise und Rodney U Anderson (2010) empfohlen wird, kann nur eine Art Erste-Hilfe-Maßnahme sein, der weiterführende Behandlungen unter Einbeziehung des Patienten selbst folgen müssen. Von einem großen Teil der Patienten wurden als Folge eines überzogenen Pflicht- und Leistungsdenkens über lange Zeit positive Ausgleichsaktivitäten vernachlässigt. Deshalb spielen bei der Behandlung der CPPS Entspannungsverfahren eine wichtige Rolle (Egle und Zentgraf 2014).
Progressive Muskelentspannung
Da insbesondere Männer aufgrund ihrer Sozialisation handlungsorientiert sind, ist die Progressive Muskelentspannung (PME) besonders gut geeignet. Die progressive Muskelentspannung ist das am besten evaluierte Entspannungsverfahren (Grawe et al. 2001)
Ihre Wirkung erklärt sich aus der neurobiologischen Überlappung zwischen Schmerz- und Stressverarbeitungssystem. Mit Hilfe der PME können Gefühle von Ruhe, Wärme, Wohlbefinden und Gelassenheit induziert werden. Das damit einhergehende Erleben der Selbststeuerung stärkt internale Kontrollüberzeugungen und schafft bessere Voraussetzungen für eine aktive Schmerzbewältigung (Egle und Zentgraf 2014). Es erfolgt eine neuronale Umsteuerung auf hypothalamischer Ebene, wodurch es zu einer Aktivierung des Parasympathikus und zu einer Dämpfung des Sympathikus kommt (Egle und Zentgraf 2014).
Sie kann vom Patienten in wenigen Stunden erlernt und fast an jedem Ort (man benötigt dafür nur einen Stuhl) selbst durchgeführt werden. Damit die Entspannungsreaktion gebahnt und stabilisiert wird, ist unbedingt regelmäßiges Üben erforderlich.
Biofeedback
Eine weitere Behandlungsmöglichkeit ist das sog. Biofeedback-Training mithilfe eines Beckenbodensummations-EMG. Biofeedback ist eine wissenschaftlich fundierte Therapiemethode, bei der physiologische Signale, z. B. die Muskelspannung, an die Patienten visuell oder akustisch zurückgemeldet werden. Unbewusste bzw. unwillkürliche Körperprozesse werden hierdurch wahrnehmbar gemacht und können in eine günstige Richtung verändert werden. Biofeedback ist vor allem bei Patienten zu empfehlen, die sich ihren körperlichen Symptomen ausgeliefert fühlen bzw. von diesen regelrecht beherrscht werden. Die Patienten lernen, ihre körperlichen Vorgänge bis zu einem gewissen Grad zu kontrollieren, was schließlich zu einer Stärkung der Selbstwirksamkeitsüberzeugung führt (Mück-Weymann und Einsle 2005). Eine ausführliche Beschreibung über den Einsatz von Biofeedback bei CPPS findet sich bei Merkle (2003). Bei Patienten, die einer psychotherapeutischen Behandlung eher skeptisch oder ablehnend gegenüberstehen, können diese beiden Behandlungsmethoden den Einstieg erleichtern.
Fallbeispiel
Ein junger Chemieingenieur berichtet, dass er seit ca.1 Jahr unter starken Schmerzen im linken Hoden leide. Diese seien bei seinem ersten Auslandseinsatz, den er für seine Firma durchführen sollte, aufgetreten. Er habe den Einsatz abbrechen müssen, da er sich in diesem Land, dessen Sprache er nicht spreche, medizinisch völlig unterversorgt vorkam. Die Ärzte dort hätten ihm lediglich zur Beruhigung Diazepam injizieren wollen. Den Heimflug habe er nur unter starkem Alkoholkonsum überstanden. Zuhause habe weder der untersuchende Urologe noch der Neurologe einen krankhaften Befund erheben können. Auch in der „Prostatitis-Sprechstunde“ einer Universitätsklinik habe man nichts gefunden. Danach hätten sich die Beschwerden kurzfristig gebessert. Bei einem Besuch bei seiner Mutter in Süddeutschland habe er erneut starke Schmerzen gehabt, weshalb er eine nahegelegene urologische Klinik aufsuchte. Dort sei er eine Woche lang intravenös hoch dosiert antibiotisch behandelt worden, da man aufgrund eines MRT eine Nebenhodenentzündung diagnostiziert habe. (Anm.: Laut Klinikunterlagen waren die Entzündungsparameter [CRP] zum Zeitpunkt der stationären Aufnahme im Normbereich!). Offenbar war die Klinik sich ihrer Diagnose jedoch nicht sicher. Sie empfahl dem Patienten, sich in nervenärztliche Behandlung zu begeben, sollten sich die Beschwerden in 4–6 Wochen nicht bessern. Er habe sich schließlich in schmerztherapeutische Behandlung begeben, wo man ihm Oxycodon und Pregabalin verordnete.
Vorgeschichte: Als Kind hatte der Patient eine Hodentorsion links, mit 15 Jahren wurde bei ihm eine Varicozelenoperation vorgenommen. Beide Eingriffe habe er als sehr belastend empfunden. Im Alter von 10 Jahren habe er das erste Mal mitbekommen, dass sich seine Eltern sehr stark stritten. Er habe große Angst gehabt, dass sie sich trennen, was diese, als er 16 Jahre alt war, schließlich auch taten. Danach habe er bis zum Ende des Studiums bei seiner Mutter gelebt. Nach dem Studium habe er eine Stelle bei einem großen Chemieunternehmen im Rhein-Main-Gebiet gefunden. Er sei das erste Mal von zu Hause weg und auf sich allein gestellt gewesen. Seit dem Arbeitsantritt leide er unter starken Schlafstörungen. Im Schnitt könne er nur 4 Stunden schlafen. Er sei dann morgens völlig kaputt und habe große Konzentrationsprobleme bei der Arbeit. Er arbeite täglich ca. 10 Stunden und habe immer Angst, die Arbeit nicht zu schaffen. Seinen Chef empfinde er als ziemlich streng. Soziale Kontakte habe er kaum. Zu einer Frau habe er noch nie eine sexuelle Beziehung gehabt. Er sei sexuell durchaus auf Frauen ausgerichtet und besitze viele Pornofilme aus dem Internet, die er bei der Masturbation zu Hilfe nehme. Die ziehenden Schmerzen in der Leistenregion seien am Wochenende besser, Montags auf dem Weg zur Arbeit seien sie besonders stark.
Verlauf: Bei der körperlichen Untersuchung ließ sich ein hoher Analsphinktertonus sowie eine schmerzhaft verspannte Beckenbodenmuskulatur tasten. Schließlich konnte sich der Patient entschließen, sich in psychotherapeutische Behandlung zu begeben. Im Verlauf der Therapie war er in der Lage, sich mehr und mehr von seiner Mutter zu lösen. Wie er später erzählte, habe ihn seine Mutter mehrmals in der Woche angerufen, um ihn von der Psychotherapie abzubringen und ihm immer neue „Spezialisten“ zu nennen, von denen sie gehört habe. Schließlich habe er sich die Einmischung verbeten und den telefonischen Kontakt zu seiner Mutter gemieden. Es gelang ihm, über das Internet Verbindung zu einer Frau aufzunehmen. Anfängliche Erektionsstörungen, die auf Versagensängste zurückzuführen waren, wurden in der Therapie ausführlich besprochen und verschwanden nach wenigen Wochen. Schließlich berichtete er über ein regelmäßiges und zufriedenstellendes Sexualleben. Um mehr Zeit für seine Partnerin zu haben, reduzierte er deutlich seine Wochenstundenzahl, ohne dass es in dieser Zeit zu Beschwerden wegen unerledigter Arbeiten kam. Er wurde in dieser Zeit auf Vorschlag seines Chefs sogar befördert. Der Patient konnte nur allmählich den Zusammenhang zwischen seinen unbewältigten Konflikten und seinen körperlichen Beschwerden akzeptieren. Im Verlauf der Therapie erlernte er die progressive Muskelrelaxation, die er anfänglich unregelmäßig, später jedoch regelmäßig praktizierte. Die Schmerzmedikation konnte bereits nach kurzer Zeit abgesetzt werden. Gegen Ende der Therapie waren die Unterbauchbeschwerden völlig verschwunden. Es kam jedoch zu einer leichten Symptomverschiebung. Er klagte nun häufiger über Kopfschmerzen. Kopfschmerzen habe er schon früher während des Studiums vor Klausuren gehabt. Schließlich waren auch diese rückläufig. Zwei Jahre nach Beendigung der Therapie meldete sich der Patient erneut, weil er bei einem neuen Auslandseinsatz wieder Unterbauchschmerzen verspürte. Diese waren allerdings in der Zeit bis zum vereinbarten Termin schon wieder verschwunden.
Kommentar: Das Fallbeispiel zeigt die Komplexität des Beschwerdebildes einer CPPS und wie diese aus unterschiedlichen Quellen gespeist wird:
  • frühere operative Eingriffe in der Urogenitalregion, zuletzt während der Pubertät, die als belastend erlebt wurden, dadurch Ausbildung eines „locus minoris resistentiae“,
  • Anpassungsstörungen an das Berufsleben nach Beendigung des Studiums mit der Entwicklung von Versagensängsten,
  • mangelhafte Ablösung von der Mutter und soziale Vereinsamung und die daraus resultierenden Schwierigkeiten, eine sexuelle Beziehung einzugehen.
Das Fallbeispiel zeigt ferner, dass es keine Wundermedikation oder Therapie zur Beseitigung der CPPS-Beschwerden gibt, sondern dass es eines therapeutischen Konzepts bedarf, das den ganzen Menschen als biopsychosoziales Wesen wahrnimmt.

Chronische Unterbauchschmerzen der Frau

Der chronische Unterbauchschmerz der Frau ist charakterisiert durch eineDauer von mindestens 6 Monaten. Er kann zyklisch, intermittierend-situativoder nicht zyklisch auftreten. Die Lebensqualität kann beeinträchtigt sein.Biologische und psychosoziale Faktoren spielen in Prädisposition, Auslösungund Chronifizierung eine Rolle. Die Gewichtung der einzelnen Faktoren istindividuell vorzunehmen. (AWMF Reg. Nr. 016/001) Der Chronische Unterbauchschmerz kann das Leitsymptom zahlreicher Erkrankungen sein, wie zum Beispiel die Endometriose, der Morbus Chron, die Colitis ulcerosa, die Divertikulose des Darms, die interstitielle Zystitis, die Fibromyalgie, um nur einige zu nennen.
Man schätzt, dass bei 60 bis 80 % der Patientinnen die Kriterien einer somatoformen Schmerzstörung erfüllt sind (Greimel 1999; Ehler et al. 1999) Weltweit liegen nur wenige Prävalenzstudien vor. Die einzige bisher in Deutschland durchgeführte Prävalenzstudie zum chronischen Unterbauchschmerz ermittelte eine altersassoziierte Häufigkeit von 12 % mit häufigerem Auftreten bei jüngeren Patientinnen (Beutel et al. 2005).
Zahlreiche gynäkologische operative Eingriffe werden wegen chronischen Unterbauchschmerzen durchgeführt, ohne dass ein organpathologischer Befund erhoben werden kann. So konnten Mahmood et al. (1991) bei 559 Frauen, die sich einer Laparoskopie unterzogen, keinerlei pathologische Organveränderungen feststellen (Mahmood et al. 1991).
Auf etwa zwei Drittel der Patientinnen mit chronischem Unterbauchschmerz treffen die Diagnosekriterien der somatoformen Schmerzstörung zu (Siedentopf 2008). Einige suchen auch die urologische Praxis in der Annahme auf, die Beschwerden könnten von einer Erkrankung der Blase herrühren. In der Regel kann bei einer Blasenspiegelung kein pathologischer Befund erhoben werden. Auch bei diesem Krankheitsbild dürfte es sich um Folgen einer chronischen Verspannung der Beckenbodenmuskulatur handeln, die durch Affekte wie Wut, Ärger, Enttäuschung oder Angst auslöst werden. Richter (1998) fand bei Patientinnen mit Unterbauchschmerzen folgende Konfliktbereiche:
  • konflikthafte Partnerbeziehung (68,5 %),
  • andauernde Überforderungssituation (27,1),
  • Trennungs- oder Verlustsituation (7,4 %).
Andere Untersuchungsergebnisse weisen auf eine erhöhte Inzidenz von sexuellem Missbrauch bzw. kindlichen Gewalterfahrungen bei den betroffenen Frauen hin (Campbell 2002). Seitens der psychosomatischen Frauenheilkunde wird ein multidisziplinäres Behandlungskonzept, das somatische, psychotherapeutische und physiotherapeutische Konzepte beinhaltet, empfohlen (Siedentopf 2008).

Urethralsyndrom

Beim Urethralsyndrom der Frau handelt sich um anfallsartige Schmerzen in Projektion auf den Harnröhrenausgang, die nicht durch einen urologischen Körperbefund erklärt werden können. Für die plötzlichen Schmerzanfälle werden ebenfalls dauerhaft verspannte Muskeln, insbesondere der M. bulbospongiosus verantwortlich gemacht. Für die gelegentlich gleichzeitigen Unterbauchschmerzen ist meistens eine schmerzhafte Spannung des M. rectus abdominis verantwortlich (Günthert 2013).

Reizblasensymptomatik

Charakteristisch für die Reizblase ist ein ständiger Harndrang ohne erklärbare organische Ursache. Dieser geht zum Teil mit Schmerzen in der Blasen- und Leistenregion einher. Der Nachtschlaf ist in der Regel ungestört. Auch hier spielen affektbedingte muskuläre Verspannungen und die damit einhergehende intraabdominale Druckerhöhung eine entscheidende Rolle. Mitunter verbirgt sich hinter der Reizblasensymptomatik eine Agoraphobie, zum Teil dient sie einer sexuellen Abwehr.
Fallbeispiel
Eine schlanke, schlicht gekleidete Frau, Mitte 50, stellt sich nach zahlreichen ärztlichen Konsultationen, auf den Rat ihres behandelnden Urologen hin, vor. Sie ist extra 70 km mit dem Zug angereist. Sie leidet seit mehr als 5 Jahren unter ständigem Harndrang ohne Urinabgang. Bisherige medikamentöse Behandlungsversuche hätten keine Wirkung gezeigt. Bei der Anamnese berichtet sie, dass sie auch Schmerzen beim Geschlechtsverkehr habe. Ihr Mann leide jedoch an Erektionsstörungen, weshalb sie seit längerer Zeit keinen Sex mehr hätten. Bei der körperlichen Untersuchung tastet man einen brettharten Unterbauch. Die Patientin hatte viele Jahre lang ihre Mutter bei sich zuhause gepflegt. Früher habe sie Zimmer in ihrem Haus an Kurgäste vermietet. Seitdem die Mutter bei ihnen sei, ginge das nicht mehr. Ihre Mutter sei immer sehr bestimmend gewesen. Als Mädchen und junge Frau habe sie zu Hause auf dem Bauernhof gearbeitet und deshalb keine richtige Berufsausbildung gemacht. Ihre jüngere Schwester hingegen sei von zu Hause weg, um in der Stadt eine Ausbildung zu absolvieren. Kurz nach der Heirat habe sie gleich ein Kind bekommen und sei deshalb zu Hause geblieben. In den letzten Jahren sei ihr die Pflege ihrer inkontinenten Mutter immer schwerer gefallen. Ständig habe die Mutter nach ihr gerufen, ihr Zimmer habe schon von weitem nach Urin gerochen, sie habe sich jedes Mal geekelt, wenn sie es betreten habe. Es stellt sich heraus, dass in dieser Zeit erstmals ihre Harndrangsymptomatik auftrat. Schließlich seien die Beschwerden so stark geworden, dass sie ihre Mutter ins Pflegeheim geben musste. Diese habe nur widerwillig zugestimmt und bestehe darauf, dass sie wieder nach Hause zurück dürfe, sobald es ihrer Tochter besser gehe. Sie besuche ihre Mutter täglich und diese frage sie täglich, wann sie denn wieder nach Hause dürfe. Wenn sie mal einen Tag nicht komme, frage sie gleich, wo sie gewesen sei. Sie würde so gerne mit ihrem Mann wenigstens für ein paar Tage wegfahren. Sie traue sich nicht, das unbenutzte Zimmer der Mutter in ihrem Haus, das dringend renoviert werden müsste, zu verändern.
Verlauf: Im Verlauf der Psychotherapie kann sich die Patientin schließlich zu der unheimlichen Wut auf ihre Mutter bekennen. Sie beginnt plötzlich, sich farbig zu kleiden, und nutzt die Fahrten nach Frankfurt, um sich vor oder nach den Therapiesitzungen regelmäßig mit einer alten Freundin zu treffen. Sie senkt allmählich die Besuchsfrequenz bei ihrer Mutter und besucht einen Patchwork-Kurs. Schließlich entschließt sie sich, das Zimmer der Mutter zu renovieren, um dort eine kleine Schneiderwerkstatt für die Anfertigung ihrer Patchwork-Arbeiten einzurichten, die sie auf Märkten in der Region zum Verkauf anbietet. Unterstützt durch das Erlernen der progressiven Muskelentspannung verliert sie im Verlauf der Therapie ihre Reizblasensymptomatik.
Kommentar: Die Reizblasensymptomatik der Patientin ist einerseits körperlicher Ausdruck der unterdrückten Wut gegenüber der Mutter, anderseits stellt sie aus tiefenpsychologischer Sicht eine Art Identifikation mit dem Aggressor, der inkontinenten Mutter, dar. Die Beschwerden dienen darüber hinaus der Rechtfertigung vor sich selbst und anderen, die Mutter in Pflege gegeben zu haben. In dem Maß, wie es der Patienten gelingt, sich im Schutz der Psychotherapie von ihrer Mutter zu lösen und zunehmend ihre eigenen Interessen wahrzunehmen, verlieren die Beschwerden ihre Funktion und gehen allmählich zurück.

Angstpolyurie

Eine andere psychosomatische Funktionsstörung mit konsekutivem plötzlichen Harndrang ist die sog. Angstpolyurie, bei der in kurzer Zeit größere Mengen unkonzentrierter Urin von den Nieren ausgeschieden wird. Die damit verbundene rasche Dehnung der Blasenwand bewirkt eine Impulsverstärkung der Dehnungssensoren an das Gehirn. Hierdurch wird der Harndrang wahrgenommen, bevor die normale Blasenkapazität erreicht ist. Der pathophysiologische Mechanismus dieser passageren Funktionsstörung der tubulären Rückresorption und Ausscheidung von größeren Mengen Primärharn ist noch weitgehend ungeklärt.

Psychogene Harninkontinenz

Hierbei handelt es sich um den unwillkürlichen, nicht kontrollierbaren Abgang meist kleiner Urinmengen. Auch hier scheinen ebenfalls Affekte, vor allem Ängste, verantwortlich zu sein, und sei es nur die Angst vor einem Urinverlust.
Günthert geht davon aus, dass es aufgrund einer erhöhten Dauerspannung der Beckenbodenmuskulatur zu einem erhöhten Druckaufbau zwischen Detrusor und Sphinkter und schließlich zu unwillkürlichem Urinabgang kommt, ohne dass die Blase vollständig entleert wird (Günthert 2013).
Fallbeispiel (Dr. Neubauer, Göttingen)
Eine 19-jährige Patientin wird von ihrem Vater vorgestellt, um „diese widerliche, ekelhafte, schmutzige Harninkontinenz“ beseitigen zu lassen. Die 19-jährige, extrem verschüchterte Patientin ist mit einer großen Plastikwindel versehen. Sie ist ungepflegt und stinkt nach Urin. Während der Untersuchungssituation fällt eine extreme Verkrampfung und Verspannung auf, eine normale Untersuchung ist praktisch nicht möglich. In einem langwierigen vorsichtigen, langsam Vertrauen aufbauenden Prozess kommt die Lebens- und Leidensgeschichte der Patientin zu Tage: Seit vielen Jahren wurde sie vom Vater regelmäßig sexuell missbraucht. Ihre Harninkontinenz bzw. die Windeln sind für sie die einzige Möglichkeit, sich zu schützen, unattraktiv zu machen, um damit den sexuellen Übergriffen ihres Vaters zu entgehen.

Kindliche Enuresis

Die Kontrolle der Ausscheidungsfunktionen ist die erste soziale Leistung, die von uns gefordert wird. Meistens werden enuretische Kinder in der urologischen Praxis zu einem Zeitpunkt vorgestellt, an dem von ihnen eine Kontrolle der Blase erwartet wird, z. B. bei der Einschulung, Klassenfahrt etc. Bei vielen Kindern mit einer primären Enuresis liegt lediglich eine Entwicklungsverzögerung vor, die bis auf wenige Ausnahmen maximal bis zum Beginn der Pubertät dauert. Bei einer sekundären Enuresis nach einer bereits längeren trockenen Periode kommen vor allem psychosoziale Faktoren in Betracht. Meistens sind es innerfamiliäre Konflikte oder Konflikte im nahen Umfeld (Kindergarten, Schule), die dann mit dem Kind entsprechend bearbeitet werden sollten. Die Enuresis kann nicht nur Ausdruck einer allgemeinen Regression des Kindes sein, sie findet sich auch bei Kindern mit schwereren psychischen Erkrankungen, z. B. einer Angsterkrankung. Die Wahl der Behandlungsmethode richtet sich nach der jeweiligen Ursache der Enuresis. Hierbei können Medikamente eine unterstützende Funktion haben.

Psychogener Harnverhalt

Der psychogene Harnverhalt ist die Extremform einer psychosomatisch bedingten Sphinkter-Detrusor-Diskoordination und der damit verbundenen funktionellen Blasenentleerungsstörung, die ebenfalls auf eine chronische Verspannung der Beckenbodenmuskulatur zurückzuführen ist. In manchen Extremfällen kommt es sogar zur Ausbildung einer Blasenwandhypertrophie mit Balkenblase. Ein anatomisches Abflusshindernis liegt allerdings nicht vor. Letzteres erklärt auch die Erfolglosigkeit zahlreicher weiblicher Urethrotomien.
Fallbeispiel
Eine 39-jährige Patientin stellte sich wegen einer ausgeprägten Reizblasensymptomatik in der Praxis vor. Bei der Erhebung der Anamnese berichtete sie, dass sie diese Beschwerden phasenweise seit ihrem 15. Lebensjahr habe. Sie habe immer Angst, den Urin nicht halten zu können. Begonnen habe das Ganze nach einer schweren Scheidenentzündung, die mit Antibiotika und Scheidenspülungen behandelt wurde. Medikamentöse Behandlungen mit verschiedenen Anticholinergika seien alle erfolglos gewesen. Mit 17 Jahren habe ein Urologe bei ihr eine Harnröhrenschlitzung vorgenommen. Mit 22 Jahren sei es schließlich zu einem kompletten Harnverhalt gekommen. Man habe ihr deshalb einen suprapubischen Katheter (SPK) gelegt, diesen habe sie insgesamt 9 Monate getragen. In dieser Zeit habe sie mit ihrem damaligen Freund auf Sex verzichten müssen. Schließlich habe der SPK wegen eines schweren Harnwegsinfekts gezogen werden müssen. Danach habe sich zunächst eine völlig normale Miktion eingestellt. Sie sei schon mehrfach wegen ihrer Beschwerden, die zeitweise mit starken Depressionen und Suizidphantasien einhergingen, in psychotherapeutischer Behandlung gewesen. Die Therapeuten hätten stets einen Missbrauch durch den Onkel oder den Vater vermutet. Sie könne sich aber absolut an nichts erinnern. Sie habe aber Angst, dass so etwas bei der Therapie herauskäme, und fürchte die familiären Folgen. Die Patientin ist inzwischen verheiratet. Wegen eines schlechten Spermiogrammbefunds ihres Ehemanns überlege sie sich, ob sie sich in eine Kinderwunschbehandlung begeben solle. Sie fürchte jedoch, dass sie zurzeit einem Kind nicht gewachsen sei. Nach dem Geschlechtsverkehr habe sie tagelang starke Beschwerden, weshalb sie oft monatelang keinen Sex hätten. Ferner hat die Patientin ein starkes Kontrollbedürfnis. Beim Verlassen des Hauses kontrolliere sie oft mehrfach, ob alle elektrischen Geräte ausgeschaltet seien, mitunter drehe sie unterwegs mit dem Auto nochmals um, wenn sie sich dessen plötzlich nicht sicher sei. Auch während der therapeutischen Sitzungen versuchte sie, die Situation zu kontrollieren. Bevor sie auf eine Frage antwortete, wollte sie zunächst mehrmals wissen, warum diese Frage gestellt werde.
Verlauf: Da die Patientin zu diesem Zeitpunkt nicht bereit war, sich erneut in psychotherapeutische Behandlung zu begeben, schlug ich ihr vor, zunächst die progressive Muskelentspannung zu erlernen, um diese für sich im Alltag zu nutzen, was sie auch gerne tat.
Kommentar: Es spricht alles dafür, dass die Patientin die starke Scheidenentzündung und die damit verbundene Behandlung zum Zeitpunkt ihrer Pubertät als traumatisierend erlebt hat. Die hierdurch ausgelösten Ängste haben zu einer chronischen Verspannung der Becken- und Unterbauchmuskulatur und zur Entwicklung eines Angst-Spannungs-Zyklus geführt. Die Urethrotomie im Alter von 17 Jahren und die Anlage und das monatelange Tragen eines SPK mit 22 Jahren sind als weitere Traumata anzusehen. Ob alldem ein sexueller Missbrauch durch einen männlichen Angehörigen vorausging, lässt sich zurzeit nicht klären. Der starke Widerstand der Patientin legt allerdings den Verdacht nahe. Der Harnverhalt steht gewissermaßen stellvertretend für die Angst der Patientin, dass etwas herauskommen könnte, was nicht herauskommen darf. Es wäre ein therapeutischer Fehler, diesen Widerstand unbedingt brechen zu wollen, was nicht bedeutet, dass an ihm nicht mit aller gebotenen Vorsicht gearbeitet werden sollte. Hierzu fehlt aber zurzeit der therapeutische Auftrag seitens der Patientin. Es bleibt abzuwarten, ob sie diesen zu einem späteren Zeitpunkt noch erteilt.

Rezidivneigung der Urozystitis

Rezidivierende Blasenentzündungen sind eine der häufigsten Erkrankungen, mit der sich Patientinnen in einer urologischen Praxis vorstellen. Es erhebt sich die Frage, welche Rolle hierbei psychosoziale Faktoren spielen können. Die durch Stress verursachte Erhöhung von Kortisol- und Katecholaminwerten wirken sich sowohl auf die angeborene als auch erworbene Immunabwehr aus. Einerseits hemmen sie die Produktion der proinflammatorischen Zytokine und T-Helferzellen (TH), andererseits stimulieren sie die Produktion von TH2-Zytokinen. Wenn es somit unter Stress zu einer exzessiven Immunstimulierung kommt, können die Stresshormone die Immunantwort dämpfen und eine Veränderung des TH1-TH2-Gleichgewichts bewirken. Letzteres hat ein erhöhtes Infektrisiko zur Folge (Schubert 2011).
Es ist anzunehmen, dass dieser Mechanismus auch das Immunabwehrsystem der Blasenschleimhaut beeinträchtigt, sodass die aus dem Darm stammenden, an der Vaginalschleimhaut anhaftenden uropathogenen Bakterien in die Blase vordringen können. Hinzu kommen zum Teil stressbedingte Hormonschwankungen mit einer konsekutiven Störung des Scheidenmilieus sowie ein mangelhaftes Trinkverhalten, das eine unzureichende Ausspülung der aszendierenden Bakterien bewirkt. Durch eine psychotherapeutische Verbesserung des Stressmanagements der Patientinnen lassen sich nachweislich die Stresshormone senken und die Immunabwehr verbessern (Gaab et al. 2003). Zur medikamentösen Behandlung rezidivierender Blasenentzündungen Kap. „Blasen- und Harnröhreninfektionen“.

Interstitielle Zystitis

Die Interstitielle Zystitis (IC) läßt sich vom Chronischen Beckenschmerzsyndrom (CPPS) bereits anamnestisch unterscheiden. Während bei der IC aufgrund des geschädigten Urothels die nächtliche Miktionsfrequenz fast ebenso stark erhöht ist wie am Tage, ist dies bei der CPPS nicht der Fall.Nach wie vor ist die Pathogenese der interstitiellen Zystitis weitgehend ungeklärt. Das Krankheitsbild wird ausführlich in Kap. „Blasen- und Harnröhreninfektionen“ behandelt. Wir möchten jedoch aus psychosomatischer Sicht einige ergänzende Anmerkungen machen. Trotz der zahlreichen Publikationen zur interstitiellen Zystitis (IC) gibt es nur wenige Untersuchungen, die sich mit den psychosomatischen Aspekten befassen. Die meisten Arbeiten hierzu behandeln die Krankheitsbewältigung (Coping) und die Lebensqualität der Patienten. Demnach ist die psychosoziale Belastung der Patienten enorm. Die Lebensqualität ist durch die Schmerzen und den ständigen Harndrang erheblich eingeschränkt, normale Alltagsfunktionen können kaum oder nur schwer erfüllt werden. Die Folge ist eine erhöhte depressive Belastung. Eine Untersuchung der Urologischen Universitätsklinik Frankfurt (Oemler 2004) zum Einfluss psychosozialer Faktoren auf das Krankheitsgeschehen der interstitiellen Zystitis ergab bei IC-Patienten u. a. eine erhöhte Inzidenz wichtiger Kindheitsbelastungsfaktoren, wie schlechte emotionale Bindung an die Eltern, chronische Erkrankung eines Elternteils und körperliche Misshandlung. Andere Autoren (Peters et al. 2007) fanden bei IC-Patienten eine erhöhte Rate (49 %) von sexuellem Missbrauch und häuslicher Gewalt in der Vorgeschichte. Chronischer Stress und Ängste, wie sie sicherlich von einem Klima häuslicher Gewalt erzeugt werden, gehen mit einer erhöhten Ausscheidung des Neurotransmitters Substanz P einher. Die Substanz P und ihre Metaboliten spielen eine Rolle sowohl bei der Schmerzübertragung als auch bei der Steuerung von Entzündungsprozessen. Sie bewirken u. a. eine Vasodilation und eine Steigerung der Gefäßpermeabilität. Ein Überschuss an Substanz P wird u. a. als Ursache für die Fibromyalgie und die Colitis ulcerosa (Tavano et al. 2012) diskutiert. Bisherige Untersuchungen ergaben allerdings keinen Hinweis auf erhöhte Spiegel der Substanz P im Urin von IC-Patienten (Campbell et al. 2001). Hier sind sicherlich weitere Untersuchungen nötig. Psychotherapeutische Behandlungsmethoden wie das Erlernen eines Entspannungsverfahrens, Hypno- oder Körpertherapie können zur Beschwerdelinderung beitragen.

Zusammenfassung

  • Zu den psychosomatischen Störungsbildern in der Urologie gehören die somatoformen Störungen, die somatoformen Schmerzstörungen sowie die sexuellen Funktionsstörungen.
  • Gehen häufig mit chronischen Verspannungen der Becken- und Abdominalmuskulatur einher, ausgelöst von psychischen Affekten wie Wut, Ärger und Angst, durch sowohl unmittelbare als auch tieferliegende Auslösemechanismen.
  • Hohe Komorbidität mit anderen psychosomatischen Krankheitsbildern.
  • Insbesondere bei Frauen geht psychosomatischen urologischen Funktions- und Schmerzstörungen nicht selten ein sexueller Missbrauch voraus.
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