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Die Urologie
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Publiziert am: 07.01.2023

Rehabilitation nach urogenitalen Infektionen

Verfasst von: Winfried Vahlensieck und Dirk-Henrik Zermann
Häufige Rezidive und schwere Verläufe von Urogenitalinfektionen stellen gravierende gesundheitliche Probleme dar. Neben der Therapie in der Akutmedizin kann man durch die fachspezifische stationäre urologische Rehabilitation die Rezidivrate senken und persistierende Beschwerden beseitigen oder lindern. Besonders für die stationäre Rehabilitation geeignete Formen von Urogenitalinfektionen sind rezidivierende Pyelonephritiden und Zystitiden sowie die chronische Prostatitis. Eine Anschlussheilbehandlung direkt im Anschluss an die Therapie im Akutkrankenhaus sollten Patienten nach schweren klinischen Verläufen, wie z. B. der fokalen Pyelonephritis oder der Urosepsis erhalten. Das multimodale Therapiekonzept zielt dabei insbesondere auf eine Verringerung chronischer Schmerzen, eine Immunstimulation, den allgemeinen körperlichen Aufbau, Verhaltensänderung durch Beratung und eine psychologische Betreuung.

Allgemeines

Harnwegsinfektionen (HWI) stellen mit einer Inzidenz von ca. 5 % eine Volkskrankheit mit einer ähnlichen Häufigkeit wie Diabetes mellitus und Hypertonus dar. Bei Frauen treten häufige Rezidive mit mehr als 3 Episoden pro Jahr bei ca. 1 % der Gesamtbevölkerung auf, was in Deutschland etwa 400.000 Patientinnen entspricht. Männer, die insgesamt eine um den Faktor 10 geringere HWI-Inzidenz haben, weisen etwa zu 10 % häufige Rezidive auf, so dass auch mit 20.000 Männern mit häufig rezidivierenden Harnwegsinfektionen zu rechnen ist (Vahlensieck und Schander 1986; Übersicht bei Vahlensieck 1999).

Indikationen zur Rehabilitation

Besonders für die stationäre Rehabilitation geeignete Formen von Urogenitalinfektionen sind rezidivierende Pyelonephritiden und Zystitiden mit mehr als 3 Episoden pro Jahr und die chronische Prostatitis. Eine Anschlussheilbehandlung direkt im Anschluss an die Therapie im Akutkrankenhaus sollten Patienten nach schweren klinischen Verlaufsformen der Pyelonephritis, wie z. B. der fokalen Pyelonephritis und nach entweder spontan oder sekundär durch operative Eingriffe entstandener Urosepsis erhalten.

Diagnostik

Eine auf die Rehabilitation von Urogenitalinfektionen spezialisierte Rehabilitationsklinik sollte differenzierte diagnostische Verfahren der urologischen Infektiologie, wie z. B. 2-Gläser-Probe, Essigsäure-Probe zur Diagnostik humaner Papillomviren (HPV), den modifizierten Kalium-Chlorid-Test nach Riedl zum Ausschluss einer interstitiellen Zystitis, Messung des vaginalen pH-Wertes, Tesafilm-Perianalabstriche zum Ausschluss von Oxyuren als Urethritis-Ursache sowie den gezielten Nachweis von Gonokokken, Chlamydien, Mykoplasmen, Ureaplasmen, Pilzen und Trichomonaden und weiterer klassischer Geschlechtserkrankungen beherrschen. Relevante Störungen der Harnspeicherung und -entleerung als potenzielle Kausalfaktoren rezidivierender Urogenitalinfektionen müssen während der Rehabilitation durch diagnostische Maßnahmen wie Miktionsprotokoll, Uroflowmetrie mit Restharnmessung, Sonografie, Urethrozystoskopie und Urodynamik auszuschließen sein.

Therapie

Folgende Ziele der Rehabilitation von Harnwegsinfektionen lassen sich definieren:
Rehabilitationsziele
1.
Verringerung der chronischen Morbidität mit laufend akut wiederkehrenden Schmerzen der Patienten, sexuellen Problemen, häufigen Arztbesuchen und Krankschreibungen
 
2.
Vermeidung von Infektharnsteinen
 
3.
Verringerung der infektionsbedingten terminalen Niereninsuffizienz und Dialyse
 
4.
Vermeidung von Urosepsis und Tod durch Urogenitalinfektionen
 
5.
Vermeidung oder Verringerung chronischer Schmerzen im Bereich der ableitenden Harnwege und männlichen Adnexorgane
 
6.
Verbesserung der körpereigenen Immunabwehr und Verringerung der Rezidivrate
 
7.
Wiederherstellung eines guten Allgemein und Trainingszustandes.
 
Die Ziele der Rehabilitation von Harnwegsinfektionen können neben der medikamentösen Prophylaxe durch folgende Anwendungen und Maßnahmen erreicht werden (Vahlensieck et al. 1994, 2014; Vahlensieck 1999):
1.
Verringerung chronischer Schmerzen:
  • Diadynamischer Strom
  • Interferenzstrom
  • TENS (transkutane elektrische Nervenstimulation)
  • Iontophorese
  • Heublumenbäder
  • Wärmepackungen des Unterleibs
  • Physiotherapie
  • Beckenbodentraining mit besonderer Betonung der Entspannung
  • Analgetikaeinstellung
  • Harnblaseninstillationen
  • Psychologische Einzelgespräche zur Schmerzverarbeitung
  • Psychologische Schmerzgruppe
 
2.
Immunstimulation:
  • Trinkkur
  • Kohlensäurewannenbäder
  • Wärmepackungen von Schulter und Nacken
  • Bewegungstherapie (siehe die unter 3. dargestellten Maßnahmen)
  • Wechselgüsse (warm/kalt) der Beine und Wassertreten
  • Mit pflanzlichen Lektinen angereicherte und in ihrem Gehalt an tierischen Fetten reduzierte Kost
 
3.
Allgemeiner körperlicher Aufbau:
  • Physiotherapie: Einzelkrankengymnastik, Muskelaufschulung, Rückenschule in der Gruppe, großes Bewegungsbad
  • Gerätetraining
  • Ergometertraining (halbliegend bei Beckenschmerzen)
  • Schwimmen
  • Wassertreten (ohne Auskühlen)
  • Spazierengehen, Walking, Nordic-Walking, Qui Gong
 
4.
Verhaltensänderungen durch Beratung/Schulungen:
  • Beratung über persönliche Verhaltensweisen
  • Beratung über die Möglichkeiten der medikamentösen und sonstigen Rezidivprophylaxe
  • Erlernen der progressiven Muskelrelaxationsübungen nach Jacobson
  • Raucherentwöhnung
 
5.
Psychologische Betreuung
  • Einzelgespräche insbesondere nach septischem Durchgangssyndrom und bei chronischen Schmerzen
 

Ergebnisqualität

Durch eine stationäre Rehabilitation mit Trinkkur, Kohlensäurebädern, Wärmepackungen und Bewegungstherapie konnten Kramer et al. 1990 einen Rückgang des Medians bei rezidivierenden Harnwegsinfektionen von 3 auf 1 pro Jahr erreichen. 47 % der Patienten blieb über 1 Jahr rezidivfrei. Interessanterweise war der immunstimulierende Effekt während der Rehabilitation an einer signifikanten Zunahme der T-Helfer-Zellen, einer Normalisierung des Helfer-Suppressor Quotienten und einer Steigerung der Phagozytoseaktivität im Nitroblau-Tetrazolium-Test insbesondere bei Patienten mit niedrigen Werten zu Beginn ablesbar. Es zeigt sich ein signifikanter Rückgang der Immunglobuline der Klasse M, ein signifikanter Anstieg der Immunglobuline der Klasse G bei niedrigen Ausgangswerten und eine Abnahme des Komplement-Faktors C3 (Gilsdorf et al. 1988; Kramer et al. 1990).
Die stationäre Rehabilitation und Anschlussheilbehandlung bei Patienten mit rezidivierenden oder komplizierten Urogenitalinfektionen ist in fachlich kompetenten Händen eine effektive und auch ökonomische Maßnahme zur langfristigen Rehabilitation der betroffenen Patienten. Außerdem wird von den Patienten die in der Regel deutlich verbesserte Lebensqualität besonders betont. Aus diesen Gründen sollte die Rehabilitation bei Urogenitalinfektionen unter fachurologischer Betreuung im vermehrten Umfang eingesetzt werden.

Sozialmedizinische Beurteilung

Positives Leistungsbild
Bei beschwerdefreien Patienten ist der körperliche Einsatz uneingeschränkt vollschichtig möglich, eine Einschränkung der Gehstrecke besteht nicht.
Negatives Leistungsbild
Einzelfallabhängig sind die Notwendigkeit zur regelmäßigen Flüssigkeitsaufnahme (ca. 2–2,5 l/Tag) und zum Aufsuchen einer Toilette außerhalb betriebsüblicher Pausen sowie das Vermeiden von ungünstigen Witterungsexpositionen (keine Kälte-Nässe-Exposition ohne adäquate Schutzkleidung) zu berücksichtigen.
Persistierende Schmerzen und eine Niereninsuffizienz sind entsprechend zu bewerten (Fritscha 2011; Vahlensieck et al. 2011).

Zusammenfassung

  • Indikationen der Rehabilitation bei Urogenitalinfektionen sind häufige Rezidive von Pyelonephritis und Zystitis sowie die chronische Prostatitis oder ein Zustand nach schweren klinischen Verläufen (z. B. bei fokaler Pyelonephritis oder Urosepsis).
  • Die wichtigsten Therapieziele des multimodalen Therapiekonzepts sind: Verringerung chronischer Schmerzen, Immunstimulation, allgemeiner körperlicher Aufbau, Verhaltensänderung durch Beratung und psychologische Betreuung.
Literatur
Fritscha E (2011) 17 Krankheiten der Niere. In: Verband Deutscher Rentenversicherungsträger (Hrsg) Sozialmedizinische Begutachtung für die gesetzliche Rentenversicherung, 7. Ak. Aufl. Springer, Berlin/Heidelberg/New York, S 391–410
Gilsdorf K, Gutenbrunner C, Hildebrandt G, Schultheis HM (1988) Veränderungen immunologischer Kennwerte während einer komplexen Kurbehandlung bei Patienten mit chronisch-rezidiverenden Harnwegsinfekten. Z Phys Med Baln Med Klim 17:328
Kramer A, Gutenbrunner C, Schultheis HM (1990) Untersuchungen über die Häufigkeit von Harnwegsinfektrezidiven vor und nach urologischen Kuren. Z Phys Med Baln Med Klim 19:314–319
Vahlensieck W (1999) Prophylaxemaßnahmen bei rezidivierenden Harnwegsinfektionen. In: Hofstetter A (Hrsg) Urogenitale Infektionen. Springer, Berlin/Heidelberg/New York, S 215–239CrossRef
Vahlensieck W, Schander K (1986) Vergleich der Häufigkeit und Ursachen von Miktionsstörungen bei chirurgischen und streßinkontinenten Patientinnen. Z Urol Nephrol 79:189–195
Vahlensieck W, Bichler KH, Münch L, Naber KG, Hubmann R, Hofstetter AG, Weidner W (1994) Allgemeine Prophylaxemaßnahmen bei geschlechtsaktiven Patientinnen mit rezidivierenden Zystitiden. Urologe [B] 34:219–221
Vahlensieck W, Sawal O, Hoffmann H (2011) 18 Urologische Erkrankungen. In: Verband Deutscher Rentenversicherungsträger (Hrsg) Sozialmedizinische Begutachtung für die gesetzliche Rentenversicherung, 7. Ak. Aufl. Springer, Berlin/Heidelberg/New York, S 411–429
Vahlensieck W, Bauer H-W, Piechota HJ, Ludwig M, Wagenlehner F (2014) Prophylaxe rezidivierender Harnwegsinfektionen (rHWI). Urologe 53(10):1468–1475CrossRef