Ein Schwerpunkt der Infektionsforschung befasst sich mit der grundsätzlichen Fragestellung, worauf die Virulenz eines pathogenen Erregers basiert. Virulenz bezeichnet allgemein ein Maß für die Pathogenität von Mikroorganismen. Als besonders geeignet für die Beantwortung der Frage hat sich als Modellorganismus die Spezies
Escherichia coli (
E. coli) erwiesen. Gerade bei
Harnwegsinfektionen stellen uropathogene
E. coli (UPEC) die wohl hochspezialisiertesten und erfolgreichsten Uropathogene
dar, die in bis zu 80 % der unkomplizierten Fälle und bei 65 % der komplizierten Harnwegsinfektionen isoliert werden (Flores-Mireles et al.
2015; Foxman
2010). Dieser augenscheinliche Vorteil lässt sich auf ein umfangreiches Repertoire an Virulenz-und Fitnessfaktoren zurückführen, die UPEC zu einem derart erfolgreichen Erreger im Harntrakt aufsteigen ließen. Der direkte genomische Vergleich zwischen pathogenen und apathogenen
E. coli ließ auf ein Kern-Genom von ca. 2000 Genen schließen (entsprechend dem in allen Isolaten konservierten Genpool), wobei das korrigierte Pan-Genom (allen in
E. coli identifizierten Genen entsprechend) etwa das Fünffache betrug. Die durchschnittliche Anzahl an Genen im
E. coli Genom beläuft sich auf 4721 (Brzuszkiewicz et al.
2006). Als eine entscheidende Erkenntnis im Hinblick auf pathogene Erreger stellte sich heraus, dass die Plastizität des Genoms hier als der Schlüssel des Erfolges angesehen werden sollte. Durch flexiblen Gewinn und Verlust von genetischer Information ist es den Uropathogenen stets möglich, sich aus einer Vielzahl von Optionen optimal an ein spezielles Habitat anzupassen. Demnach verfügen UPEC über ein hocheffizientes Armamentarium aus Adhäsinen, Invasinen,
Toxinen, immunmodulierende Faktoren, Autotransporter, Biofilmbildung, Eisenaufnahmesysteme, Sekretionssysteme, Flagellenapparat für die Mobilität und Varianten von Lipopolysacchariden (Johnson
1991; Kaper et al.
2004; Subashchandrabose und Mobley
2015).
Die formale Pathogenese der Harnwegsinfektion besteht grundsätzlich in einer aszendierenden Infektion durch UPEC, die natürlicher Bestandteil der intestinalen Mikrobiota
sind. Interessanterweise sind einige UPEC-typische Adhäsionsstrukturen bekannt (Typ-1 Pili, F17-like Pili), die den Bestand im Darmtrakt sichern. Vor allem bei Frauen, die an rezidivierenden
Harnwegsinfektionen leiden, wurde eine besonders starke Expression dieser Adhäsionsstrukturen in den Isolaten festgestellt (Spaulding et al.
2017; Russell et al.
2018; Sarkar et al.
2018). Sobald die Erreger in die Urethra gelangen, beginnt ein hochdifferenzierter Infektionsprozess, der anhand neuester Erkenntnisse nicht mit einem einmaligen, selbstlimitierenden und rein extrazellulären Vorgang vereinbar ist, sondern vielmehr ein komplex reguliertes Szenario darstellt, das Invasionsmechanismen und intrazelluläre Lebenszyklen beinhaltet (Anderson et al.
2003; Berry et al.
2009; Bishop et al.
2007; Doye et al.
2002; Duncan et al.
2004; Eto et al.
2007; Martinez und Hultgren
2002; Mulvey et al.
2001). Im Harntrakt angekommen gilt es, an den Oberflächenstrukturen des Urothels Halt zu finden. UPEC verfügt dazu über mehr als 12 unterschiedliche Adhäsionssysteme, um vielseitig die Bindung an das Urothel herzustellen (Flores-Mireles et al.
2015; Wurpel et al.
2013). Eine herausragende Rolle spielen die sogenannten Typ-1 Pili, welche Mannoseverbindungen der Uroplakine und α
3β1-Integrine des Urothels binden (Eto et al.
2007; Hannan et al.
2012). Darüber hinaus sind sie beteiligt an Internalisierungsprozessen, Bildung von intrazellulären Reservoiren, Biofilmbildung und der Interaktion mit dem angeborenen Immunsystem (Flores-Mireles et al.
2015; Hannan et al.
2012; Mossman et al.
2008). Diese erste Interaktion wird umgehend vom angeborenen Immunsystem detektiert, das erste Gegenmaßnahmen einleitet (z. B. Rekrutierung von neutrophilen Granulozyten). Neben der extrazellulären Auseinandersetzung mit Abwehrmechanismen des Harntraktes suchen UPEC Zuflucht in intrazellulären Kompartimenten des Urothels. Durch Manipulation der intrazellulären Homöostase gelingt es ihnen intrazelluläre Kolonien in einem Biofilm-ähnlich geschützten Zustand („
intracellular bacterial communities“) auszubilden. Dort durchlaufen UPEC einen ungestörten Reifungsprozess, können sich replizieren und organisieren sich für den nächsten Angriff. Dabei verteilen sie sich zum einen im Lumen der Harnblase, was eine erneute akute Infektion auslöst, zum anderen gelangen sie in tiefere Schichten des Urothels, wo sie sich in kleineren Ansammlungen verschanzen und eine Art „
Winterschlaf“ halten („
quiescent intracellular reservoirs“). Im Rahmen der fortschreitenden Differenzierung und Desquamation des Urothels wandern diese bakteriellen Nester im weiteren Verlauf nach luminal. Sobald die Deckzellschicht erreicht ist, werden diese schlafenden UPEC reaktiviert und ein erneuter Infektionszyklus beginnt. Die Wirtsreaktion auf eine bakterielle Infektion im Harntrakt umfasst die Exfoliation des Urothels, den Spüleffekt durch vermehrten Urinfluss, Mechanismen der angeborenen und erworbenen Immunität, die Rekrutierung von Phagozyten (z. B. Neutrophile,
Monozyten,
Dendritische Zellen) und die Sekretion von körpereigenen antimikrobiellen Substanzen (z. B. Tamm-Horsfall Protein,
Defensine). Extrazelluläre Pathogene werden damit effektiv eliminiert, allerdings entkommen Erreger wie UPEC durch ihre z. T. intrazelluläre urotheliale Verkapselung diesen Abwehrstrategien des Harntraktes. Dieser intrazelluläre Lebenszyklus der UPEC erklärt nicht nur die Protektion vor antimikrobiellen Abwehrmechanismen und die ausbleibende Detektion durch das Immunsystem, sondern auch die dadurch unzureichende Wirksamkeit einer antibiotischen Therapie, die zu Therapieversagen und rezidivierenden Harnwegsinfektionen führen kann. In ersten klinischen Untersuchungen wurden im
Mittelstrahlurin von Frauen mit akuter unkomplizierter Zystitis durch UPEC in 22 % diese sogenannten „
intracellular bacterial communities“ festgestellt (Rosen et al.
2007).