Skip to main content
Die Urologie
Info
Verfasst von:
Klaus M. Beier
Publiziert am: 12.10.2022

Sexuelle Präferenz- und Verhaltensstörungen

Sexuelle Präferenzstörungen (ICD 10 und ICD-11) bzw. paraphile Störungen (DSM 5) umfassen ein großes Spektrum sehr unterschiedlicher Symptombilder, die keineswegs selten auftreten. Sie können gravierend die sexuelle und/oder partnerschaftliche Beziehungszufriedenheit tangieren und Leidensdruck erzeugen. Aus klinischer Sicht besteht eine deutliche Überlappung mit den sexuellen Funktionsstörungen. Einer detaillierten diagnostischen Erfassung der paraphilen Störung unter Berücksichtigung der Beziehungsdimension kommt eine zentrale Bedeutung zu, weil sich hieraus Therapieoptionen und Chancen für Entwicklungsmöglichkeiten ableiten lassen. Wegen der hohen Stabilität der sexuellen Präferenzstruktur nach dem Jugendalter sind das Ausmaß des paraphilen Musters (ausschließlicher oder nicht-ausschließlicher Typus), deren Wertigkeit im Erleben der Betroffenen, das zusätzliche Auftreten von sexuellen Funktionsstörungen und die Fähigkeit zur Selbstrücknahme innerhalb der partnerschaftlichen Beziehung bedeutsame Faktoren, die vor Therapiebeginn geklärt sein müssen. Sexuelle Verhaltensstörungen können auf das Ausleben entsprechender Paraphilien zurückgehen, aber auch von Tätern begangen werden, die keine Präferenzstörungen aufweisen. Gerade beim sexuellen Kindesmissbrauch gibt es pädophile sowie nicht-pädophile Täter, wobei bei letzteren die Übergriffe auf Kinder als Ersatzhandlungen für nicht realisierbare sexuelle Interaktionen mit altersentsprechenden und einverständigen Partnern aufzufassen sind. Störungen der sexuellen Präferenz und Störungen des sexuellen Verhaltens sind genau zu differenzieren und nicht etwa gleichzusetzen. Medikamente zur Dämpfung der sexuellen Impulse und Fantasien, insbesondere die Serotonin-Wiederaufnahmehemmer sowie antiandrogen wirkende Pharmaka wie Cyproteronacetat oder GnRH-Analoga werden zusätzlich eingesetzt.

Definition und Klassifikation

Unter „Störungen der sexuellen Präferenz“ (Begriff im ICD-10 und im ICD-11, i.e. das Diagnosemanual der Weltgesundheitsorganisation) oder „paraphile Störungen“ (Begriff im DSM-5, i.e. das Diagnosemanual der Amerikanischen Psychiatrievereinigung) werden Störungsbilder verstanden, bei denen die betroffenen Personen unter normabweichenden sexuellen Impulsen leiden. Demzufolge werden Personen, welche abweichende sexuelle Neigungen aufweisen, jedoch nicht unter diesen leiden, auch nicht als gestört, krank oder behandlungsbedürftig angesehen, solange sie weder andere noch sich selbst durch ihre abweichenden sexuellen Bedürfnisse beeinträchtigen oder gefährden. Damit ist einer zu weitgehenden Pathologisierung vorgebeugt. Da eine solche Zusatzbedingung aber keine Erfassung einer Präferenzbesonderheit erlaubt, die nicht mit einem Leidensdruck verbunden wäre, ist im DSM-5 vorgesehen, zwischen der „Paraphilie“ und der „paraphilen Störung“ zu unterscheiden.
Zu sexuellen Verhaltensstörungen werden hingegen alle sexuellen Handlungen gezählt, bei denen das Wohl und die sexuelle Selbstbestimmung anderer Menschen beeinträchtigt oder geschädigt wird und die aus diesem Grunde strafrechtlich verfolgt werden können. Insgesamt sind mit dieser Störungsgruppe – unabhängig von ihrer strafrechtlichen Beurteilung und tatsächlichen Strafverfolgung (also auch im sog. Dunkelfeld) – sämtliche sexuellen Übergriffe (ob durch psychischen oder physischen Zwang begangen) gegen die sexuelle Selbstbestimmung gemeint, die unter dem Begriff Dissexualität zusammengefasst werden (vgl. Beier 1995).
Das menschliche Lustempfinden als eine der 3 Dimensionen einer multifunktional verstandener Sexualität (Kap. „Grundlagen der Sexualmedizin“) hängt von der individuell unterschiedlich ausgeprägten sexuellen Präferenzstruktur ab, die sich während der Pubertät herausbildet und hiernach in der Regel nicht mehr kategorial verändert.
Die Durchführung einer zielführenden Behandlung basiert auf umfassenden Informationen über das konkrete sexuelle Erleben und Verhalten eines Patienten/Paares; diese müssen eine Einschätzung der individuellen sexuellen Präferenzstruktur ermöglichen, denn daraus ergeben sich unmittelbare Auswirkungen auf soziosexuelle Beziehungen und damit auf die Erfüllung der Grundbedürfnisse. Zur systematischen Exploration des sexuellen Erlebens und Verhaltens hat sich dabei die Beachtung bestimmter Aspekte als hilfreich erwiesen, welche durch die klinische Arbeit des Berliner Instituts für Sexualmedizin der Charité fortlaufend präzisiert wurde um sie für Zwecke der Aus-, Fort- und Weiterbildung besonders gut nutzbar zu machen, was sich in zusammenfassenden Erhebungsinstrumenten widerspiegelt (Ahlers et al. 2004). Diese dienen auch der Erfassung des Lustempfindens als eine der drei Dimensionen der in diesem Sinne als multifunktional verstandenen Sexualität, die dabei von der individuell unterschiedlich ausgeprägten sexuellen Präferenzstruktur ab, welche sich auf drei Achsen beschreiben lassen:
  • Geschlecht der begehrten Person (ausgerichtet auf das männliche Geschlecht, das weibliche Geschlecht oder auf beide Geschlechter)
  • Körperliches Entwicklungsalter der begehrten Person (kindliches, frühpubertäres, erwachsenes, greises Körperschema; Kombinationen möglich)
  • Art und Weise der Interaktion mit der begehrten Person (von normkonform bis paraphil; Kombinationen möglich)
    was sich auf drei verschiedenen Ebenen explorieren lässt, die gleichfalls ineinandergreifen: Den Ebenen der Fantasie, des Verhaltens und des Selbstkonzepts.
Die masturbatorischen Begleitfantasien sind dabei diagnostisch von größtem Aussagewert und ermöglichen bei kooperationsbereit und wahrheitsgemäß auskunftsgebenden Menschen vollkommenen Aufschluss über deren sexuelle Präferenzstruktur. Dem gegenüber ist die Verhaltensebene von geringerer Aussagekraft, denn man kann funktionsungestört sexuelle Kontakte erleben, ohne dass diese die präferierten Praktiken oder auch die präferierten Partner betreffen: So ist es beispielsweise einem sexuell auf Frauen orientierten Mann in der Regel ohne weiteres möglich, durch manuelle oder orale Stimulation, die ein anderer Mann bei ihm vornimmt, zum Erregungshöhepunkt zu kommen. Dies besagt dann aber keineswegs, dass der Betreffende sexuell auf das männliche Geschlecht orientiert ist. Die geringste Aussagekraft hat die Selbstkonzeptebene, da sich hier auf Grund der sozialen Erwünschtheit in starkem Maße Selbst- und Fremdtäuschungsmechanismen einschleusen können, die vor allem dazu führen, dass unliebsame Bestandteile der sexuellen Präferenzstruktur ausgeblendet und vor sich selbst und/oder anderen abgeschirmt werden (vgl. hierzu auch Beier und Loewit 2011; Beier et al. 2021).
Hervorzuheben ist, dass sich die sexuelle Bedürfnisstruktur eines Menschen in ihren individuellen Kennzeichen (von normkonform bis paraphil) im Jugendalter erstmalig manifestiert und nach derzeitigem wissenschaftlichen Kenntnisstand dann für das weitere Leben nicht mehr kategorial verändert werden kann (d. h. eine Orientierung auf das männliche Geschlecht kann nicht in eine Orientierung auf das weibliche Geschlecht umgewandelt werden, eine fetischistische Neigung nicht gelöscht werden usw.; vgl. hierzu z. B. Seto 2012; Spitzer 2012; Grundmann et al. 2016). Darüber hinaus kann eine paraphile Ansprechbarkeit die gesamte Präferenzstruktur kennzeichnen (sog. ausschließlicher Typus), oder nur einen Teil derselben ausmachen (sog. nichtausschließlicher Typus), sodass neben dem paraphilen Muster auch normkonforme Anteile bestehen.
Die individuellen Manifestationsformen auf den 3 Achsen entscheiden darüber, auf welche Reize der Einzelne sexuell ansprechbar ist, sodass sich hieraus ein großes Spektrum prinzipiell resultierender Möglichkeiten ergibt. Allerdings ist nur im Einklang mit dem individuellen Erregungsmuster die größte Intensität an Lustgewinn erreichbar, sodass sich hierdurch ganz wesentlich das sexuelle Erleben des Einzelnen bestimmt. Das bedeutet zugleich, dass die von dem individuellen Muster abweichenden sexuellen Reizsignale keine vergleichbare Intensität zu entfalten vermögen – auch wenn dies möglicherweise sehnlichst gewünscht wird. Ein Mann, der sexuell auf das weibliche Geschlecht orientiert ist (Achse 1), dabei auf die erwachsene Entwicklungsform (Achse 2) und vornehmlich durch Kontakt mit den Füßen der Frau erregbar ist (Achse 3, wie dies beim Fußfetischismus der Fall ist), wird durch koitale Intimität mit einer Frau bei weitem nicht den Lustgewinn erfahren wie in der Befassung mit ihren Füßen, was (erheblich) von dem sexuellen Präferenzmuster der Partnerin abweichen kann.
Unter Störungen der sexuellen Präferenz (Begriff im ICD-10 und im ICD-11, dem Diagnosemanual der Weltgesundheitsorganisation) oder paraphile Störungen (Begriff im DSM-5, dem Diagnosemanual der Amerikanischen Psychiatrievereinigung) werden Störungsbilder verstanden, bei denen die betroffenen Personen unter normabweichenden sexuellen Impulsen leiden. Demzufolge werden Personen, welche abweichende sexuelle Neigungen aufweisen, jedoch nicht unter diesen leiden, auch nicht als gestört, krank oder behandlungsbedürftig angesehen, solange sie weder andere noch sich selbst durch ihre abweichenden sexuellen Bedürfnisse beeinträchtigen oder gefährden.
Damit ist einer zu weitgehenden Pathologisierung vorgebeugt. Da eine solche Zusatzbedingung aber keine Erfassung einer Präferenzbesonderheit erlaubt, die nicht mit einem Leidensdruck verbunden wäre, ist im DSM-5 vorgesehen, zwischen der Paraphilie und der paraphilen Störung zu unterscheiden. Umgekehrt werden somit Paraphilien dann als Diagnosen gefasst, wenn bei den Betroffenen Leidensdruck besteht oder es zu Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen Funktionsbereichen kommt – oder aber wenn die paraphilen Impulse (sofern sie potenziell mit einer Fremdgefährdung verbunden sind) auf der Verhaltensebene ausgelebt werden, also daraus resultierend sexuelle Übergriffe begangen werden.
Tab. 1 gibt einen Überblick über die sexuellen Präferenzstörungen nach ICD-10 (WHO 1993) und die paraphilen Störungen nach DSM-5 (APA 2013) sowie die Neuerungen im ICD-11 (WHO 2018), wo nunmehr die Terminologie des DSM-5 übernommen wurde, aber weniger paraphile Störungen explizit erfasst werden, nämlich lediglich die exhibitionistische Störung, die voyeuristische Störung, die pädophile Störung (mit der Spezifizierung ausschließlich auf vorpubertäre Kinder, nicht mehr wie im ICD-10 auch auf frühpubertäre Kinder), die frotteuristische Störung und die sexuell-sadistische Störung unter Ausübung von Zwang. Insbesondere der Fetischismus bzw. die fetischistische Störung und der Sadomasochismus bzw. die sadomasochistische Störung sind nicht mehr explizit aufgenommen, kennzeichnen aber einen großen und auch klinisch bedeutsamen Teil sexueller Präferenzbesonderheiten, die zukünftig im ICD-11 in Restkategorien kodiert werden müssen. So gibt es die „andere paraphile Störung die nicht-einwilligende Personen involviert“, worunter Störungsbilder subsumiert werden, die dem sadistischen Formenkreis zugerechnet werden können oder auch die Kategorie „paraphile Störung, die autosexuelles Verhalten“ einbezieht, aufgeführt, welche fetischistische Neigungen einschließt, sofern diese mit Leidensdruck verbunden sind.
Tab. 1
Überblick über die Störungen der Sexualpräferenz/paraphile Störungen nach ICD-10/ICD-11 und DSM-5 (erweitert nach Beier und Loewit 2011; vgl. Beier et al. 2021)
ICD-10
Störungen der Sexualpräferenz
DSM-5
paraphile Störungen
ICD-11
paraphile Störungen
F65.0
Fetischismus
302.81
fetischistische Störung
6D36
paraphile Störung, die autosexuelles Verhalten oder einwilligende Personen involviert
F65.1
Fetischistischer Transvestitismus
302.3
Fetischistisch-transvestitische Störung
F65.2
Exhibitionismus
302.4
Exhibitionistische Störung
6D30
exhibitionistische Störung
F65.3
Voyeurismus
302.82
Voyeuristische Störung
6D31
voyeuristische Störung
F65.4
Pädophilie
302.2
Pädophile Störung
6D32
pädophile Störung
F65.5
Sadomasochismus
302.83
Sexuelle masochistische Störung
6D36
paraphile Störung, die autosexuelles Verhalten oder einwilligende Personen involviert
  
302.84
Sexuelle sadistische Störung
6D33
Sexuell-sadistische Störung unter Ausübung von Zwang
  
302.89
Frotteuristische Störung
6D34
Frotteuristische Störung
F65.6
Multiple Störungen der Sexualpräferenz
    
F65.8
Sonstige Störungen der Sexualpräferenz
302.89
Andere näher bezeichnete paraphile Störung
6D35
Andere paraphile Störung, die nicht-einwilligende Personen involviert
F65.9
Nicht näher bezeichnete Störungen der Sexualpräferenz
302.9
Nicht näher bezeichnete paraphile Störung
6D3Z
Unspezifische paraphile Störung
Für die Relevanz des körperlichen Entwicklungsalters hinsichtlich der oben genannten 2. Achse der sexuellen Präferenzstruktur, d. h. des körperlichen Entwicklungsalters des präferierten Partners, existieren inzwischen vielfältige, multimodale Belege (Banse et al. 2010; Ponseti et al. 2012). Zumeist ist das körperliche Entwicklungsalter des präferierten Partners durch die ausgereiften sekundären Geschlechtsmerkmale eines Erwachsenen gekennzeichnet. Die sexuelle Präferenz für das erwachsene, voll ausgebildete Körperschema wird als Teleiophilie (griech. teleos – vollkommen, erwachsen) bezeichnet (Blanchard et al. 2000). Daneben findet sich besonders unter Männern auch eine sexuelle Ansprechbarkeit für das nicht oder nicht voll geschlechtsreife Entwicklungsalter. Seit Krafft-Ebing (1886) wird eine solche Sexualpräferenz als Pädophilie bezeichnet (griech. pais – das Kind). Die sexuelle Präferenz für das frühpubertäre Körperschema ist von Glueck (1955) mit dem Begriff Hebephilie erfasst worden (nach der griechischen Göttin der Jugend Hebe). Das sexuell präferierte körperliche Entwicklungsalter ist dabei geprägt vom Übergang zwischen dem kindlichen und dem erwachsenen Körperschema, repräsentiert in der Entwicklung der sekundären Geschlechtsmerkmale entsprechend den Tanner-Stadien 2 und 3 (die Tanner-Stadien reichen von 1 = kindlicher Entwicklungsstatus bis 5 = erwachsener Entwicklungsstatus).
Eine differenzierte Erfassung pädophiler, hebephiler oder teleiophiler Ansprechbarkeiten ist sowohl phallometrisch möglich (vgl. Blanchard et al. 2009), als auch durch eine adäquate Exploration der Fantasieebene, welche bei auskunftsbereiten Betroffenen eine exakte Ermittlung auch der Mischbilder ermöglicht (vgl. Beier et al. 2013). Zu möglichen Kombinationen gemäß der Berliner Klassifikation, welche auf die klinischen Erfahrungen des Präventionsprojektes Dunkelfeld zurückgeht, Abb. 1.
Zu den sexuellen Verhaltensstörung en zählen alle Handlungen, welche die Individualität und Integrität eines anderen Menschen verletzen – sie zeigen ein „sich im Sexuellen ausdrückendes Sozialversagen“ an, was auch als Dissexualität bezeichnet wird (Beier 1995).
Hierzu zählen auch Versuche oder Durchführungen sexueller Handlungen vor, an oder mit Kindern (sog. pädosexuelle Handlungen, strafrechtlich sexueller Missbrauch von Kindern) oder Jugendlichen bzw. sonstigen Personen, die in die sexuellen Handlungen nicht einwilligen können. Diese sind nach den international gültigen Klassifikationssystemen nur über Restkategorien zu erfassen – nämlich „Sonstige abnorme Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle“ (ICD-10: F63.8; hierzu wird allgemein erläutert: „Der Handlung geht eine Anspannung voraus, der während des Handlungsablaufs ein Gefühl der Erleichterung folgt“) sowie als „Andere spezifische disruptive Impulskontroll- und Verhaltensstörungen“ (DSM-5: 312.89).
Im ICD-11 ist als Codierungsmöglichkeit dann die „Andere spezifische Impulskontrollstörung“ (6C7Y) vorgesehen.
Sexuelle Verhaltensstörungen können einerseits auf das Ausleben entsprechender Paraphilien zurückgehen, d. h. paraphile Impulsmuster können einen ursächlichen Hintergrund für gestörte sexuelle Verhaltensäußerungen darstellen und diese sind dann als Neigungstaten aufzufassen. Andererseits existieren auch dissexuelle Verhaltensweisen, die nicht das Ausleben eines paraphilen Impulsmusters darstellen, sondern auf eine andere Hintergrundproblematik zurückführbar sind. Im Falle des sexuellen Kindesmissbrauchs kann dies beispielsweise eine Persönlichkeitsstörung oder eine Intelligenzminderung sein, aber auch soziosexuelle Unerfahrenheit (bei jugendlichen Tätern) sowie grenzverletzende familiäre Konstellationen mit allgemein ungünstigen Entwicklungsbedingungen für Kinder (es sind dann Väter, Stiefväter, Brüder, Halbbrüder, welche die Taten begehen) können als Ursachen ausgemacht werden. Die sexuellen Übergriffe auf Kinder sind dann als Ersatzhandlungen für eigentlich gewünschte sexuelle Interaktionen mit altersentsprechenden und einverständigen Partnern aufzufassen, die aus verschiedenen Gründen von den Tätern nicht sozial adäquat realisiert werden können.
Mit Blick auf die Auswahl geeigneter Interventionen zur Prävention ist es folglich entscheidend, dass im diagnostischen Prozess Störungen der sexuellen Präferenz und Störungen des sexuellen Verhaltens genau differenziert werden müssen und nicht verwechselt oder gar gleichgesetzt werden dürfen.
Abb. 2 zeigt schematisch, dass in dem gesamten Spektrum der Paraphilien der größte Teil nicht mit sexueller Übergriffigkeit, also Dissexualität verbunden ist. Umgekehrt geht Dissexualität in vielen Fällen nicht auf eine Paraphilie zurück. Vereinfacht: Ein großer Teil der Männer mit sexuellen Präferenzstörungen bzw. paraphilen Störungen ist nicht dissexuell, und viele Männer mit sexuellen Verhaltensstörungen (Dissexualität) sind nicht präferenzgestört. Bezogen auf den sexuellen Kindesmissbrauch ist nach Studien im Hellfeld davon auszugehen, dass etwa 40 % der Übergriffe von pädophil motivierten Tätern begangen werden und 60 % auf Ersatzhandlungen entfallen (Beier 1995; Seto 2008).

Epidemiologie und Ätiologie

Ersten epidemiologischen Daten zufolge ist die Prävalenz paraphiler Neigungen höher als bisher angenommen wurde (vgl. Langström und Zucker 2005; Ahlers et al. 2011). Für den deutschen Sprachraum ergibt sich dies aus den Ergebnissen einer Teilstichprobe der Berliner-Männer-Studie (Beier und Loewit 2011), welche zunächst eine repräsentative Auswahl von 6000 Männern im Alter zwischen 40 und 79 Jahren hinsichtlich des Vorliegens einer Erektionsstörung und der damit verbundenen Auswirkungen auf die Lebensqualität, die Gesundheit und die Partnerschaft untersucht hatte. An diesem 1. Teil der Erhebung nahmen 1915 Männer teil, welche hiernach zu einer ausführlichen sexualwissenschaftlichen Fragebogenerhebung unter Einbeziehung der (dann auch untersuchten) Partnerinnen eingeladen wurden (Schaefer et al. 2003). Die auf diese Weise entstandene Stichprobe umfasste 373 Männer (Tab. 2), von denen 63 alleinstehend und 310 partnerschaftlich gebunden waren. Diese Daten erlauben Rückschlüsse auf die Prävalenz paraphiler Neigungen in der Allgemeinbevölkerung, denn es wurden diesbezüglich die häufigsten sexuellen Erregungsmuster hinsichtlich ihres Auftretens in den Sexualfantasien, bei der Masturbation (als Fantasieinhalte) und für das reale Sexualverhalten abgefragt (vgl. Ahlers et al. 2011). 57,6 % der befragten Männer kannten mindestens ein paraphilieassoziiertes Erregungsmuster als Teil ihrer Fantasiewelt, 46,9 % nutzten diese zur Erregungssteigerung bei der Selbstbefriedigung und 43,9 % lebten sie auf der Verhaltensebene aus. Selbst wenn wegen der obligatorischen, nahezu unvermeidbaren Selektionseffekte eine Übertragung dieser Zahlen auf die Allgemeinbevölkerung unzulässig erscheint, ist doch eine Vorstellung über die mutmaßliche Verbreitung zu gewinnen, welche auch Umfang und Vielfalt entsprechender Angebote – etwa der pornografischen Industrie – nachvollziehbarer macht (vgl. Beier und Loewit 2011).
Tab. 2
Prävalenz paraphilie-assoziierter Erregungsmuster auf verschiedenen Erlebnisebenen bei Männern zwischen 40 und 79 Jahren (keine klinische Inanspruchnahmepopulation; Ergebnisse der Berliner Männer Studie II, n = 373 a; aus Beier und Loewit 2011)
 
Erlebnisebenen
Sexualfantasien
Begleitfantasien bei der Selbstbefriedigung
Sexualverhalten
n
%
n
%
n
%
Nichtmenschliche Objekte, z. B. Stoffe oder Schuhe
110
29,5
97
26,0
90
24,1
Tragen von Frauenkleidung
18
4,8
21
5,6
10
2,7
Gedemütigt werden
58
15,5
50
13,4
45
12,1
Quälen anderer Personen
80
21,4
73
19,6
57
15,3
Heimliches Beobachten von Intimsituationen
128
34,3
90
24,1
66
17,7
Genitales Präsentieren gegenüber Fremden
13
3,5
12
3,2
8
2,1
Berühren fremder Personen in der Öffentlichkeit
49
13,1
26
7,0
24
6,4
Kindliche Körper
35
9,4
22
5,9
17
3,8
Sonstiges
23
6,2
23
6,2
17
4,6
Sexuelle Ansprechbarkeit auf mindestens ein Erregungsmuster/Stimulus
215
57,6
175
46,9
163
43,7
a Ansprechbarkeit für verschiedene Erregungsmuster. Sie wurde auf einer 5-stufigen Ratingskala erhoben, mit den Abstufungen: gar nicht – wenig – mäßig – stark – sehr stark. Als Ansprechbarkeit auf ein sexuelles Erregungsmuster wurden alle Antworten von wenig bis sehr stark gewertet
Hinsichtlich der sexuellen Verhaltensstörungen ist bekannt, dass die meisten dissexuellen Handlungen im sog. Dunkelfeld begangen werden, also nicht justizbekannt werden (Dunkelfeld). Gleichwohl spielen sie im klinischen Alltag eine große Rolle.
So ist seit der ersten großen epidemiologischen Studie zur Prävalenz sexueller Übergriffe im Kindes- und Jugendalter (vgl. Wetzels 1997) nicht nur das Ausmaß sexueller Traumatisierung im Dunkelfeld deutlich geworden (8,6 % der Mädchen und 2,8 % der Jungen werden bis zum 16. Lebensjahr Opfer eines sexuellen Übergriffs mit direktem Körperkontakt durch einen erwachsenen Täter), sondern es wurde ersichtlich, dass zusätzliche negative Entwicklungsbedingungen (nämlich eine hohe Konflikthaftigkeit des Familienklimas, wenig positive elterliche Zuwendung sowie viele negative elterliche Reaktionen) die Wahrscheinlichkeit erhöhen, in der Kindheit auch Opfer einer sexuellen Traumatisierung zu werden. Dieser Zusammenhang zeigte sich auch für Opfer von extrafamiliären bekannten Tätern. Aktuellere, ebenfalls repräsentative Untersuchungen in Deutschland zeigen z. T. niedrigere (vgl. Stadler et al. 2011) oder höhere (Häuser et al. 2011) Prävalenzraten, wobei es einen Zusammenhang zu geben scheint mit der Altersverteilung der untersuchten Stichprobe, nämlich dahingehend, dass die Prävalenzraten steigen, wenn man die untersuchte Altersgruppe weit fasst. Dies spricht dafür, dass sich die Opfer sexueller Übergriffe erst mit zunehmendem Alter anderen Menschen anvertrauen (und ohnehin nur selten eine Strafanzeige vornehmen).
Hinsichtlich der Ursachenforschung zur Manifestation der sexuellen Präferenzstruktur und damit verknüpfter Verhaltensstörungen steht die Wissenschaft zwar noch sehr am Anfang, kann aber mittels bildgebender Forschung präferenzbezogene Aktivierungsmuster erkennbar machen (Ponseti et al. 2012) oder auch zur Inhibitionsfähigkeit unterschiedlicher Tätergruppen Beiträge leisten (z. B. Schiffer und Vonlaufen 2011), die auf die Bedeutung der biomedizinischen Forschung zur Aufschlüsselung der Ätiologie von sexuellen Präferenz- und Verhaltensstörungen verweisen (vgl. Beier et al. 2019).
Bezüglich der Präferenzbesonderheiten (z. B. Pädophilie, Hebephilie, Frotteurismus, Sadismus etc.) wird von einem biopsychosozialen Verursachungsmodell ausgegangen – biologische Prädispositionen verbinden sich mit psychosozialen Einflussfaktoren in sensiblen Entwicklungsphasen und bringen auf diese Weise die unterschiedlichen sexuellen Ansprechbarkeiten hervor.
Wie Ergebnisse der bildgebenden Forschung nahelegen, scheinen bei sexueller Erregung im Gehirn bestimmte Aktivierungsmuster erkennbar zu werden, die als solche keine interindividuellen Unterschiede zeigen, aber abhängig von der sexuellen Ausrichtung ausgelöst werden: Bei einem teleiophilen, auf Frauen orientierten Mann durch das Bild einer (unbekleideten) Frau, bei pädophilen, auf Mädchen orientierten Mann durch das Bild eines (unbekleideten) Mädchens (Ponseti et al. 2012).
Nicht ausreichend erforscht sind aber auch Gründe für die – klinisch ganz offensichtlichen – Unterschiede bezüglich der Kontrollfähigkeit für sexuelle Impulse. Diese Frage stellt sich im Übrigen auch für die nichtpräferenzgestörten Tätern, jeweils in Abhängigkeit von der Grundproblematik (z. B. geistige Behinderung, Persönlichkeitsstörung (Abschn. 1).
Stoléru et al. (2012) haben zu den Aspekten Motivation, Emotion und autonomes Nervensystem (Physiologie) das Zusammenspiel von exzitatorischen und inhibitorischen Hirnarealen, also die Aktivierung und die Drosselung sexueller Reaktionen in Verbindung gebracht und für die hemmenden Prozesse die medialen Anteile des orbitofrontalen Kortex, sowie auch den Nucleus Caudatus und den caudalen anterioren cingulären Kortex angeführt. Dabei ist vor allem zu beachten, dass offenbar ein Zusammenspiel von kortikalen und subkortikalen Strukturen (insbesondere von Putamen und Claustrum) für die Informationsverarbeitung relevant sind (Poeppl et al. 2016), was die Komplexität der zentralnervösen Verarbeitung sexueller Reize verdeutlicht, die ja noch um Prozesse der peripheren Organisation ergänzt wird.
Wie die klinische Erfahrung zeigt, gibt es zudem eine breite Überlappung zwischen sexuellen Präferenzstörungen und sexuellen Funktionsstörung en, was mit erklärt, warum häufig die sexuelle und partnerschaftliche Beziehungszufriedenheit der Betroffenen beeinträchtigt sind. Vor diesem Hintergrund ist erwartbar, dass Patienten, die sich wegen sexueller Funktionsstörungen (als präsentiertem Symptom) um eine Behandlung bemühen, möglicherweise darüber hinaus sexuelle Präferenzbesonderheiten aufweisen, die sich wiederum auf die Sexualfunktionen in der beklagten Weise auswirken, ohne dass den Betroffenen dieser Zusammenhang bewusst ist (vgl. Beier 2010) . In einer ersten Studie zu diesen Zusammenhängen wurde eine Stichprobe an der Charité in Berlin untersucht, welche in der andrologischen Sprechstunde der Urologischen Hochschulambulanz vorstellig geworden war. Dabei zeigte sich, dass der größere Anteil der Patienten, die wegen einer Erektionsstörung kamen (n = 36) entweder eine Besonderheit der sexuellen Präferenz ohne Leidensdruck (n = 18) oder mit Leidensdruck aufwiesen (n = 8). Dies ist trotz der kleinen Stichprobe deshalb von erheblicher Bedeutung, weil bei 15 von 36 befragten Männern eine Präferenzbesonderheit mit potenzieller Fremdgefährdung (d. h. Exhibitionismus, Frotteurismus, Pädophilie oder Hebephilie) vorlag. Es lässt sich hieraus unschwer ableiten, dass der Männerheilkunde (Andrologie/Urologie) mit Blick auf dieses Indikationsgebiet ein viel höherer Stellenwert zukommen müsste, als dies bisher der Fall ist (vgl. Genest et al. 2013).

Therapie

Aufgrund der Manifestation paraphiler Impulsmuster in der Jugend und ihrer Stabilität über das weitere Leben ist es erforderlich, dass die Betroffenen sich im Rahmen ihrer sexuellen Identitätsentwicklung mit diesen inneren Erlebensanteilen „arrangieren“ müssen und dadurch mehr oder weniger stark mit Selbstzweifeln konfrontiert sein können. Diese resultieren nicht zuletzt aus der Frage, ob ein Partner/eine Partnerin sie wirklich vollkommen akzeptieren würde, wenn allein die Inhalte der sexuellen Fantasien bekannt wären – also selbst dann, wenn deren Verwirklichung (mit einem Partner) gar nicht intendiert wäre. Diese Verunsicherung tangiert so stark das Selbstwertgefühl („Kann ich beim anderen wirklich Annahme finden?“), dass Beziehungen nur schwer geknüpft werden oder aber bestehende Partnerschaften besonders riskiert sind – zum einen aus Unkenntnis über den Verlauf einer paraphilen Neigung (geht diese zurück, bleibt sie so oder weitet sie sich noch aus?) oder aber durch ein jahrelanges Versteckspielen (Abschirmen der paraphilen Erlebnisanteile vor der Partnerin/dem Partner), welches dann zu umso größerem Vertrauensverlust führt, wenn die Neigung durch andere Umstände bekannt wird (zunehmend häufiger durch Aufdecken entsprechender Internetaktivitäten des Betroffenen durch den Partner).
Dabei sind 5 Faktoren von ausschlaggebender Bedeutung für die Planung von Behandlungsmöglichkeiten:
1.
Anteil des paraphilen Musters an der sexuellen Präferenzstruktur: Es macht einen großen Unterschied, ob das paraphile Erleben die gesamte sexuelle Präferenzstruktur kennzeichnet (ausschließlicher Typus) oder neben den paraphilen auch nichtparaphile Erlebensanteile bestehen, welche partnerbezogen realisierbar sind (nichtausschließlicher Typus). Besteht beispielsweise eine ausschließliche masochistische Neigung, bei der der Betroffene ausschließlich in Verbindung mit fantasierten Szenarien des Verstümmeltwerdens durch die Partnerin (im Falle einer gynäphilen Orientierung) sexuell erregbar ist, dann besteht für diesen nicht die Möglichkeit, auf andere Weise mit der Partnerin vergleichbar intensive sexuelle Erregung aufzubauen, was wiederum mit hoher Wahrscheinlichkeit zu sexuellen Funktionsstörungen führt (s. 2) und die Partnerschaft dann erheblich belastet, wenn die Partnerin über die Hintergrundproblematik nicht informiert ist und die Schwierigkeiten der sexuellen Kommunikation für sie nicht erklärbar sind.
 
2.
Zusätzliche Auftreten sexueller Funktionsstörung en: Jede sexuelle Funktionsstörung kann durch eine Paraphilie verursacht sein – insbesondere, wenn der Betroffene die sexuelle Interaktion nicht mit dem paraphilen Stimulus belasten möchte und infolgedessen in der Kontaktgestaltung verunsichert ist und Angst hat, dass ein Auftreten paraphiler Fantasieinhalte ihn von der eigentlich gewünschten Nähe mit einer Partnerin (im Falle einer gynäphilen Orientierung) entfernen könnte. Hierdurch ergibt sich stets ein Anknüpfungspunkt für die therapeutische Arbeit, wobei die Darlegung des Zusammenhangs mit dem paraphilen Erleben für beide Partner bereits einen wichtigen Schritt im Rahmen der Behandlung darstellt.
 
3.
Wertigkeit des paraphilen Stimulus im inneren Erleben: Da auch an den paraphilen Stimulus (z. B. bei einer fetischistischen Neigung) eine Bindung in dem Sinne bestehen kann, dass nicht nur sexuell erregende, sondern auch psychoemotional stabilisierende Erlebensanteile (vergleichbar denen der Bindung zu einem anderen Menschen) eine Bedeutung haben, sind zugleich die Grenzen therapeutischer Interventionen beschrieben, sofern diese Bindung das gleiche oder sogar ein größeres Ausmaß in der inneren Wertigkeit des Betroffenen angenommen hat, wie die Bindung zu einem realen Partner.
 
4.
Fähigkeit zur Selbstrücknahme: Als therapeutisch limitierender Faktor ist nicht nur die Wertigkeit des paraphilen Stimulus im Selbsterleben (s. o.), sondern – und damit keineswegs deckungsgleich – auch die Fähigkeit zur Selbstrücknahme mit Blick auf die Beziehung zum Partner anzusehen: So kann es auch bei einem ausschließlichem paraphilen Muster (z. B. einem Sadismus mit ausschließlich nichtlebbaren reizsteigernden Inhalten, die mit Verletzung oder Verstümmelung des Partners einhergehen) für den Betroffenen bedeutsam sein, die partnerschaftliche Beziehungszufriedenheit zu verbessern, weil er sie als wichtige Ressource für Lebensqualität ansieht und deshalb in einer paarbezogenen Weise nutzen möchte. Ein wichtiger motivationaler Faktor in diesem Zusammenhang ist ein Verantwortungsgefühl für gegebenenfalls vorhandene (oder geplante) gemeinsame Kinder.
 
5.
Vorliegen einer potenziellen Fremd- oder Eigengefährdung durch den paraphilen Stimulus: Sowohl bei Eigengefährdung (z. B. bei einer schweren masochistischen Neigung) als auch bei Fremdgefährdung (z. B. Exhibitonismus, Frotteurismus, Pädophilie, Hebephilie) steht die Erlangung von Verhaltenskontrolle (einschließlich Konsum von Missbrauchsabbildungen) im Vordergrund (Aufgabengebiet der primären und sekundären Prävention).
 
Insbesondere die Punkte 1–4 machen nachvollziehbar, warum auch bei Störungen der sexuellen Präferenz bzw. Paraphilie die syndyastische Fokussierung (Kap. „Sexualmedizin: Diagnostik und Therapie“, Abschn. „Sexual Therapie“) eine sinnvolle therapeutische Strategie darstellen kann – sofern nämlich beiden Partnern an einer Verbesserung ihrer sexuellen und partnerschaftlichen Beziehungszufriedenheit gelegen ist und dies mit der dafür erforderlichen Selbstrücknahme innerhalb der Beziehung verbunden werden kann, was allerdings nur dann der Fall ist, wenn der paraphile Stimulus im inneren Erleben des Betroffenen nicht als bedeutsamer als die Bindung selbst angesehen wird. Dies zeigt zugleich, dass in der Diagnostik der Paraphilie die Exploration der 3 Dimensionen von Sexualität (Bindung, Lust, Fortpflanzung; Kap. „Grundlagen der Sexualmedizin“) ein unverzichtbares Element darstellen sollte, weil dadurch die Auswahl der therapeutischen Möglichkeiten und damit verknüpfter Entwicklungschancen abschätzbar wird (Kap. „Grundlagen der Sexualmedizin, Behandlungsbeispiele“ s. Beier und Loewit 2004).
Darüber hinaus sind aber auch Medikamente zur Entdynamisierung sexueller Impulse aus der Therapie der Dissexualität und der Paraphilien als zusätzliche Behandlungsoptionen nicht mehr wegzudenken. Sie bieten große Chancen für die psychosoziale Stabilisierung der Betroffenen und mindern zugleich die Gefahren für potenzielle Opfer, dann nämlich, wenn der unter 5. genannte Faktor relevant ist. Klinische Erfahrungen zeigen zudem, dass für nicht wenige Patienten ein Eingeständnis ihrer sexuellen Päferenz- und/oder Verhaltensstörungen erst möglich wird, nachdem sie von den medikamentösen Behandlungsoptionen und ihrer Effektivität erfahren haben.
Für die Pharmakotherapie zur Verfügung stehen vor allem die selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI), Androgenrezeptorblocker vom Cyproteronacetat-Typ (CPA) oder Gonadotropin-Releasing-Hormon-Analoga (GnRH-Analoga), die unterschiedlich stark sexuelle Impulse und Fantasien dämpfen können. Eine gewisse Rolle spielen auch Opiatantagonisten (z. B. Naltrexon).
Neuerdings gilt die Aufmerksamkeit verstärkt den GnRH-Analoga, die im großen Umfang zur Behandlung des Prostata-Karzinoms eingesetzt werden und hinsichtlich der Reduktion sexueller Impulse als äußerst effektiv anzusehen sind.
Erst kürzlich wurde in einem randomisiert-kontrollierten Design bei 52 Männern, die aufgrund einer pädophilen Sexualpräferenz Behandlung suchten, für den GnRH-Antagonisten Degalerix dessen Effektivität nachgewiesen (vgl. Landgren et al. 2020).
Die Verordnung impulsdämpfender Medikamente setzt eine vertrauensvolle Beziehung zu dem Patienten voraus, nicht zuletzt weil die Rückmeldungen über die angestrebten Wirkungen von entscheidender Bedeutung sind und deshalb verlässliche Auskünfte benötigt werden. Das Monitoring bei Einsatz antiandrogen wirkender Medikamente sieht Kontrollen der Blutfett- und Blutzuckerparameter, der Parameter des Knochenstoffwechsels, der Sexualhormone und verwandter Parameter sowie bei CPA-Therapie der Leberwerte vor (vgl. Berner et al. 2007).
Den Einsatz von Medikamenten würde man stets verknüpfen mit einem Gesamtbehandlungsplan, in dem die Selbstakzeptanz der sexuellen Neigung bzw. deren Integration in das Selbstkonzept zu fördern wäre und auch eine Verbesserung von Selbstregulationsstrategien (über veränderte Einstellungen zu Sexualität), die Befähigung zur Perspektivenübernahme sowie eine erfolgreiche Emotions-, Stress- und Konfliktbewältigung in Beziehungen angestrebt würden (Beier 2018).
Den Einsatz von Medikamenten würde man allerdings stets verknüpfen mit einem Gesamtbehandlungsplan, in dem die Selbstakzeptanz der sexuellen Neigung bzw. deren Integration in das Selbstkonzept zu fördern wäre und auch eine Verbesserung von Selbstregulationsstrategien (über veränderte Einstellungen zu Sexualität), die Befähigung zur Perspektivenübernahme sowie eine erfolgreiche Emotions-, Stress- und Konfliktbewältigung in Beziehungen angestrebt würden.
Antiandrogen wirkende Medikamente sind auch Bestandteil des primärpräventiven Therapieangebotes für Menschen mit pädophiler und/oder hebephiler Neigung im Dunkelfeld, das in Deutschland (und damit weltweit) erstmals ab Juni 2005 im Rahmen des Forschungsprojekts Prävention von sexuellem Kindesmissbrauch im Dunkelfeld am Institut für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin der Charité – Universitätsmedizin Berlin etabliert wurde.
Die basale Idee für dieses Präventionsangebot ist das Wissen um die Prävalenz der pädophilen Neigung in der männlichen Allgemeinbevölkerung (ca. 1 %), das Einsetzen entsprechender sexueller Interessen auf der Fantasieebene im Jugendalter, die damit verbundene Beeinträchtigung in der partnerschaftlichen Beziehungsfähigkeit mit hoher sozialer Stigmatisierungsgefahr bei Bekanntwerden der sexuellen Ansprechbarkeit für Kinder und damit verbundenen erhöhten Risiken für die psychische Gesundheit (erhöhte Rate von Depressionen, Angststörungen etc.), sowie auch dem Risiko der Nutzung von Missbrauchsabbildungen oder direkter sexueller Übergriffe auf Kinder. In dem Zusammenhang ist die Berliner Dissexualitätstherapie (BEDIT) entstanden, die in ihren Versionen für Erwachsene und Jugendliche einschließlich der Herleitung und der ersten Erfahrungen in manualisierter Form publiziert wurde (Beier 2018). Der Umstand, dass die Folgesymptome der Pädophilie eben auf eine definierbare Störung zurückgeht, die von der Weltgesundheitsorganisation WHO als psychische Störung anerkannt ist, ist Hintergrund für das in Deutschland seit 2017 gesetzlich verankerte Modellvorhaben des neuen § 65d des Fünften Sozialgesetzbuches („Förderung besonderer Therapieeinrichtungen“), wonach Menschen mit pädophil er Sexualpräferenz anonym präventiv Therapieangebote zu unterbreiten sind, die von den Krankenkassen finanziert werden müssen.
Mittlerweile konnte das Konzept bundesweit etabliert werden und an allen 11 Standorten wird nun ein auf erwachsene Menschen ausgerichtetes kostenloses und durch Schweigepflicht geschütztes diagnostisches und therapeutisches Angebot für Individuen mit einer Pädophilie vorgehalten. Diese erhalten therapeutische Unterstützung, mit ihrer sexuellen Präferenz leben zu lernen, diese in ihr Selbstbild zu integrieren und zu akzeptieren. Gleichzeitig ist das Ziel, einen erstmaligen/wiederholten sexuellen Kindesmissbrauch bzw. die erstmalige/wiederholte Nutzung von Missbrauchsabbildungen zu verhindern. Die Inanspruchnahme des Angebots beläuft sich durch diese Ausweitung bis Ende des Jahres 2019 auf 12077 Kontaktaufnahmen, von denen 3163 diagnostisch vollständig erfasst und 2007 ein Therapieangebot unterbreitet werden konnten (http://www.kein-taeter-werden.de). Es wurde ergänzt um ein Angebot für Jugendliche, das ebenfalls durch den Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen (GKV-SV) gefördert wird. Bis Ende des Jahres 2019 hatten sich 293 männliche Jugendliche gemeldet, von denen 156 diagnostisch vollständig erfasst und 93 ein Therapieangebot unterbreitet werden konnten (http://www.du-traeumst-von-ihnen.de). Wegen der Vielzahl internationaler Anfragen wurde am Berliner Institut darüber hinaus das internetbasierte Selbstmanagementprogramm Troubled Desire (http://www.troubled-desire.com) entwickelt, das in verschiedenen Sprachen online anonym und kostenfrei verfügbar ist (vgl. Schuler et al. 2020).

Zusammenfassung

  • Menschliche Sexualität durch breites Spektrum von sexuellen Präferenzbesonderheiten gekennzeichnet.
  • Zur Feststellung von sexuellen Präferenzstörungen/paraphiler Störungen vor allem genaue Exploration der Begleitfantasien bei der Masturbation nötig.
  • Kategoriale Änderungen der sexuellen Präferenzstruktur nach Abschluss der Pubertät nicht mehr zu erwarten.
  • Störungscharakter entsteht durch Leidensdruck der Betroffenen, und/oder Beeinträchtigung sozialer Bezugssysteme bzw. selbst- oder fremdschädigendes Verhalten.
  • Sexuelle Verhaltensstörungen als Oberbegriff für sexuelle Handlungen, welche die sexuelle Selbstbestimmung anderer verletzen, berücksichtigt nicht die Handlungsmotive.
  • Sexuelle Verhaltensstörungen können, müssen aber nicht auf sexuelle Präferenzstörungen zurückgehen.
  • Sexuelle Übergriffe auf Kinder werden etwa gleich häufig von nicht- präferenzgestörten Tätern begangen (dann als Ersatzhandlungen für eigentlich gewünschte sexuelle Interaktionen mit altersentsprechenden, einverständigen Partnern) wie von Tätern, die eine pädophile und/oder hebephile Sexualpräferenz aufweisen.
  • Überlappung mit sexuellen Funktionsstörungen häufig.
  • Paarbezogene Diagnostik eruiert, ob beiden Partnern an Verbesserung ihrer sexuellen und partnerschaftlichen Beziehungszufriedenheit gelegen ist, was therapeutisch aufgegriffen werden kann.
  • Medikamente zur Dämpfung der sexuellen Impulse und Fantasien bieten große Chancen für die psychosoziale Stabilisierung der Betroffenen, mindern bei bestehender Fremdgefährdung zugleich die Gefahren für potenzielle Opfer, sollten aber in Gesamtbehandlungsplan eingebunden sein und nicht die einzige therapeutische Maßnahme darstellen.
  • Die anonyme Inanspruchnahme primärpräventiver Diagnostik und Therapie bei pädophiler und/oder hebephiler Sexualpräferenz wird in Deutschland von den Krankenkassen durch Vorhaltung „besonderer Therapieeinrichtungen“ finanziert (§ 65d SGB V).
Literatur
Ahlers CJ, Schaefer GA, Mundt IA, Roll S, Englert H, Willich SN, Beier KM (2011) How unusual are the contents of paraphilias? Paraphilia-Associated Sexual Arousal Patterns (PASAP) in a community-based sample of men. J Sex Med 8:1362–1370. CrossRef PubMedCrossRef
Ahlers CJ, Schaefer GA, Beier KM (2004) Erhebungsinstrumente in der klinischen Sexualforschung und der sexualmedizinischen Praxis: Ein Überblick über die Fragebogenentwicklung in Sexualwissenschaft und Sexualmedizin. Sexuologie 11(3/4):74–97
American Psychiatric Association, APA (2013) Diagnostic and statistical manual of mental disorders (DSM-5), 5. Aufl. APA-Press, Washington, DCCrossRef
Banse R, Schmidt AF, Clarbour J (2010) Indirect measures of sexual interest in child sex offenders: a multimethod approach. Crim Justice Behav 37(3):319–335. CrossRef
Beier KM (1995) Dissexualität im Lebenslängsschnitt. Theoretische und empirische Untersuchungen zu Phänomenologie und Prognose begutachteter Sexualstraftäter. Springer, Berlin
Beier KM (2010) Sexuelle Präferenzstörungen und Bindungsprobleme. Sexuologie 17(1–2):24–31
Beier KM (2018) Pädophilie, Hebephilie und sexueller Kindesmissbrauch. Springer, Berlin/HeidelbergCrossRef
Beier KM, Amelung T, Kuhle L, Grundmann D, Scherner G, Neutze J (2013) Hebephilie als sexuelle Störung. Fortschr Neurol Psychiatr 81:128–137. CrossRef PubMed
Beier KM, Amelung T, Pauls A (2010) Antiandrogene Therapie als Teil der Prävention von sexuellem Kindesmissbrauch im Dunkelfeld. Forens Psychiatr Psychol Kriminol 4(Suppl 1):S49–S57CrossRef
Beier KM, Bosinski HAG, Loewit K (2005) Sexualmedizin, 2. Aufl. Elsevier, Urban & Fischer, München
Beier KM, Bosinski HAG, Loewit K (2021) Sexualmedizin, 3. Aufl. München, Jena, Elsevier, Urban & Fischer
Beier KM, Krüger T, Schiffer B, Pauls A, Amelung T (2019) The physiological basis of problematic sexual interests and behaviors. In: O’Donohue WT, Bromberg DS (Hrsg) Sexually violent predators: a clinical science handbook. Springer Nature Switzerland, S 73–100CrossRef
Beier KM, Loewit K (2004) Lust in Beziehung. Einführung in die Syndyastische Sexualtherapie. Springer, Berlin. CrossRefCrossRef
Beier KM, Loewit K (2011) Praxisleitfaden Sexualmedizin. Springer, Berlin. CrossRef
Berner W, Hill A, Briken P, Kraus C, Lietz K (2007) Behandlungsleitlinie Störungen der sexuellen Präferenz. Steinkopff, Darmstadt. CrossRef
Blanchard R, Barbaree HE, Bogart AF, Dickey R, Klassen P, Kuban ME et al (2000) Fraternal birth order and sexual orientation in pedophiles. Arch Sex Behav 29:463–478CrossRef
Blanchard R, Lykins AD, Wherrett D et al (2009) Pedophilia, hebephilia, and the DSM-V. Arch Sex Behav 38:335–350. CrossRef PubMed
Freund K, McKnight CK, Langevin R et al (1972) The female child as a surrogate object. Arch Sex Behav 2(2):119–133CrossRef
Genest F, Magheli A, Roll S, Beier KM (2013) Sexuelle Präferenzstörungen in der Urologischen Sprechstunde. Sexuologie 20(3–4):153–162
Glueck BC (1955) Final report: research project for the study and treatment of persons convicted of crimes involving sexual aberrations. June 1952 to June 1955. New York State Department of Mental Hygiene, New York
Grundmann D, Krupp J, Scherner G, Amelung T, Beier KM (2016) Stability of self-reported arousal to sexual fantasies involving children in a clinical sample of pedophiles and hebephiles. Arch Sex Behav 45(5):1153–1162CrossRef
Häuser et al (2011) Misshandlungen in Kindheit und Jugend. Ergebnisse einer Umfrage in einer repräsentativen Stichprobe der deutschen Bevölkerung. Deutsches Ärzteblatt 17:287–294
Krafft-Ebing R von (1886) Psychopathia sexualis. Enke, Stuttgart
Landgren V, Malki K, Bottai M, Arver S, Rahm C. (2020) Effect of gonadotropin-releasing hormone antagonist on risk of committing child sexual abuse in men with pedophilic disorder: a randomized clinical trial. JAMA Psychiat. Published online April 29, 2020. https://​doi.​org/​10.​1001/​jamapsychiatry.​2020.​0440
Langström N, Zucker N (2005) Transvestic fetishism in the general population: prevalence and correlates. J Sex Marital Ther 31:87–95. CrossRef PubMed
Poeppl TB, Langguth B, Rupprecht R, Laird AR, Eickhoff SB (2016) A neural circuit encoding sexual preference in humans. Neurosci Biobehav Rev. 68:530–536CrossRef
Ponseti J, Granert O, Jansen O, Wolff S, Beier KM, Neutze J, Deuschl G, Mehdorn H, Siebner H, Bosinski HAG (2012) Assessment of pedophilia using hemodynamic brain response to sexual stimuli. Arch Gen Psychiatry 69(2):187–194. CrossRef PubMed
Ponseti J, Vaih-Koch SR, Bosinski HAG (2001) Zur Ätiologie von Sexualstraftaten: Neuro-psychologische Parameter und Komorbidität. Sexuologie 8:65–77
Schäfer GA, Engert HS, Ahlers CJ, Roll S, Willich SN, Beier KM (2003) Erektionsstörungen und Lebensqualität: erste Ergebnisse der Berliner Männer Studie. Sexuologie 10(2/3):50–60
Schiffer B, Vonlaufen C (2011) Executive dysfunctions in pedophilic and nonpedophilic child molesters. J Sex Med 8(7):1975–1984. CrossRef PubMed
Schuler M, Gieseler H, Schweder K, von Heyden M, Beier KM (2020) Troubled desire – an internetbased self-management tool for individuals with pedophilic and hebephilic sexual interest table of contents. JMIR Ment Health 2021;8(2):e22277. https://​doi.​org/​10.​2196/​22277
Seto MC (2008) Pedophilia and sexual offending against children: theory, assessment and intervention, 2. Aufl. American Psychological Association, Washington, DC. CrossRef
Seto MC (2012) Is pedophilia a sexual orientation? Arch Sex Behav 38:335–350
Spitzer RL (2012) Spitzer reassesses his 2003 study of reparative therapy of homosexuality (Letter to the Editor). Arch Sex Behav 41(4):757. CrossRef PubMed
Stadler et al. (2011) Repräsentativbefragung Sexueller Missbrauch 2011 (KFN-Forschungsbericht; Nr.: 118). Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen, Hannover
Stoléru S, Fonteille V, Cornélis C, Joyal C, Moulier V (2012) (2012) Functional neuroimaging studies of sexual arousal and orgasm in healthy men and women: a review and meta-analysis. Neurosci Biobehav Rev. 36(6):1481–1509CrossRef
Wetzels P (1997) Prävalenz und familiäre Hintergründe sexuellen Kindesmißbrauchs in Deutschland: Ergebnisse einer repräsentativen Befragung. Sexuologie 4(2):89–107
World Health Organization, WHO (1993) Internationale Klassifikation psychischer Störungen: ICD-10, Kapitel V (F): Klinisch-diagnostische Leitlinien. Huber, Bern
World Health Organization WHO (2018) International statistical classification of diseases and related health problems (7th Rev). https://​www.​who.​int/​classifications/​icd/​en/​