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Die Urologie
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Publiziert am: 08.03.2023

Sozialmedizinische Aspekte der Rehabilitation

Verfasst von: Corinna Bergelt
Die Rückkehr zur Arbeit ist für Patientinnen und Patienten im erwerbsfähigen Alter ein zentrales Anliegen und ein wichtiger Aspekt der Krankheitsbewältigung, da die Rückkehr zur Arbeit häufig als Rückkehr zur Normalität empfunden wird. Die Rehabilitation spielt für Patientinnen und Patienten im erwerbsfähigen Alter eine wichtige Rolle bei der Reintegration in den vorherigen Arbeitsplatz oder auch in der Vorbereitung auf eine auf die aktuelle gesundheitliche Situation angepasste Arbeitssituation. Die Deutsche Rentenversicherung hat mit dem MBOR-Programm Standards zur Umsetzung eines gestuften Angebotes zur medizinisch beruflich orientierten Rehabilitation geschaffen. Für die Onkologie ist die diesbezügliche Evidenz jedoch bislang gering.

Die Rolle von Beruf und Arbeit im Krankheitsverlauf

Die Wiederaufnahme der beruflichen Tätigkeit stellt für die Patientinnen und Patienten oftmals einen wichtigen Schritt der Krankheitsbewältigung dar. Die Rückkehr zur Arbeit wirkt sich positiv auf die Lebensqualität aus und wird als Symbol für die vollständige Gesundung und die Rückkehr zur Normalität empfunden. Aus gesellschaftlicher Sicht ist die berufliche Wiedereingliederung von Patientinnen und Patienten zudem ein wichtiges Anliegen, um eine verfrühte Berentung bzw. Arbeitslosigkeit und damit verbundene direkte und indirekte Kosten zu verhindern (De Boer et al. 2008). Die in Metaanalysen internationaler Studien berichtete Rückkehrrate von 63 % ein Jahr nach Erkrankung (Mehnert 2010) verdeutlicht, dass viele Langzeitüberlebende zur Arbeit zurückkehren, zeigt aber auch, dass etwa ein Drittel der Betroffenen nicht wieder arbeitet. Studien zu Arbeit und Krebs zeigen, dass Krebserkrankte ein erhöhtes Risiko für Arbeitslosigkeit und Frühberentung haben, häufig in ihrer Leistungsfähigkeit und Arbeitsproduktivität eingeschränkt sind sowie vielfältige weitere arbeitsbezogene Belastungen erleben (Feuerstein et al. 2010; Ullrich et al. 2012). Vor dem Hintergrund, dass Erwerbsarbeit für den finanziellen und sozialen Status in unserer Gesellschaft von hoher Bedeutung ist, kann eine Krebsdiagnose für die Patientinnen und Patienten sozial und finanziell gravierende Einschränkungen bedingen, da eine Berentung oder Verlust des Arbeitsplatzes erhebliche finanzielle Auswirkungen haben kann (Seifart und Schmielau 2017). Eine urologische Krebserkrankung und männliches Geschlecht gehören zu den prognostisch eher günstigen Faktoren bezüglich der beruflichen Reintegration, während ein fortgeschrittenes Tumorstadium, höheres Lebensalter und geringerer Bildungsstand zu den prognostisch eher ungünstigen Faktoren bezüglich der Rückkehr ins Erwerbsleben zählen (Rick et al. 2012).

Berufsbezogene Aspekte in der Rehabilitation

Die Zielsetzungen der Rehabilitation beziehen sich in Übereinstimmung mit dem biopsychosozialen Modell der ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health) der Weltgesundheitsorganisation sowohl auf die körperliche und psychische Ebene als auch den persönlichen Kontext der Patientinnen und Patienten und Umweltfaktoren. Es ist ein typisches Merkmal der Rehabilitation, dass die Anzahl möglicher Ziele hier besonders groß ist, abhängig von den individuellen patientenbezogenen medizinischen, psychischen, sozialen und beruflichen Begleitumständen. Insgesamt soll im Rahmen der Rehabilitation die Anpassung der Lebensperspektiven an das Leistungsvermögen und den Krankheitsverlauf geleistet werden und es ist ein charakteristisches Merkmal der onkologischen Rehabilitation, dass medizinische, soziale und berufliche Maßnahmen als gleichwertig angesehen und parallel durchgeführt werden. Rehabilitationsmaßnahmen leisten für Patientinnen und Patienten im erwerbsfähigen Alter einen wichtigen Beitrag bei der Reintegration in den vorherigen Arbeitsplatz oder bei der Vorbereitung auf eine den Krankheitsfolgen angepasste Beschäftigung. Der besondere Stellenwert der Förderung einer beruflichen Wiedereingliederung ist auch im Vorsatz „Rehabilitationsleistungen haben Vorrang vor Rentenleistungen“ („Reha vor Rente“) im Sozialgesetzbuch VI verankert.

Medizinisch beruflich orientierte Rehabilitation

Die Deutsche Rentenversicherung (DRV) legt mit dem MBOR-Programm (medizinisch beruflich orientierte Rehabilitation) ein multidimensionales Konzept vor, anhand dessen auf Basis eines interdisziplinären Behandlungsansatzes Vorschläge für berufsbezogene Maßnahmen beschrieben werden. Zur Durchführung von MBOR wurde ein Anforderungsprofil entwickelt, das im Rahmen eines gestuften Angebots diagnostische und therapeutische Standards setzt (DRV 2011). Dabei sollen im Rahmen der medizinischen Rehabilitation für alle Patientinnen und Patienten im erwerbsfähigen Alter abhängig vom jeweiligen Bedarf MBOR-Basisangebote angeboten werden. Diese umfassen neben der Identifikation von Patientinnen und Patienten mit besonderen beruflichen Problemlagen (BBPL) und einem entsprechenden spezifischen Bedarf u. a. sozialrechtliche Informationen beispielsweise zu weiterführenden Angeboten und Hilfen wie stufenweiser Wiedereingliederung, Kündigungsschutz, Schwerbehinderung, Rentenfragen und Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben. Weitere Basiselemente beziehen sich auf berufsorientierte therapeutische Maßnahmen, die auch für Patientinnen und Patienten ohne besondere berufliche Problemlage sinnvoll sein können, um die Rückkehr in den Beruf vorzubereiten, z. B. Gruppenangebote zu Entspannungstechniken oder Stressmanagement sowie ergotherapeutische Maßnahmen.
Für Personen mit besonderen beruflichen Problemlagen, die einen intensiveren Betreuungsbedarf haben, sollen MBOR-Kernmaßnahmen durchgeführt werden, die Einschränkungen der beruflichen Teilhabe mindern bzw. diesen entgegenwirken sollen. Zu den MBOR-Kernmaßnahmen zählen
  • eine detaillierte berufsbezogene Diagnostik zur Einschätzung der physischen und psychischen Belastungsfähigkeit der Betroffenen;
  • Angebote der Sozialarbeit wie Beratung zu arbeits- und sozialrechtlichen Aspekten sowie Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben und die Vorbereitung weiterführender Leistungen zur Eingliederung in den Beruf und das soziale Umfeld;
  • berufsbezogene gruppentherapeutische Angebote zur Reflexion der Arbeitssituation, zu Verhaltens- und Problemanalysen, Konflikten am Arbeitsplatz, Motivation, Stresserleben etc.;
  • Arbeitsplatztraining mit einer möglichst realitätsnahen Darstellung von arbeitsplatzrelevanten komplexen Bewegungsabläufen und Belastungen.
Für einzelne Patientinnen und Patienten mit besonderen beruflichen Problemlagen, bei denen absehbar ist, dass trotz berufsorientierter Rehabilitation und MBOR-Kernmaßnahmen eine Reintegration in den alten oder einen ähnlichen Arbeitsplatz nicht möglich ist und für die ggf. Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben erforderlich werden, sollen spezifische MBOR-Angebote in Form der MBOR-Belastungserprobungen angeboten werden. Dauer und Frequenz der Belastungserprobungen, die auch extern als Praktikum oder Hospitation in einem Betrieb realisiert werden können, sind im Einzelfall zu prüfen. Für die Identifikation beruflicher Problemlagen stehen verschiedene Screening-Instrumente zur Verfügung. Die Durchführung der unterschiedlichen MBOR-bezogenen Maßnahmen erfordert die interdisziplinäre Beteiligung einer Vielzahl von Berufsgruppen: Ergo-, Sport-, Physiotherapeuten, Ärzte, Psychologen, Sozialarbeiter, Arbeitspädagogen etc.
Zum Ende der Rehabilitation wird eine abschließende sozialmedizinische Leistungsbeurteilung erstellt und mit dem Rehabilitanden besprochen. In der Leistungsbeurteilung wird eine Einschätzung des Leistungsvermögens auch unter Berücksichtigung der krankheitsbedingten Gefährdungs- und Belastungsfaktoren im Arbeitsalltag abgegeben. Dabei muss auch besprochen werden, ob eine Wiederaufnahme der Berufstätigkeit direkt im Anschluss an die Rehabilitation erfolgen kann, eine stufenweise Wiedereingliederung erfolgen soll oder weiterführende Maßnahmen erforderlich sind. Im Hinblick auf möglicherweise nach der Rehabilitation erforderliche weitere Maßnahmen ist in Absprache mit den Betroffenen möglichst frühzeitig Kontakt zu Arbeitgeber, betriebsärztlichem Dienst, Reha-Fachberatern des Kostenträgers oder Integrationsfachdiensten aufzunehmen, um diese Maßnahmen sinnvoll planen zu können. Im MBOR-Praxishandbuch (DRV 2012) wird eine Vielzahl von MBOR-Maßnahmen als Praxisbeispiele aus verschiedenen Indikationsbereichen beschrieben, aus dem Indikationsbereich Onkologie findet sich dort bislang jedoch nur ein einziges Praxisbeispiel.

Forschungsstand

Bislang existieren im deutschsprachigen Raum kaum rehabilitationswissenschaftliche Studien, die sich explizit mit der beruflichen Reintegration nach einer Krebserkrankung befassen. Möglicherweise hängt dies damit zusammen, dass aufgrund der Altersstruktur der Patientinnen und Patienten in der onkologischen Rehabilitation berufliche Fragen nur für einen Teil der Erkrankten eine Rolle spielen. Die bisher vorliegenden Studien zeigen, dass Krebspatientinnen und -patienten im Durchschnitt 6 Wochen nach Rehabilitation in den Beruf zurückkehren und berichten Rückkehrraten von 76 %, 78 % und 87 % ein Jahr nach Rehabilitation (Böttcher et al. 2013a; Mehnert und Koch 2013; Ullrich et al. 2018). Studien, die mögliche Einflussfaktoren auf die Rückkehr zur Arbeit nach Rehabilitation untersuchen, berichten, dass unter anderem eine negative Einschätzung der Patientinnen und Patienten bezüglich ihrer beruflichen Leistungsfähigkeit und der Fähigkeit, in den bisherigen Beruf zurückzukehren die Wahrscheinlichkeit für eine erwartete verspätete Rückkehr erhöhen (Ullrich et al. 2020). Eine subjektive Einschätzung einer hohen Arbeitsfähigkeit ist dagegen ein Prädiktor für eine frühere Rückkehr zur Arbeit (Böttcher et al. 2013b).
In der internationalen Literatur finden sich einige Studien zur Wiedereingliederung in den Beruf. Auch hier wird davon ausgegangen, dass berufliche Wiedereingliederung wesentliches Ziel der Rehabilitation ist und dass ein großer Anteil der Krebspatientinnen und -patienten ins Arbeitsleben zurückkehren möchte und dazu auch in der Lage ist. Aufgrund der spezifischen Gesundheits- und Sozialsysteme lassen sich die Erkenntnisse aus internationalen Studien nur sehr begrenzt auf die Situation in Deutschland übertragen. Besonderheiten sind hier z. B. die gesetzliche Verankerung von Rehabilitationsansprüchen sowie die überwiegende Durchführung von onkologischen Rehabilitationsangeboten im stationären Setting (Hellbom et al. 2011). Insgesamt ist die Studienlage zur beruflichen Reintegration im Bereich Onkologie in Deutschland noch sehr begrenzt. International betrachtet fehlt es darüber hinaus an prospektiven Studien, die längerfristige Katamnesezeiträume berücksichtigen und auch Prozesse der beruflichen Reintegration nach der eigentlichen Rückkehr zur Arbeit analysieren. Hierauf weisen Beiträge zur beruflichen Reintegration hin, die über die Rückkehr zur Arbeit hinaus auch Aspekte wie den Verbleib im Arbeitsleben, Arbeitszufriedenheit und Produktivität als wichtige und erst längerfristig erkennbare Erfolgsindikatoren nennen (Feuerstein et al. 2010).

Zusammenfassung

  • Rückkehr zur Arbeit ist für Patientinnen und Patienten im erwerbsfähigen Alter ein zentraler Aspekt von Partizipation und Teilhabe.
  • Berufsorientierte Angebote sind für diese Patientinnen und Patienten essenzieller Bestandteil der Rehabilitationsmaßnahmen.
  • Das MBOR-Programm der DRV setzt diagnostische und therapeutische Standards im Rahmen eines gestuften Angebotes.
  • Die Evidenz zu berufsorientierten Rehabilitationskonzepten ist in der Onkologie bislang gering.
Literatur
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