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Die Urologie
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Publiziert am: 30.01.2022

Ursachen der männlichen Infertilität

Verfasst von: Matthias Trottmann und Wolfgang Weidner
Ursachen der männlichen Infertilität können nach Lokalisation und Art der Störung eingeteilt werden. Hierbei variiert die klinische Ausprägung der Erkrankungen stark und beruht auf verschiedenen ätiologischen Faktoren. Die Häufigkeit der einzelnen Erkrankungen wechselt auch in Abhängigkeit von der andrologischen Ausrichtung des untersuchenden Zentrums. Idiopathische Fertilitätsstörungen stehen jedoch überall im Vordergrund.

Ätiologische Faktoren und Häufigkeit unterschiedlicher Diagnosen

Entscheidend für die Betrachtung der männlichen Infertilität ist, dass diese bei ca. 50 % aller Paare mit unerfülltem Kinderwunsch von reproduktionsmedizinischer Relevanz ist. Bei 26 % liegt gleichzeitig eine weibliche Störung vor (Nieschlag 2009; Schuppe et al. 2013).
Ursachen der männlichen Infertilität werden nach Lokalisation und Art der Störung eingeteilt. Die klinische Ausprägung variiert hierbei stark und beruht auf unterschiedlichen ätiologischen Faktoren. Eine multifaktorielle Genese der Infertilität beim Mann ist häufig.
Als Lokalisation kann zwischen prä-, intra- und posttestikulären Störungen differenziert werden. Hinzu kommen sexuelle Störungen mit Beeinträchtigung der Libido, Erektion, Emission und Ejakulation. Es gibt jeweils eine Vielzahl von unterschiedlichen Ursachen, wie etwa genetische, endokrine/metabolische, postentzündliche und iatrogene.
In Tab. 1 wird nach Störungsart differenziert und hierzu jeweils typische klinische Beispiele gegeben.
Tab. 1
Ätiologische Faktoren bei männlichen Fertilitätsstörungen (mod. nach Tüttelmann und Nieschlag 2009 und Schuppe et al. 2013)
Lokalisation
Art der Störung
Beispiele für Krankheitsbilder
Prätestikulär
genetisch
kongenitaler hypogonadotroper Hypogonadismus (Kallmann-Syndrom)
endokrin
isolierter hypogonadotroper Hypogonadismus (IHH)
Hyperprolaktinämie (wg. Adenom, Medikament, Drogen)
Hypopituitarismus (wg. Tumor, posttraumatisch, Z. n. Ischämie, Z. n. Strahlentherapie/Operation)
isolierter LH-Magel (Pasqualini-Syndrom)
Intratestikulär
genetisch und epigenetisch
Y-chromosomale Deletion (wie z. B. AZFc-Mikrodeletion)
XX-Mann
Kartagener-Syndrom oder primär ciliäre Dyskinesie (PCD)
minimale (MAIS) oder partielle Androgenresistenz (Reifenstein-Syndrom)
Globozoospermie (Fehlende Akrosomenbildung)
Umweltfaktoren
endokrin/metabolisch
Primärer Hypogonadismus unklarer Ursache
Altershypogonadismus
Diabetes mellitus
kongenital
Maldeszensus testis
entzündlich/postentzündlich
Orchitis/Epididymoorchitis (u. a. Mumpsinfektion)
Spermatogenese schädigende exogene Noxen
Umweltfaktoren und Genussgifte (wie z. B. Tabakkonsum)
Pharmaka/Zytostatika
physikalische Faktoren (wie Hitze, ionisierende Strahlung und ggf. elektromagnetische Felder?)
vaskulär
Torsion
onkologisch
Maligner Keimzelltumor (Seminom/Nichtseminom)
Stromatumor (wie z. B. Leydigzell-Tumor)
systemische Erkrankung
Tumor (z. B. Leukämie), Leber- und Nierenerkrankungen
Posttestikulär
genetisch
kongenitale bilaterale Aplasie des Vas deferens (CBAVD)
Young-Syndrom
obstruktiv
Utrikuluszyste
iatrogen Verletzung der ableitenden Samenwege
Z. n. Vasektomie, Z. n. Spermatozelenresektion, Z. n. Herniotomie, Z. n. TUR-P, Z. n. Prostatektomie
entzündlich/postentzündlich
Male accessory gland infection (MAGI)
immunologisch
Spermienautoantikörper
Liquefizierungsstörung
Funktionsstörungen der Prostata und der Samenbläschen
Sexuelle Störung und Störung der Samendeposition
Libidostörung
psychosexuelle, pharmakoinduzierte Störungen
psychosexuelle, neurogene, vaskuläre, pharmakoinduzierte, posttraumatische oder postoperative Störungen
Emissions- und Ejakulationsstörung (u. a. Ejacualtio praecox und retrograde Ejakulation)
Penisdeformation
skrotale Hypospadie
Es ist schwierig eine genaue Aussage bzgl. der Häufigkeit der einzelnen Störungen beim infertilen Mann zu geben. Dies liegt zum einen an der Tatsache, dass nicht bei jedem Paar eine umfangreiche andrologische Diagnostik erfolgt. Weiter kann die Häufigkeit in Abhängigkeit von der andrologischen Ausrichtung des untersuchenden Zentrums stark variieren. Zusätzlich sind in den letzten Jahren aufgrund der weiterentwickelten Untersuchungsmöglichkeiten weitere Ursachen beschrieben worden.
Insbesondere der zunehmende Kenntnisgewinn von genetischen Ursachen einer andrologischen Infertilität ist hierbei zu berücksichtigen (Salonia et al. 2018). Es besteht Übereinstimmung, dass die Häufigkeit chromosomaler Auffälligkeiten mit der abnehmenden Zahl von Spermatozoen ansteigt. Das Klinefelter-Syndrom ist die häufigste sex-chromosomale Abnormalität. Y-Deletionen sind bei nichtobstruktiver Azoospermie (NOA) vor einer operativen Spermiengewinnung zu identifizieren, CF-Mutationen (zystische Fibrose) bei Agenesie der Samenleiter.
Eine wichtige Bedeutung kommt dem Bereich der Epigenetik zu, die endokrinen Funktionen beeinflusst und Genetik und Umwelt miteinander verbindet. Dies könnte u. a. eine Erklärung dafür sein, warum sich in den letzten Jahrzehnten die reproduktive Gesundheit von Männern, die sowohl für die Umweltexposition als auch für den Stoffwechsel sehr empfindlich ist, verschlechtert hat (Cescon et al. 2020).
Eine idiopathische Infertilität stellt eine Ausschlussdiagnose dar. Sie wird im Vergleich zu früheren Statistiken heute etwas weniger diagnostiziert, steht aber weiterhin mit ca. 30–40 % an erster Stelle der männlichen Zeugungsunfähigkeit.
Eine Übersicht über die Häufigkeit einzelner Ursachen in unterschiedlichen andrologischen Ambulanzen gibt Tab. 2.
Tab. 2
Häufigkeit unterschiedlicher Diagnosen bei männlicher Infertilität (Vergleich zweier ambulanter andrologischer Zentren)
Diagnose
Häufigkeit in andrologischen Ambulanzen
Allgemeine Häufigkeit (Salonia et al. 2018)
Tüttelmann und Nieschlag 2009
Sigman et al. 2009 (n = 4710)
Alle Pat. (n = 12.945)
Hiervon Pat. mit Azoospermie (n = 1446; 11,2%)
Bekannt
42,6 %
   
Idiopathisch
30 %
13,3 %
32,6 %
 
Maldesdeszensus testis
8,4 %
17,2 %
2,7 %
3–6 % der reifen männlichen Neugeborenen und etwa 30 % der Frühgeborenen
Varikozele testis
14,8 %
10,9 %
26,6 %
14–20 %
Spermienautoantikörper
3,9 %
-
-
9–12 % bei infertilen Männern (Bozhedomov et al. 2015)
Testikulärer Tumor
1,2 %
2,8 %
0,4 %
1,6% aller Krebserkrankungen (2018: 4160 maligne Tumore (ICD-10 C62) (RKI 2021)
endokrin
  
1,5 %
 
 
Hypogonadismus
10,1 %
1,4 %
 
Biochemischer Hypogonadismus bei 2,1–12,8 % (Männer mittleren Alters); Inzidenz niedriger Testosteronspiegel und symptomatischer Hypogonadismus bei Männern 40 bis 79 Jahre 2,1 und 5,7 %
Prim. Hypogonadismus unklarer Ursache
2,3 %
0,8 %
  
Sekundärer Hypogonadismus
1,6 %
1,9 %
  
Kallmann-Syndrom
0,3 %
0,5 %
 
1:8000 bis 1:10.000
genetisch
  
1,2 %
 
 
CBAVD
0,5 %
3,0 %
 
Ca. 4 % Träger einer CFTR-Mutation. CBAVD bei ca. 2 % der Männer mit obstruktiver Azoospermie beschrieben
Klinefelter-Syndrom
2,6 %
13,7 %
 
1:500 bis 1:1000
 
Y-chromosomale Deletion
0,3 %
1,6 %
 
8–12 % Y-Deletionen bei azoospermen Männern, bei Oligozoospermie 3–7 %. Bei Spermienkonzentration > 5 Millionen/ml bei <0,7 %.
Translokation
0,1 %
0,3 %
 
Reziproke Translokation bei ca. 1:700 der Neugeborenen; Robertsonsche Translokation bei ca. 1:1000 der Neugeborenen.
XX-Mann
0,1 %
0,6 %
 
1:10.000 bis 1:20.000
andere
<0,1 %
0,3 %
  
Infektion
9,3 %
10,5 %
0,2 %
 
Pyospermie
  
0,5 %
 
Obstruktion
2,2 %
10,3 %
15,3 %
 
Vasektomie
0,9 %
5,3 %
  
Ejakulationsstörung
2,4 %
-
2,0 %
 
sexuelle Dysfunktion
  
0,7 %
 
Unauffällige weibliche Fertilität
  
10,7 %
 
iatrogen (medikamentös/postradiogen)
  
1,4 %
 
testikuläre Störung
  
1,1 %
 
systemische Erkrankung
  
0,3 %
 
Torsion
  
0,1 %
1:4000/Jahr (Männer <25 Jahre)
Weidner et al. (2010) analysierten die Diagnosen von 1834 Männern mit Fertilitätsproblemen, die sich im Gießener EAA-Zentrum (Zentrum der European Academy of Andrology) mit Fertilitätsproblemen vorstellten. Hierbei war das idiopathische OAT-Syndrom (Oligo-Astheno-Teratozoospermie-Syndrom) mit 34,6 % der häufigste Vorstellungsgrund. Die Diagnose basierte immer auf zwei Ejakulatuntersuchungen. In allen Fällen, in denen bei 2-facher Untersuchung im Ejakulat auffällige Werte für die Samenzellzahl, die Motilität und Morphologie der Samenzellen unterhalb der von der WHO (2010) festgelegten Grenzwerte vorlagen, wurde eine umfassende andrologische Untersuchung durchgeführt. Auffällig war in diesem Patientenkollektiv eine hohe Rate von 24,5 % mit testikulären Störungen (Hodentumor, Kryptorchismus, Klinefelter-Syndrom, nicht-obstruktive Azoospermie, Varikozele testis).

Zusammenfassung

Literatur
Bozhedomov VA, Nikolaeva MA, Ushakova IV, Lipatova NA, Bozhedomova GE, Sukhikh GT (2015) Functional deficit of sperm and fertility impairment in men with antisperm antibodies. J Reprod Immunol 112:95–101CrossRef
Cescon M, Chianese R, Tavares RS (2020) Environmental impact on male (in)fertility via epigenetic route. J Clin Med 9(8):E2520. https://​doi.​org/​10.​3390/​jcm9082520CrossRefPubMed
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Salonia A, Bettocchi C, Carvalho J, Corona G, Jones TH, Kadioglu A, Martinez-Salamanca I, Minhas S, Serefoǧlu EC, Verze P, Guidelines Associates, Boeri L, Capogrosso P, Çilesiz NC, Cocci A, Dimitropoulos K, Gül M, Hatzichristodoulou G, Modgil V, Milenkovic U, Russo G, Tharakan T, EAU Working Group on Sexual and Reproductive Health (2018) EAU-guidelines on male infertility: update 2018. EAU Guideline Office, Arnhem
Schuppe HC, Köhn FM, Weidner W (2013) Andrologie in der interdisziplinären Reproduktionsmedizin. In: Diedrich K, Ludwig M, Griesinger G (Hrsg) Reproduktionsmedizin. Springer, Berlin, S 447–482CrossRef
Sigman M, Lipshultz LI, Howards SS (2009) Office evaluation of subfertile male. In: Lipshultz LI, Howards SS, Niederberegr CS (Hrsg) Infertility in the male. Cambridge University Press, New York, S 153–176CrossRef
Tüttelmann F, Nieschlag E (2009) Nosologie andrologischer Krankheitsbilder. In: Nieschlag E, Behre HM, Nieschlag S (Hrsg) Andrologie. Springer, Berlin, S 90–96
Weidner W, Diemer T, Wagenlehner FME (2010) Male infertility in chronic urogenital infections and inflammation with special reference to ejaculate findings. In: Björndahl L, Giwercman A, Tournaye H, Weidner W (Hrsg) Clinical andrology. Informa Healthcare, New York/London, S 293–300
WHO, World Health Organization (2010) WHO laboratory manual for the examination and processing of human semen, 5. Aufl. Schweiz, Genf